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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Dreißig Jahre in Paris.

allerdings in jeder großen Stadt Seitenstücke, aber glücklicherweise keines von
der Allgemeinbedeutnng des Pariser Journals besitzen; allein was Daudet er¬
zählt, reicht im Verein mit dem, was wir sonst wissen, vollständig aus, dies
Urteil zu begründen. Wer Gold aus Kot gewinnt, muß sich gefallen lassen,
daß mau seine einzelnen Wohlthätigkeitsbezeugungen nicht zu hoch anschlägt.
Der frühe Verkehr mit Männern vom Schlage Villemessants ist übrigens die
Erklärung dafür, wie ein Schriftsteller von Daudets Begabung und künstle¬
rischer Vornehmheit es späterhin über sich gewinnen konnte, seinen Gönner und
Wohlthäter, den Herzog von Mvrny, im "Ncibvv" für alle Welt erkennbar an
den Pranger zu stellen.

Es scheint, daß Daudet in seinen persönlichen Erinnerungen auf die Pi¬
kanteren, mit denen er einen Teil seiner Romane gewürzt hat, nicht zurück¬
komme" will, der Grundton ist ziemlich ernst, hier und da, namentlich in der
Geschichte von dem gascognischen "Tamburinaire," anmutig ironisch, immer aber
bleibt er fesselnd und behält, obschon er sich dem sachlichen Inhalt der Kapitel
anschließt, etwas von dem Wesen einer geistvollen Unterhaltung. Einzelne Meister¬
situationen mögen auf Rechnung des litterarischen Effektes gesetzt werden, so die
Schilderung der südfranzösischen winterlichen Einsamkeit, in der Daudet die Ge¬
schichte "Der kleine Dingsda" schreibt, und des Gegensatzes, der mit dem Her¬
eintreten des ersten Menschen zu wirken beginnt. Nach einigen Monaten, in
denen der Schriftsteller niemand gesehen hat, als die Frau eines Pächters, die ihn
bei seinen Mahlzeiten bedient, stürzt diese Frau eines morgens zu ihm herein
und ruft ihm im Patois des Landes zu, daß ein Mensch vor der Thüre stehe.
"Dieser Mensch war ein Pariser, ein Journalist, der mich hier wußte und etwas
über mich zu erfahren wünschte. Er frühstückt mit mir, man plaudert über Zei-
tungen, Theater, Boulevards; das Pariser Fieber ergreift mich und -- am
Abend reise ich mit meinem Besucher ab." Meist jedoch weiß Daudet solche
Zuspitzungen auf den Effekt geschickt zu verbergen, und die Erinnerungen an
seine Pariser Erlebnisse lesen sich wie offenherzige Bekenntnisse. Vortrefflich ist
Daudets Erzählung von dem Eindrucke der ersten Darstellung seines ersten Stückes.
Eine Drahtnachricht, daß dies kleine Stück ungewöhnlichen Erfolg gehabt habe,
blitzt ihn aus Algier heim nach Paris. Er kommt an, er stürzt nach dem Theater,
das er am Faschingsdienstag von Polichinells und Masken aller Art erfüllt
findet. Sie lassen sich zwar von seinem Stück rühren, er selbst aber trägt
einen moralischen Katzenjammer der stärksten Art davon. "Das Stück, das diese
braven Leute beklatschten, fand ich widerwärtig. O Jammer -- glich dieser dicke
Mann, der, um väterlich und tugendhaft zu erscheinen, sich den Kopf Bvran-
gers hergerichtet hatte, meinem poetischen Traum? Wohlgemerkt, ich war un¬
gerecht, Tisferant und Rousseil, zwei vortreffliche Künstler, spielten, so gut man
uur spielen kann, und ihr Talent war wahrlich nicht die letzte Ursache meines Er¬
folges. Aber der Absturz war zu stark, der Unterschied zwischen dem, was ich


Dreißig Jahre in Paris.

allerdings in jeder großen Stadt Seitenstücke, aber glücklicherweise keines von
der Allgemeinbedeutnng des Pariser Journals besitzen; allein was Daudet er¬
zählt, reicht im Verein mit dem, was wir sonst wissen, vollständig aus, dies
Urteil zu begründen. Wer Gold aus Kot gewinnt, muß sich gefallen lassen,
daß mau seine einzelnen Wohlthätigkeitsbezeugungen nicht zu hoch anschlägt.
Der frühe Verkehr mit Männern vom Schlage Villemessants ist übrigens die
Erklärung dafür, wie ein Schriftsteller von Daudets Begabung und künstle¬
rischer Vornehmheit es späterhin über sich gewinnen konnte, seinen Gönner und
Wohlthäter, den Herzog von Mvrny, im „Ncibvv" für alle Welt erkennbar an
den Pranger zu stellen.

Es scheint, daß Daudet in seinen persönlichen Erinnerungen auf die Pi¬
kanteren, mit denen er einen Teil seiner Romane gewürzt hat, nicht zurück¬
komme» will, der Grundton ist ziemlich ernst, hier und da, namentlich in der
Geschichte von dem gascognischen „Tamburinaire," anmutig ironisch, immer aber
bleibt er fesselnd und behält, obschon er sich dem sachlichen Inhalt der Kapitel
anschließt, etwas von dem Wesen einer geistvollen Unterhaltung. Einzelne Meister¬
situationen mögen auf Rechnung des litterarischen Effektes gesetzt werden, so die
Schilderung der südfranzösischen winterlichen Einsamkeit, in der Daudet die Ge¬
schichte „Der kleine Dingsda" schreibt, und des Gegensatzes, der mit dem Her¬
eintreten des ersten Menschen zu wirken beginnt. Nach einigen Monaten, in
denen der Schriftsteller niemand gesehen hat, als die Frau eines Pächters, die ihn
bei seinen Mahlzeiten bedient, stürzt diese Frau eines morgens zu ihm herein
und ruft ihm im Patois des Landes zu, daß ein Mensch vor der Thüre stehe.
„Dieser Mensch war ein Pariser, ein Journalist, der mich hier wußte und etwas
über mich zu erfahren wünschte. Er frühstückt mit mir, man plaudert über Zei-
tungen, Theater, Boulevards; das Pariser Fieber ergreift mich und — am
Abend reise ich mit meinem Besucher ab." Meist jedoch weiß Daudet solche
Zuspitzungen auf den Effekt geschickt zu verbergen, und die Erinnerungen an
seine Pariser Erlebnisse lesen sich wie offenherzige Bekenntnisse. Vortrefflich ist
Daudets Erzählung von dem Eindrucke der ersten Darstellung seines ersten Stückes.
Eine Drahtnachricht, daß dies kleine Stück ungewöhnlichen Erfolg gehabt habe,
blitzt ihn aus Algier heim nach Paris. Er kommt an, er stürzt nach dem Theater,
das er am Faschingsdienstag von Polichinells und Masken aller Art erfüllt
findet. Sie lassen sich zwar von seinem Stück rühren, er selbst aber trägt
einen moralischen Katzenjammer der stärksten Art davon. „Das Stück, das diese
braven Leute beklatschten, fand ich widerwärtig. O Jammer — glich dieser dicke
Mann, der, um väterlich und tugendhaft zu erscheinen, sich den Kopf Bvran-
gers hergerichtet hatte, meinem poetischen Traum? Wohlgemerkt, ich war un¬
gerecht, Tisferant und Rousseil, zwei vortreffliche Künstler, spielten, so gut man
uur spielen kann, und ihr Talent war wahrlich nicht die letzte Ursache meines Er¬
folges. Aber der Absturz war zu stark, der Unterschied zwischen dem, was ich


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[0238] Dreißig Jahre in Paris. allerdings in jeder großen Stadt Seitenstücke, aber glücklicherweise keines von der Allgemeinbedeutnng des Pariser Journals besitzen; allein was Daudet er¬ zählt, reicht im Verein mit dem, was wir sonst wissen, vollständig aus, dies Urteil zu begründen. Wer Gold aus Kot gewinnt, muß sich gefallen lassen, daß mau seine einzelnen Wohlthätigkeitsbezeugungen nicht zu hoch anschlägt. Der frühe Verkehr mit Männern vom Schlage Villemessants ist übrigens die Erklärung dafür, wie ein Schriftsteller von Daudets Begabung und künstle¬ rischer Vornehmheit es späterhin über sich gewinnen konnte, seinen Gönner und Wohlthäter, den Herzog von Mvrny, im „Ncibvv" für alle Welt erkennbar an den Pranger zu stellen. Es scheint, daß Daudet in seinen persönlichen Erinnerungen auf die Pi¬ kanteren, mit denen er einen Teil seiner Romane gewürzt hat, nicht zurück¬ komme» will, der Grundton ist ziemlich ernst, hier und da, namentlich in der Geschichte von dem gascognischen „Tamburinaire," anmutig ironisch, immer aber bleibt er fesselnd und behält, obschon er sich dem sachlichen Inhalt der Kapitel anschließt, etwas von dem Wesen einer geistvollen Unterhaltung. Einzelne Meister¬ situationen mögen auf Rechnung des litterarischen Effektes gesetzt werden, so die Schilderung der südfranzösischen winterlichen Einsamkeit, in der Daudet die Ge¬ schichte „Der kleine Dingsda" schreibt, und des Gegensatzes, der mit dem Her¬ eintreten des ersten Menschen zu wirken beginnt. Nach einigen Monaten, in denen der Schriftsteller niemand gesehen hat, als die Frau eines Pächters, die ihn bei seinen Mahlzeiten bedient, stürzt diese Frau eines morgens zu ihm herein und ruft ihm im Patois des Landes zu, daß ein Mensch vor der Thüre stehe. „Dieser Mensch war ein Pariser, ein Journalist, der mich hier wußte und etwas über mich zu erfahren wünschte. Er frühstückt mit mir, man plaudert über Zei- tungen, Theater, Boulevards; das Pariser Fieber ergreift mich und — am Abend reise ich mit meinem Besucher ab." Meist jedoch weiß Daudet solche Zuspitzungen auf den Effekt geschickt zu verbergen, und die Erinnerungen an seine Pariser Erlebnisse lesen sich wie offenherzige Bekenntnisse. Vortrefflich ist Daudets Erzählung von dem Eindrucke der ersten Darstellung seines ersten Stückes. Eine Drahtnachricht, daß dies kleine Stück ungewöhnlichen Erfolg gehabt habe, blitzt ihn aus Algier heim nach Paris. Er kommt an, er stürzt nach dem Theater, das er am Faschingsdienstag von Polichinells und Masken aller Art erfüllt findet. Sie lassen sich zwar von seinem Stück rühren, er selbst aber trägt einen moralischen Katzenjammer der stärksten Art davon. „Das Stück, das diese braven Leute beklatschten, fand ich widerwärtig. O Jammer — glich dieser dicke Mann, der, um väterlich und tugendhaft zu erscheinen, sich den Kopf Bvran- gers hergerichtet hatte, meinem poetischen Traum? Wohlgemerkt, ich war un¬ gerecht, Tisferant und Rousseil, zwei vortreffliche Künstler, spielten, so gut man uur spielen kann, und ihr Talent war wahrlich nicht die letzte Ursache meines Er¬ folges. Aber der Absturz war zu stark, der Unterschied zwischen dem, was ich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/238>, abgerufen am 23.07.2024.