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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Vie Gebietsentwicklung der Einzelstaaten Deutschlands.

sicherte geographisch seine Stellung durch den weiten Halbkreis, in welchem das
kaiserliche Gebiet von dem nördlichen Böhmen an bis nach Bregenz am Bodensee
und bis an den Oberlauf des Rheines hin fast ganz Mittel- und Süddeutsch¬
land gleichsam umklammerte. Dieses Gebiet mußte fest zusammenhängen und
durfte keine Lücke darbieten. Dazu mußte Baiern wieder herausgeben: Vorarl¬
berg, Tirol, die ehemaligen Hochstifter Brixen und Trient, das frühere Erz¬
bistum und spätere Kurfürstentum Salzburg, das Hunsrückviertel und das Inn-
viertel. Zweitens wollte Osterreich das Übergewicht in Italien behaupten.
Das sicherte ihm die Erwerbung des lombardisch-venetianischen Königreichs mit
seinem fruchtbaren Boden, seinen volkreichen Städten und seinen mächtigen
Festungen. Drittens wollte Österreich eine ausschlaggebende Stellung im Orient
einnehmen. Diese sicherte ihm die Zurückerwerbung seiner früheren polnischen
Besitzungen und namentlich der Besitz des Königreiches Ungarn und der übrigen
mit der Stephanskrone verbundenen Provinzen, namentlich die neugeschaffenen
Königreiche Jllyrien und Dalmatien.

Der eigentümliche Prozeß in der Gebietsentwickelung des österreichischen
Kaiserstaates, daß dieser nämlich allmählich geographisch immer mehr aus
Deutschland "hinauswuchs," hatte damit seinen Abschluß gefunden. Österreich
lag, genau genommen, eigentlich nicht mehr in Deutschland, sondern grenzte
nur noch mit einigen seiner Provinzen, die übrigens durchaus nicht eine rein¬
deutsche Bevölkerung haben, an Deutschland. Das feste Band eines gemein¬
samen Geistes- und Kulturlebens, das alle übrigen Teile des politisch noch zer¬
rissenen Vaterlandes umfaßte, hatte sich immer mehr gelockert und gelöst.
Völlig hinausgedrängt worden aus Deutschland ist allerdings Österreich durch
die nationale Politik Bismarcks und die guten, blanken Waffen Preußens; aber
die habsburgisch-lothringische Hauspolitik mehrerer Jahrhunderte, namentlich
die ränkevolle Staatskunst Metternichs auf dem Wiener Kongresse haben dieses
Ausscheiden ermöglicht, vorbereitet und geradezu zu einer geschichtlichen Not¬
wendigkeit gemacht.

Da die ferneren Gebietsveränderungen, die der uns jetzt verbündete Donau¬
staat hat durchmachen müssen, sein Verhältnis zu Deutschland nur wenig
berühren, so brauchen sie nur ganz kurz erwähnt zu werden. Die dem Sturm¬
jahre 1848 vorausgehenden revolutionären Zuckungen warfen den künstlich
gebildeten Freistaat Krakau in seinen Schoß (1846). Bei dem großen Länder¬
und Völkerschacher in Wien hatte man sich über diese Stadt und ihr Gebiet
nicht einigen können. Der unbesonnen angefangene, kopflos geführte und dann
ebenso unüberlegt geendigte Krieg von 1859 führte den Verlust fast der ganzen
Lombardei hei bei. Preußen verlangte trotz seiner unerhört glänzenden Erfolge
im Jahre 1866 keinerlei Gebietsabtretung von Österreich; aber nur den Siegen
Preußens im fernen Böhmen hatte das neu entstandene Königreich Italien den
Gewinn des Nestes der Lombardei und Venetiens zu verdanken. Das drückende


Vie Gebietsentwicklung der Einzelstaaten Deutschlands.

sicherte geographisch seine Stellung durch den weiten Halbkreis, in welchem das
kaiserliche Gebiet von dem nördlichen Böhmen an bis nach Bregenz am Bodensee
und bis an den Oberlauf des Rheines hin fast ganz Mittel- und Süddeutsch¬
land gleichsam umklammerte. Dieses Gebiet mußte fest zusammenhängen und
durfte keine Lücke darbieten. Dazu mußte Baiern wieder herausgeben: Vorarl¬
berg, Tirol, die ehemaligen Hochstifter Brixen und Trient, das frühere Erz¬
bistum und spätere Kurfürstentum Salzburg, das Hunsrückviertel und das Inn-
viertel. Zweitens wollte Osterreich das Übergewicht in Italien behaupten.
Das sicherte ihm die Erwerbung des lombardisch-venetianischen Königreichs mit
seinem fruchtbaren Boden, seinen volkreichen Städten und seinen mächtigen
Festungen. Drittens wollte Österreich eine ausschlaggebende Stellung im Orient
einnehmen. Diese sicherte ihm die Zurückerwerbung seiner früheren polnischen
Besitzungen und namentlich der Besitz des Königreiches Ungarn und der übrigen
mit der Stephanskrone verbundenen Provinzen, namentlich die neugeschaffenen
Königreiche Jllyrien und Dalmatien.

Der eigentümliche Prozeß in der Gebietsentwickelung des österreichischen
Kaiserstaates, daß dieser nämlich allmählich geographisch immer mehr aus
Deutschland „hinauswuchs," hatte damit seinen Abschluß gefunden. Österreich
lag, genau genommen, eigentlich nicht mehr in Deutschland, sondern grenzte
nur noch mit einigen seiner Provinzen, die übrigens durchaus nicht eine rein¬
deutsche Bevölkerung haben, an Deutschland. Das feste Band eines gemein¬
samen Geistes- und Kulturlebens, das alle übrigen Teile des politisch noch zer¬
rissenen Vaterlandes umfaßte, hatte sich immer mehr gelockert und gelöst.
Völlig hinausgedrängt worden aus Deutschland ist allerdings Österreich durch
die nationale Politik Bismarcks und die guten, blanken Waffen Preußens; aber
die habsburgisch-lothringische Hauspolitik mehrerer Jahrhunderte, namentlich
die ränkevolle Staatskunst Metternichs auf dem Wiener Kongresse haben dieses
Ausscheiden ermöglicht, vorbereitet und geradezu zu einer geschichtlichen Not¬
wendigkeit gemacht.

Da die ferneren Gebietsveränderungen, die der uns jetzt verbündete Donau¬
staat hat durchmachen müssen, sein Verhältnis zu Deutschland nur wenig
berühren, so brauchen sie nur ganz kurz erwähnt zu werden. Die dem Sturm¬
jahre 1848 vorausgehenden revolutionären Zuckungen warfen den künstlich
gebildeten Freistaat Krakau in seinen Schoß (1846). Bei dem großen Länder¬
und Völkerschacher in Wien hatte man sich über diese Stadt und ihr Gebiet
nicht einigen können. Der unbesonnen angefangene, kopflos geführte und dann
ebenso unüberlegt geendigte Krieg von 1859 führte den Verlust fast der ganzen
Lombardei hei bei. Preußen verlangte trotz seiner unerhört glänzenden Erfolge
im Jahre 1866 keinerlei Gebietsabtretung von Österreich; aber nur den Siegen
Preußens im fernen Böhmen hatte das neu entstandene Königreich Italien den
Gewinn des Nestes der Lombardei und Venetiens zu verdanken. Das drückende


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[0229] Vie Gebietsentwicklung der Einzelstaaten Deutschlands. sicherte geographisch seine Stellung durch den weiten Halbkreis, in welchem das kaiserliche Gebiet von dem nördlichen Böhmen an bis nach Bregenz am Bodensee und bis an den Oberlauf des Rheines hin fast ganz Mittel- und Süddeutsch¬ land gleichsam umklammerte. Dieses Gebiet mußte fest zusammenhängen und durfte keine Lücke darbieten. Dazu mußte Baiern wieder herausgeben: Vorarl¬ berg, Tirol, die ehemaligen Hochstifter Brixen und Trient, das frühere Erz¬ bistum und spätere Kurfürstentum Salzburg, das Hunsrückviertel und das Inn- viertel. Zweitens wollte Osterreich das Übergewicht in Italien behaupten. Das sicherte ihm die Erwerbung des lombardisch-venetianischen Königreichs mit seinem fruchtbaren Boden, seinen volkreichen Städten und seinen mächtigen Festungen. Drittens wollte Österreich eine ausschlaggebende Stellung im Orient einnehmen. Diese sicherte ihm die Zurückerwerbung seiner früheren polnischen Besitzungen und namentlich der Besitz des Königreiches Ungarn und der übrigen mit der Stephanskrone verbundenen Provinzen, namentlich die neugeschaffenen Königreiche Jllyrien und Dalmatien. Der eigentümliche Prozeß in der Gebietsentwickelung des österreichischen Kaiserstaates, daß dieser nämlich allmählich geographisch immer mehr aus Deutschland „hinauswuchs," hatte damit seinen Abschluß gefunden. Österreich lag, genau genommen, eigentlich nicht mehr in Deutschland, sondern grenzte nur noch mit einigen seiner Provinzen, die übrigens durchaus nicht eine rein¬ deutsche Bevölkerung haben, an Deutschland. Das feste Band eines gemein¬ samen Geistes- und Kulturlebens, das alle übrigen Teile des politisch noch zer¬ rissenen Vaterlandes umfaßte, hatte sich immer mehr gelockert und gelöst. Völlig hinausgedrängt worden aus Deutschland ist allerdings Österreich durch die nationale Politik Bismarcks und die guten, blanken Waffen Preußens; aber die habsburgisch-lothringische Hauspolitik mehrerer Jahrhunderte, namentlich die ränkevolle Staatskunst Metternichs auf dem Wiener Kongresse haben dieses Ausscheiden ermöglicht, vorbereitet und geradezu zu einer geschichtlichen Not¬ wendigkeit gemacht. Da die ferneren Gebietsveränderungen, die der uns jetzt verbündete Donau¬ staat hat durchmachen müssen, sein Verhältnis zu Deutschland nur wenig berühren, so brauchen sie nur ganz kurz erwähnt zu werden. Die dem Sturm¬ jahre 1848 vorausgehenden revolutionären Zuckungen warfen den künstlich gebildeten Freistaat Krakau in seinen Schoß (1846). Bei dem großen Länder¬ und Völkerschacher in Wien hatte man sich über diese Stadt und ihr Gebiet nicht einigen können. Der unbesonnen angefangene, kopflos geführte und dann ebenso unüberlegt geendigte Krieg von 1859 führte den Verlust fast der ganzen Lombardei hei bei. Preußen verlangte trotz seiner unerhört glänzenden Erfolge im Jahre 1866 keinerlei Gebietsabtretung von Österreich; aber nur den Siegen Preußens im fernen Böhmen hatte das neu entstandene Königreich Italien den Gewinn des Nestes der Lombardei und Venetiens zu verdanken. Das drückende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/229>, abgerufen am 04.07.2024.