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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Neuere schwäbische Malektdichtung.

hören, wie etwa die: was in ihm zu Worte komme, sei derb und ungeschlacht;
ja es vermöge überhaupt keine feinern Töne anzuschlagen. Ein flüchtiger Blick
auf die schwäbische Dialektlitteratur gestattet auch dieser Behauptung leider nur
allzuviel Berechtigung, so daß man wahrlich versucht sein könnte, zu fragen, ob
denn volksmäßig und roh ein und dasselbe sei. Die meisten Autoren suchen
das Charakteristische des Schwäbischen in seinem Ungeschliffenen und Unfeinen;
ähnlich wie der sogenannte moderne "Realismus" voll Selbstverkennung alle
Wahrheit nur im schmutzigen und Gemeinen nicht allein sucht, was noch als
Irrtum zu entschuldigen wäre, sondern wirklich zu finden glaubt. Zum Glück
haben wir jedoch auch Dichter, die edlerer Natur sind, die Kern geben statt
bloßer Schale und keine Mühe scheuen, das Volk auch in seinem verborgensten
Gemüts- und Seelenleben zu belauschen und zu verstehen. Ein solcher ist zu¬
nächst, um einen Seitenblick auf verwandte Dialekte zu thun, Karl Stieler.
Seine Bauern sind sehr oft derb genug und verleugnen nirgends ihre gesunde
Natürlichkeit, sind aber nie taktlos und halten stets auf Sauberkeit. Sie des¬
halb "Salonbauern" nennen zu wollen, wäre durchaus ungerechtfertigt. Und
doch ist dies ein Vorwurf, der allen Autoren gemacht wird, die als echte Dichter
durch ihre Kunst sich selbst und ihr Volk zu heben trachten. Auch I. P. Hebel
mußte sich seinerzeit sagen lassen, seine allemannischen Gedichte seien schön und
gut und herzgewinnend, aber -- nur nicht wirklichen Volkscharakters! Man
begriff nicht, wie Hebel so vornehm thun könne, und bestritt seinen Schwarz¬
wäldern, seinem Hans, seiner Vrene, seinem Friedli und andern geradezu das
Recht, Schwarzwälder Landleute zu sein. Man meinte, was da ein Bauer
sei, das zeige sich nie so frisch geputzt und in so schneeweißen Hemdärmeln, das
habe vielmehr Tag für Tag im Schmutze herumzulaufen, ungewaschen und un¬
gekämmt, und dem entsprechend auch in der Poesie. Mit einer solchen Vor¬
stellung verglichen, ließ sich gegen Hebels Gestalten allerdings mancherlei ein¬
wenden. Jetzt ist ihm glücklicherweise die verdiente Anerkennung geworden, und
mit Recht eben deshalb. Seine Gedichte haben, wie in andre Dialekte, auch
ins Schwäbische eine Übertragung gefunden: "Der Hebel in Ulm. Hebels
lyrische Gedichte aus dem Allemannischen in die Ulmer Mundart übertragen"
von T. Hafner (Ulm, Gebr. Nübling, 1880). Etwas gewaltthätig bleibt ein
derartiges Beginnen immer, doch verdient es trotzdem weitere Beachtung, schon
als nicht zu widerlegender Beweis dafür, daß Hebels höhere Auffassung auch
im Schwäbischen sehr wohl möglich ist und seine Charaktere hier eine ebenso
thatsächliche Wirklichkeit haben.

Vor ungefähr drei Jahren erschien, im Verlage von I. Ebner in Ulm,
eine "Sammlung schwäbischer Dialektdichtungen von den Anfängen bis zur
Gegenwart" herausgegeben von Gustav Seuffer und Richard Weitbrecht, unter
dem Titel: "'s Schwobaland in Lied und Wort" (XXXI und 674 S. o. I.). Sie
umfaßt eine Reihe von 53 schwäbischen Dialektdichtcru von G. N. Weckherlin


Neuere schwäbische Malektdichtung.

hören, wie etwa die: was in ihm zu Worte komme, sei derb und ungeschlacht;
ja es vermöge überhaupt keine feinern Töne anzuschlagen. Ein flüchtiger Blick
auf die schwäbische Dialektlitteratur gestattet auch dieser Behauptung leider nur
allzuviel Berechtigung, so daß man wahrlich versucht sein könnte, zu fragen, ob
denn volksmäßig und roh ein und dasselbe sei. Die meisten Autoren suchen
das Charakteristische des Schwäbischen in seinem Ungeschliffenen und Unfeinen;
ähnlich wie der sogenannte moderne „Realismus" voll Selbstverkennung alle
Wahrheit nur im schmutzigen und Gemeinen nicht allein sucht, was noch als
Irrtum zu entschuldigen wäre, sondern wirklich zu finden glaubt. Zum Glück
haben wir jedoch auch Dichter, die edlerer Natur sind, die Kern geben statt
bloßer Schale und keine Mühe scheuen, das Volk auch in seinem verborgensten
Gemüts- und Seelenleben zu belauschen und zu verstehen. Ein solcher ist zu¬
nächst, um einen Seitenblick auf verwandte Dialekte zu thun, Karl Stieler.
Seine Bauern sind sehr oft derb genug und verleugnen nirgends ihre gesunde
Natürlichkeit, sind aber nie taktlos und halten stets auf Sauberkeit. Sie des¬
halb „Salonbauern" nennen zu wollen, wäre durchaus ungerechtfertigt. Und
doch ist dies ein Vorwurf, der allen Autoren gemacht wird, die als echte Dichter
durch ihre Kunst sich selbst und ihr Volk zu heben trachten. Auch I. P. Hebel
mußte sich seinerzeit sagen lassen, seine allemannischen Gedichte seien schön und
gut und herzgewinnend, aber — nur nicht wirklichen Volkscharakters! Man
begriff nicht, wie Hebel so vornehm thun könne, und bestritt seinen Schwarz¬
wäldern, seinem Hans, seiner Vrene, seinem Friedli und andern geradezu das
Recht, Schwarzwälder Landleute zu sein. Man meinte, was da ein Bauer
sei, das zeige sich nie so frisch geputzt und in so schneeweißen Hemdärmeln, das
habe vielmehr Tag für Tag im Schmutze herumzulaufen, ungewaschen und un¬
gekämmt, und dem entsprechend auch in der Poesie. Mit einer solchen Vor¬
stellung verglichen, ließ sich gegen Hebels Gestalten allerdings mancherlei ein¬
wenden. Jetzt ist ihm glücklicherweise die verdiente Anerkennung geworden, und
mit Recht eben deshalb. Seine Gedichte haben, wie in andre Dialekte, auch
ins Schwäbische eine Übertragung gefunden: „Der Hebel in Ulm. Hebels
lyrische Gedichte aus dem Allemannischen in die Ulmer Mundart übertragen"
von T. Hafner (Ulm, Gebr. Nübling, 1880). Etwas gewaltthätig bleibt ein
derartiges Beginnen immer, doch verdient es trotzdem weitere Beachtung, schon
als nicht zu widerlegender Beweis dafür, daß Hebels höhere Auffassung auch
im Schwäbischen sehr wohl möglich ist und seine Charaktere hier eine ebenso
thatsächliche Wirklichkeit haben.

Vor ungefähr drei Jahren erschien, im Verlage von I. Ebner in Ulm,
eine „Sammlung schwäbischer Dialektdichtungen von den Anfängen bis zur
Gegenwart" herausgegeben von Gustav Seuffer und Richard Weitbrecht, unter
dem Titel: „'s Schwobaland in Lied und Wort" (XXXI und 674 S. o. I.). Sie
umfaßt eine Reihe von 53 schwäbischen Dialektdichtcru von G. N. Weckherlin


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[0288] Neuere schwäbische Malektdichtung. hören, wie etwa die: was in ihm zu Worte komme, sei derb und ungeschlacht; ja es vermöge überhaupt keine feinern Töne anzuschlagen. Ein flüchtiger Blick auf die schwäbische Dialektlitteratur gestattet auch dieser Behauptung leider nur allzuviel Berechtigung, so daß man wahrlich versucht sein könnte, zu fragen, ob denn volksmäßig und roh ein und dasselbe sei. Die meisten Autoren suchen das Charakteristische des Schwäbischen in seinem Ungeschliffenen und Unfeinen; ähnlich wie der sogenannte moderne „Realismus" voll Selbstverkennung alle Wahrheit nur im schmutzigen und Gemeinen nicht allein sucht, was noch als Irrtum zu entschuldigen wäre, sondern wirklich zu finden glaubt. Zum Glück haben wir jedoch auch Dichter, die edlerer Natur sind, die Kern geben statt bloßer Schale und keine Mühe scheuen, das Volk auch in seinem verborgensten Gemüts- und Seelenleben zu belauschen und zu verstehen. Ein solcher ist zu¬ nächst, um einen Seitenblick auf verwandte Dialekte zu thun, Karl Stieler. Seine Bauern sind sehr oft derb genug und verleugnen nirgends ihre gesunde Natürlichkeit, sind aber nie taktlos und halten stets auf Sauberkeit. Sie des¬ halb „Salonbauern" nennen zu wollen, wäre durchaus ungerechtfertigt. Und doch ist dies ein Vorwurf, der allen Autoren gemacht wird, die als echte Dichter durch ihre Kunst sich selbst und ihr Volk zu heben trachten. Auch I. P. Hebel mußte sich seinerzeit sagen lassen, seine allemannischen Gedichte seien schön und gut und herzgewinnend, aber — nur nicht wirklichen Volkscharakters! Man begriff nicht, wie Hebel so vornehm thun könne, und bestritt seinen Schwarz¬ wäldern, seinem Hans, seiner Vrene, seinem Friedli und andern geradezu das Recht, Schwarzwälder Landleute zu sein. Man meinte, was da ein Bauer sei, das zeige sich nie so frisch geputzt und in so schneeweißen Hemdärmeln, das habe vielmehr Tag für Tag im Schmutze herumzulaufen, ungewaschen und un¬ gekämmt, und dem entsprechend auch in der Poesie. Mit einer solchen Vor¬ stellung verglichen, ließ sich gegen Hebels Gestalten allerdings mancherlei ein¬ wenden. Jetzt ist ihm glücklicherweise die verdiente Anerkennung geworden, und mit Recht eben deshalb. Seine Gedichte haben, wie in andre Dialekte, auch ins Schwäbische eine Übertragung gefunden: „Der Hebel in Ulm. Hebels lyrische Gedichte aus dem Allemannischen in die Ulmer Mundart übertragen" von T. Hafner (Ulm, Gebr. Nübling, 1880). Etwas gewaltthätig bleibt ein derartiges Beginnen immer, doch verdient es trotzdem weitere Beachtung, schon als nicht zu widerlegender Beweis dafür, daß Hebels höhere Auffassung auch im Schwäbischen sehr wohl möglich ist und seine Charaktere hier eine ebenso thatsächliche Wirklichkeit haben. Vor ungefähr drei Jahren erschien, im Verlage von I. Ebner in Ulm, eine „Sammlung schwäbischer Dialektdichtungen von den Anfängen bis zur Gegenwart" herausgegeben von Gustav Seuffer und Richard Weitbrecht, unter dem Titel: „'s Schwobaland in Lied und Wort" (XXXI und 674 S. o. I.). Sie umfaßt eine Reihe von 53 schwäbischen Dialektdichtcru von G. N. Weckherlin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/288>, abgerufen am 30.06.2024.