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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Glsaß-Töthringen und die paßverordnnng.

nach Frankreich gehen, sich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß sie
fortan Heimat und Familie nur unter erschwerenden Umständen wiedersehen.
Sollte in Folge dessen der Paßzwang die Wirkung haben, daß diese jungen
Leute mehr als bisher ihr Fortkommen auf der deutschen Seite der Vogesen
suchen, um so besser. In der französischen Presse hat es, namentlich in den
ersten Monaten" an den üblichen Schauermärchen nicht gefehlt. In der Regel
handelte es sich um Söhne oder Töchter, die durch die deutsche Brutalität ver¬
hindert wurden, zu ihrer sterbenden Mutter zu gelangen. Ging man der Sache
auf den Grund, so hatte entweder keine Behinderung stattgefunden, oder weder
das Kind noch die sterbende Mutter hatte existirt. So z. B. die Geschichte
von jenem 19 jährigen Dienstmädchen, das nach Hagenau an das Sterbebett
der Mutter will, in Avricourt nicht durchgelassen wird, weil es keinen Paß
hat, vergeblich einen Fußfall vor dem unerbittlichen Gendarmen thut, dann ein
hochvathctischcs Telegramm Nach Potsdam an die junge Kaiserin sendet, darauf¬
hin zwei Stunden später die Erlaubnis erhält und -- natürlich zu spät nach
Hagenau kommt. Wie rührend! Thatsächlich hat es freilich weder ein Dienst¬
mädchen, noch ein Telegramm der Kaiserin, noch eine sterbende Mutter in Hagenau
gegeben.

Daß da, wo keine Anstünde oder Verdachtsgrüude vorliegen, die Botschaft
in Paris einen Paß bewilligt, ist selbstverständlich. Allerdings werden die für
sie dabei maßgebenden Gesichtspunkte uicht immer die der Paßbcwerber sein.
Daß französischen Offizieren der Eintritt womöglich grundsätzlich versagt bleibt,
kann nach den gemachten Erfahrungen nicht weiter auffallen, ebenso ist es z. B.
für unnötig erachtet worden, einer 42 Köpfe starken französischen Theatertruppe,
die unter ihrem Direktor Boulanger von Nancy aus die patriotische Trauer der
Metzer mit ihrem Gastspiel aufheitern sollte, den Eintritt zu verstatten. Es soll
eben mit der französischen Schauspielerei in Elsaß-Lothringen zu Ende sein. Noch
auf lange Zeit hinaus werden für die Verwaltung des Reichslandes die Gesichts¬
punkte der auswärtigen Politik maßgebend bleiben müssen. Das hat sogar der
verstorbene Abgeordnete Laster anerkannt. So lange es dem Botschafter des
Kaisers in Paris möglich war, zu den dortigen Kreisen gute und freundliche
Beziehungen zu Pflegen, konnte der Statthalter des Kaisers in Straßburg viel¬
leicht eine gewisse Nachsicht, eine mildere Praxis in der Handhabung bestehender
Vorschriften walten lassen. Mit dem Aufhören der ersteren Muß natürlich auch
die letztere ein Ende nehmen. Elsaß-Lothringen liegt dem Brennpunkte der
französischen Interessen zu nahe. Alle Bewegungen, die sich in Frankreich voll¬
ziehen, werden im Reichslande aus alter Gewohnheit und in Folge des noch
tausendfältigen Zusammenhanges durch alte und neue politische, geschäftliche und
Familienbeziehuugen lebendig mit empfunden. Das Interesse der gebildeteren
Klasse an den Vorgängen in Frankreich und Paris ist ungleich lebhafter als
an denen, die sich in Deutschland und Berlin vollziehen; die Deputirtenkammer


Glsaß-Töthringen und die paßverordnnng.

nach Frankreich gehen, sich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß sie
fortan Heimat und Familie nur unter erschwerenden Umständen wiedersehen.
Sollte in Folge dessen der Paßzwang die Wirkung haben, daß diese jungen
Leute mehr als bisher ihr Fortkommen auf der deutschen Seite der Vogesen
suchen, um so besser. In der französischen Presse hat es, namentlich in den
ersten Monaten» an den üblichen Schauermärchen nicht gefehlt. In der Regel
handelte es sich um Söhne oder Töchter, die durch die deutsche Brutalität ver¬
hindert wurden, zu ihrer sterbenden Mutter zu gelangen. Ging man der Sache
auf den Grund, so hatte entweder keine Behinderung stattgefunden, oder weder
das Kind noch die sterbende Mutter hatte existirt. So z. B. die Geschichte
von jenem 19 jährigen Dienstmädchen, das nach Hagenau an das Sterbebett
der Mutter will, in Avricourt nicht durchgelassen wird, weil es keinen Paß
hat, vergeblich einen Fußfall vor dem unerbittlichen Gendarmen thut, dann ein
hochvathctischcs Telegramm Nach Potsdam an die junge Kaiserin sendet, darauf¬
hin zwei Stunden später die Erlaubnis erhält und — natürlich zu spät nach
Hagenau kommt. Wie rührend! Thatsächlich hat es freilich weder ein Dienst¬
mädchen, noch ein Telegramm der Kaiserin, noch eine sterbende Mutter in Hagenau
gegeben.

Daß da, wo keine Anstünde oder Verdachtsgrüude vorliegen, die Botschaft
in Paris einen Paß bewilligt, ist selbstverständlich. Allerdings werden die für
sie dabei maßgebenden Gesichtspunkte uicht immer die der Paßbcwerber sein.
Daß französischen Offizieren der Eintritt womöglich grundsätzlich versagt bleibt,
kann nach den gemachten Erfahrungen nicht weiter auffallen, ebenso ist es z. B.
für unnötig erachtet worden, einer 42 Köpfe starken französischen Theatertruppe,
die unter ihrem Direktor Boulanger von Nancy aus die patriotische Trauer der
Metzer mit ihrem Gastspiel aufheitern sollte, den Eintritt zu verstatten. Es soll
eben mit der französischen Schauspielerei in Elsaß-Lothringen zu Ende sein. Noch
auf lange Zeit hinaus werden für die Verwaltung des Reichslandes die Gesichts¬
punkte der auswärtigen Politik maßgebend bleiben müssen. Das hat sogar der
verstorbene Abgeordnete Laster anerkannt. So lange es dem Botschafter des
Kaisers in Paris möglich war, zu den dortigen Kreisen gute und freundliche
Beziehungen zu Pflegen, konnte der Statthalter des Kaisers in Straßburg viel¬
leicht eine gewisse Nachsicht, eine mildere Praxis in der Handhabung bestehender
Vorschriften walten lassen. Mit dem Aufhören der ersteren Muß natürlich auch
die letztere ein Ende nehmen. Elsaß-Lothringen liegt dem Brennpunkte der
französischen Interessen zu nahe. Alle Bewegungen, die sich in Frankreich voll¬
ziehen, werden im Reichslande aus alter Gewohnheit und in Folge des noch
tausendfältigen Zusammenhanges durch alte und neue politische, geschäftliche und
Familienbeziehuugen lebendig mit empfunden. Das Interesse der gebildeteren
Klasse an den Vorgängen in Frankreich und Paris ist ungleich lebhafter als
an denen, die sich in Deutschland und Berlin vollziehen; die Deputirtenkammer


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[0299] Glsaß-Töthringen und die paßverordnnng. nach Frankreich gehen, sich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß sie fortan Heimat und Familie nur unter erschwerenden Umständen wiedersehen. Sollte in Folge dessen der Paßzwang die Wirkung haben, daß diese jungen Leute mehr als bisher ihr Fortkommen auf der deutschen Seite der Vogesen suchen, um so besser. In der französischen Presse hat es, namentlich in den ersten Monaten» an den üblichen Schauermärchen nicht gefehlt. In der Regel handelte es sich um Söhne oder Töchter, die durch die deutsche Brutalität ver¬ hindert wurden, zu ihrer sterbenden Mutter zu gelangen. Ging man der Sache auf den Grund, so hatte entweder keine Behinderung stattgefunden, oder weder das Kind noch die sterbende Mutter hatte existirt. So z. B. die Geschichte von jenem 19 jährigen Dienstmädchen, das nach Hagenau an das Sterbebett der Mutter will, in Avricourt nicht durchgelassen wird, weil es keinen Paß hat, vergeblich einen Fußfall vor dem unerbittlichen Gendarmen thut, dann ein hochvathctischcs Telegramm Nach Potsdam an die junge Kaiserin sendet, darauf¬ hin zwei Stunden später die Erlaubnis erhält und — natürlich zu spät nach Hagenau kommt. Wie rührend! Thatsächlich hat es freilich weder ein Dienst¬ mädchen, noch ein Telegramm der Kaiserin, noch eine sterbende Mutter in Hagenau gegeben. Daß da, wo keine Anstünde oder Verdachtsgrüude vorliegen, die Botschaft in Paris einen Paß bewilligt, ist selbstverständlich. Allerdings werden die für sie dabei maßgebenden Gesichtspunkte uicht immer die der Paßbcwerber sein. Daß französischen Offizieren der Eintritt womöglich grundsätzlich versagt bleibt, kann nach den gemachten Erfahrungen nicht weiter auffallen, ebenso ist es z. B. für unnötig erachtet worden, einer 42 Köpfe starken französischen Theatertruppe, die unter ihrem Direktor Boulanger von Nancy aus die patriotische Trauer der Metzer mit ihrem Gastspiel aufheitern sollte, den Eintritt zu verstatten. Es soll eben mit der französischen Schauspielerei in Elsaß-Lothringen zu Ende sein. Noch auf lange Zeit hinaus werden für die Verwaltung des Reichslandes die Gesichts¬ punkte der auswärtigen Politik maßgebend bleiben müssen. Das hat sogar der verstorbene Abgeordnete Laster anerkannt. So lange es dem Botschafter des Kaisers in Paris möglich war, zu den dortigen Kreisen gute und freundliche Beziehungen zu Pflegen, konnte der Statthalter des Kaisers in Straßburg viel¬ leicht eine gewisse Nachsicht, eine mildere Praxis in der Handhabung bestehender Vorschriften walten lassen. Mit dem Aufhören der ersteren Muß natürlich auch die letztere ein Ende nehmen. Elsaß-Lothringen liegt dem Brennpunkte der französischen Interessen zu nahe. Alle Bewegungen, die sich in Frankreich voll¬ ziehen, werden im Reichslande aus alter Gewohnheit und in Folge des noch tausendfältigen Zusammenhanges durch alte und neue politische, geschäftliche und Familienbeziehuugen lebendig mit empfunden. Das Interesse der gebildeteren Klasse an den Vorgängen in Frankreich und Paris ist ungleich lebhafter als an denen, die sich in Deutschland und Berlin vollziehen; die Deputirtenkammer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/299>, abgerufen am 24.08.2024.