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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Dreißig Jahre in Paris.

geträumt hatte und dem, was sich nun samt seinen sichtlichen Mängeln, seinen
unerträglichen Lücken vor Augen stellte, zu stark!" Wir führen diese Stelle
wörtlich an, weil sie nicht nur die normale Empfindung eines jungen, Poetisch
angehauchten Dramatikers angesichts der Verwirklichung seiner Stücke wieder^
giebt, sondern weil sie uns zugleich bedeutsam scheint für die in allen Littera¬
turen der Gegenwart zu beobachtende Bühnenflucht. Die Nervosität unsrer
Schriftsteller erträgt die Verluste nicht mehr, die auf dem Wege vom Schreib¬
tisch bis vor die Lampen unvermeidlich sind, sie schrickt vor der Verflachung
und Verrohung zurück, welche (Ausnahmefälle abgerechnet) die "reale Bühne"
mit sich bringt. Daudets Geständnis erweist, daß selbst die Franzosen, die sich
doch rühmen dürfen, daß auf ihren Brettern sorgfältiger probirt und besser
gelernt wird als auf den unsern, von dieser Krankheit der Lampenscheu nicht
mehr frei sind.

Interessant und nicht ohne Bedeutung sind die Mitteilungen Daudets
über die Jugend Henri Rocheforts und seinen persönlichen Verkehr mit diesem
Propheten der Kommune und der Revanche. Nochefort taucht nach diesen Mit¬
teilungen in einer legitimistisch angehauchten Familie auf, und in der That,
wenn wir uns auf seine ersten Schmähschriften gegen das zweite Kaiserreich
besinnen, so muß man zugeben, daß die eine kleinere Hälfte seiner vergifteten
Pfeile aus Chateaubriands Schriften und nur die andere größere aus Marats
"Volksfreund," Heberts "?ore vuolissris" und ähnlichen Blut- und Kotzeitschriften
des Jahres 1793 entlehnt war. Daudet berichtet, daß seine letzte Begegnung
mit Nochefort im kriegerischen Getümmel der Pariser Belagerung und der letzten
verunglückten Ausfälle nach der Seite des Mont Valerien stattgefunden habe, und
entzieht sich damit der Notwendigkeit, über die politische und litterarische Thä¬
tigkeit des Agitators seit 1871 zu urteilen. Je farbiger er aber die friedlichen
wohlgeordneten Familienverhältnisse ausmalt, aus denen Henri Nochefort her¬
vorgegangen ist, je entschiedener er betont, daß alle Eindrücke seiner Ju¬
gend der wilden und komödiantenhaften Rolle widerstrebten, in der Nochefort
nachmals berühmt geworden ist, um so unwiderstehlicher drängt sich dem
Nichtfranzosen das Gefühl einer ungeheuern Zerfahrenheit dieser ganzen
französischen Welt ans. Nichts scheint sicher, nichts folgerichtig, nichts not¬
wendig, in keiner Erziehung, keinen Überlieferungen, keinen Lebensverhältnissen
scheint der Einzelne noch eine Schranke zu finden! Man starrt in Möglich¬
keiten und Seelenwandlungen hinein, die aus Fieberträumen stammen und zu
Fieberträumen führen.

Die beiden letzten Kapitel der "Dreißig Jahre" erzählen von dem "großen
Erfolge", mit dem der Verfasser von "Fromont MQ. und Rister hör." in die Reihe
der gefeierten und über die ganze Welt bekannten Schriftsteller eingetreten ist,
und von den persönlichen Beziehungen Daudets zu Turgcniew, die durch Flau¬
bert vermittelt wurden und die leider mit einem Mißklang schließen. Die Fort-


Dreißig Jahre in Paris.

geträumt hatte und dem, was sich nun samt seinen sichtlichen Mängeln, seinen
unerträglichen Lücken vor Augen stellte, zu stark!" Wir führen diese Stelle
wörtlich an, weil sie nicht nur die normale Empfindung eines jungen, Poetisch
angehauchten Dramatikers angesichts der Verwirklichung seiner Stücke wieder^
giebt, sondern weil sie uns zugleich bedeutsam scheint für die in allen Littera¬
turen der Gegenwart zu beobachtende Bühnenflucht. Die Nervosität unsrer
Schriftsteller erträgt die Verluste nicht mehr, die auf dem Wege vom Schreib¬
tisch bis vor die Lampen unvermeidlich sind, sie schrickt vor der Verflachung
und Verrohung zurück, welche (Ausnahmefälle abgerechnet) die „reale Bühne"
mit sich bringt. Daudets Geständnis erweist, daß selbst die Franzosen, die sich
doch rühmen dürfen, daß auf ihren Brettern sorgfältiger probirt und besser
gelernt wird als auf den unsern, von dieser Krankheit der Lampenscheu nicht
mehr frei sind.

Interessant und nicht ohne Bedeutung sind die Mitteilungen Daudets
über die Jugend Henri Rocheforts und seinen persönlichen Verkehr mit diesem
Propheten der Kommune und der Revanche. Nochefort taucht nach diesen Mit¬
teilungen in einer legitimistisch angehauchten Familie auf, und in der That,
wenn wir uns auf seine ersten Schmähschriften gegen das zweite Kaiserreich
besinnen, so muß man zugeben, daß die eine kleinere Hälfte seiner vergifteten
Pfeile aus Chateaubriands Schriften und nur die andere größere aus Marats
„Volksfreund," Heberts „?ore vuolissris" und ähnlichen Blut- und Kotzeitschriften
des Jahres 1793 entlehnt war. Daudet berichtet, daß seine letzte Begegnung
mit Nochefort im kriegerischen Getümmel der Pariser Belagerung und der letzten
verunglückten Ausfälle nach der Seite des Mont Valerien stattgefunden habe, und
entzieht sich damit der Notwendigkeit, über die politische und litterarische Thä¬
tigkeit des Agitators seit 1871 zu urteilen. Je farbiger er aber die friedlichen
wohlgeordneten Familienverhältnisse ausmalt, aus denen Henri Nochefort her¬
vorgegangen ist, je entschiedener er betont, daß alle Eindrücke seiner Ju¬
gend der wilden und komödiantenhaften Rolle widerstrebten, in der Nochefort
nachmals berühmt geworden ist, um so unwiderstehlicher drängt sich dem
Nichtfranzosen das Gefühl einer ungeheuern Zerfahrenheit dieser ganzen
französischen Welt ans. Nichts scheint sicher, nichts folgerichtig, nichts not¬
wendig, in keiner Erziehung, keinen Überlieferungen, keinen Lebensverhältnissen
scheint der Einzelne noch eine Schranke zu finden! Man starrt in Möglich¬
keiten und Seelenwandlungen hinein, die aus Fieberträumen stammen und zu
Fieberträumen führen.

Die beiden letzten Kapitel der „Dreißig Jahre" erzählen von dem „großen
Erfolge", mit dem der Verfasser von „Fromont MQ. und Rister hör." in die Reihe
der gefeierten und über die ganze Welt bekannten Schriftsteller eingetreten ist,
und von den persönlichen Beziehungen Daudets zu Turgcniew, die durch Flau¬
bert vermittelt wurden und die leider mit einem Mißklang schließen. Die Fort-


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[0239] Dreißig Jahre in Paris. geträumt hatte und dem, was sich nun samt seinen sichtlichen Mängeln, seinen unerträglichen Lücken vor Augen stellte, zu stark!" Wir führen diese Stelle wörtlich an, weil sie nicht nur die normale Empfindung eines jungen, Poetisch angehauchten Dramatikers angesichts der Verwirklichung seiner Stücke wieder^ giebt, sondern weil sie uns zugleich bedeutsam scheint für die in allen Littera¬ turen der Gegenwart zu beobachtende Bühnenflucht. Die Nervosität unsrer Schriftsteller erträgt die Verluste nicht mehr, die auf dem Wege vom Schreib¬ tisch bis vor die Lampen unvermeidlich sind, sie schrickt vor der Verflachung und Verrohung zurück, welche (Ausnahmefälle abgerechnet) die „reale Bühne" mit sich bringt. Daudets Geständnis erweist, daß selbst die Franzosen, die sich doch rühmen dürfen, daß auf ihren Brettern sorgfältiger probirt und besser gelernt wird als auf den unsern, von dieser Krankheit der Lampenscheu nicht mehr frei sind. Interessant und nicht ohne Bedeutung sind die Mitteilungen Daudets über die Jugend Henri Rocheforts und seinen persönlichen Verkehr mit diesem Propheten der Kommune und der Revanche. Nochefort taucht nach diesen Mit¬ teilungen in einer legitimistisch angehauchten Familie auf, und in der That, wenn wir uns auf seine ersten Schmähschriften gegen das zweite Kaiserreich besinnen, so muß man zugeben, daß die eine kleinere Hälfte seiner vergifteten Pfeile aus Chateaubriands Schriften und nur die andere größere aus Marats „Volksfreund," Heberts „?ore vuolissris" und ähnlichen Blut- und Kotzeitschriften des Jahres 1793 entlehnt war. Daudet berichtet, daß seine letzte Begegnung mit Nochefort im kriegerischen Getümmel der Pariser Belagerung und der letzten verunglückten Ausfälle nach der Seite des Mont Valerien stattgefunden habe, und entzieht sich damit der Notwendigkeit, über die politische und litterarische Thä¬ tigkeit des Agitators seit 1871 zu urteilen. Je farbiger er aber die friedlichen wohlgeordneten Familienverhältnisse ausmalt, aus denen Henri Nochefort her¬ vorgegangen ist, je entschiedener er betont, daß alle Eindrücke seiner Ju¬ gend der wilden und komödiantenhaften Rolle widerstrebten, in der Nochefort nachmals berühmt geworden ist, um so unwiderstehlicher drängt sich dem Nichtfranzosen das Gefühl einer ungeheuern Zerfahrenheit dieser ganzen französischen Welt ans. Nichts scheint sicher, nichts folgerichtig, nichts not¬ wendig, in keiner Erziehung, keinen Überlieferungen, keinen Lebensverhältnissen scheint der Einzelne noch eine Schranke zu finden! Man starrt in Möglich¬ keiten und Seelenwandlungen hinein, die aus Fieberträumen stammen und zu Fieberträumen führen. Die beiden letzten Kapitel der „Dreißig Jahre" erzählen von dem „großen Erfolge", mit dem der Verfasser von „Fromont MQ. und Rister hör." in die Reihe der gefeierten und über die ganze Welt bekannten Schriftsteller eingetreten ist, und von den persönlichen Beziehungen Daudets zu Turgcniew, die durch Flau¬ bert vermittelt wurden und die leider mit einem Mißklang schließen. Die Fort-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/239>, abgerufen am 22.07.2024.