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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Lehren der deutschen Strafstatistik.

hierüber empfinden wird, so groß ist die Trauer, welche die zweite der oben
erwähnten Thatsachen bei ihm hervorrufen muß. Die Abnahme der Diebstähle
hält gleichen Schritt mit der Zunahme der Körperverletzungen, der Wider-
standsleistungen gegen die Staatsgewalt, der thätlichen Beleidigungen, ge¬
wisser Vergehen gegen die öffentliche Ordnung, mancher Verbrechen gegen
die Sittlichkeit, mit einem Worte d^r Noheits- und Geivaltthätigkcitsverbrcchen.
Dabei ist es genau genommen unrichtig, von einem gleichen Schritt der Be¬
wegung dieser und jeuer zu sprechen, denn die Vermehrung der wichtigsten
aller Nvheitsverbrcchcn, der Körperverletzungen, ist noch viel bedeutender als die
Verminderung der Diebstähle. Sittlich ist deshalb der Wert dieser Ver¬
minderung sehr zweifelhaft, ein Volk, welches sich von Jahr zu Jahr in stürkerm
Maße der strafbaren Äußerung eiues unbändigen, dem Gesetze und der allge¬
meinen Ordnung Hohn sprechenden Roheitstriebes zuwendet, steht nicht nur
nicht höher, sondern wesentlich tiefer, als das Volk, bei dem die Diebstahls-
ziffcr alljährlich anschwillt. Für die Häufigkeit der Verletzungen des fremden
Eigentums kann die Notlage eine gewisse Entschuldigung bieten; Hunger thut
weh, und wer zu Hause ein darbendes, frierendes Weib hat, wer das Jammern
seiner hungernden Kinder nach Brot vernimmt, wird stets auf ein menschliches
Mitgefühl rechnen dürfen, auch wenn die gesetzliche Strafe über ihn verhängt
werden muß. Für die Verübung der Roheitsverbrechen fehlt es aber an jeder
Entschuldigung, denn glücklicherweise haben wir doch wenigstens den Fortschritt
gemacht, daß die Trunkenheit nicht mehr so allgemein als Entschuldigung auf¬
gefaßt wird wie früher, wenn es auch jetzt noch nicht an Richtern fehlt, die
in dieser Beziehung einer verdammcuswerten sittlichen Schwäche huldigen.
Was soll aber aus unserm Volksleben werden, wenn diese Vermehrung der
Nvhcitsverbrecheu fortdauert, wohin soll es mit unsrer Gesittung, mit der
öffentlichen Sicherheit, mit der Achtung vor dem Leben der Nebenmenschen
kommen?

Es ist lui Laufe der letzten Jahre schon öfters auf diese beklagenswerte
Erscheinung aufmerksam gemacht worden, aber trotz aller Erörterungen, trotz
aller Klagen hat man bis heute noch nicht die Hand gerührt, um diesen Krebs¬
schaden in unserm Volke zu beseitigen! Im Gegenteil, fort und fort ver¬
hängen viele unsrer Gerichte gegen die mit dem Messer umgehenden Schnaps¬
lumpen Strafen von einer Wirkungslosigkeit, die Erstaunen hervorrufen müßte,
Hütte man nicht auf diesem Gebiete das Erstaunen längst verlernt, fort und
fort werden die nichtswürdigsten Unholde des neuzeitlichen Verbrechertums,
die Dirnenzuhälter, mit unbegreiflicher Milde behandelt. Kann es da Wunder
nehmen, wenn die Unsicherheit in den größern Städten täglich zunimmt, wenn
wir täglich in den Zeitungen von nächtlichen Überfällen, von barbarischen Mi߬
handlungen und Raufhändeln lesen. Wahrlich, die Gesellschaft ist zu bitterer Klage
gegen den Staat und seine Rechtspflege berechtigt ob des ungenügenden Schutzes


Die Lehren der deutschen Strafstatistik.

hierüber empfinden wird, so groß ist die Trauer, welche die zweite der oben
erwähnten Thatsachen bei ihm hervorrufen muß. Die Abnahme der Diebstähle
hält gleichen Schritt mit der Zunahme der Körperverletzungen, der Wider-
standsleistungen gegen die Staatsgewalt, der thätlichen Beleidigungen, ge¬
wisser Vergehen gegen die öffentliche Ordnung, mancher Verbrechen gegen
die Sittlichkeit, mit einem Worte d^r Noheits- und Geivaltthätigkcitsverbrcchen.
Dabei ist es genau genommen unrichtig, von einem gleichen Schritt der Be¬
wegung dieser und jeuer zu sprechen, denn die Vermehrung der wichtigsten
aller Nvheitsverbrcchcn, der Körperverletzungen, ist noch viel bedeutender als die
Verminderung der Diebstähle. Sittlich ist deshalb der Wert dieser Ver¬
minderung sehr zweifelhaft, ein Volk, welches sich von Jahr zu Jahr in stürkerm
Maße der strafbaren Äußerung eiues unbändigen, dem Gesetze und der allge¬
meinen Ordnung Hohn sprechenden Roheitstriebes zuwendet, steht nicht nur
nicht höher, sondern wesentlich tiefer, als das Volk, bei dem die Diebstahls-
ziffcr alljährlich anschwillt. Für die Häufigkeit der Verletzungen des fremden
Eigentums kann die Notlage eine gewisse Entschuldigung bieten; Hunger thut
weh, und wer zu Hause ein darbendes, frierendes Weib hat, wer das Jammern
seiner hungernden Kinder nach Brot vernimmt, wird stets auf ein menschliches
Mitgefühl rechnen dürfen, auch wenn die gesetzliche Strafe über ihn verhängt
werden muß. Für die Verübung der Roheitsverbrechen fehlt es aber an jeder
Entschuldigung, denn glücklicherweise haben wir doch wenigstens den Fortschritt
gemacht, daß die Trunkenheit nicht mehr so allgemein als Entschuldigung auf¬
gefaßt wird wie früher, wenn es auch jetzt noch nicht an Richtern fehlt, die
in dieser Beziehung einer verdammcuswerten sittlichen Schwäche huldigen.
Was soll aber aus unserm Volksleben werden, wenn diese Vermehrung der
Nvhcitsverbrecheu fortdauert, wohin soll es mit unsrer Gesittung, mit der
öffentlichen Sicherheit, mit der Achtung vor dem Leben der Nebenmenschen
kommen?

Es ist lui Laufe der letzten Jahre schon öfters auf diese beklagenswerte
Erscheinung aufmerksam gemacht worden, aber trotz aller Erörterungen, trotz
aller Klagen hat man bis heute noch nicht die Hand gerührt, um diesen Krebs¬
schaden in unserm Volke zu beseitigen! Im Gegenteil, fort und fort ver¬
hängen viele unsrer Gerichte gegen die mit dem Messer umgehenden Schnaps¬
lumpen Strafen von einer Wirkungslosigkeit, die Erstaunen hervorrufen müßte,
Hütte man nicht auf diesem Gebiete das Erstaunen längst verlernt, fort und
fort werden die nichtswürdigsten Unholde des neuzeitlichen Verbrechertums,
die Dirnenzuhälter, mit unbegreiflicher Milde behandelt. Kann es da Wunder
nehmen, wenn die Unsicherheit in den größern Städten täglich zunimmt, wenn
wir täglich in den Zeitungen von nächtlichen Überfällen, von barbarischen Mi߬
handlungen und Raufhändeln lesen. Wahrlich, die Gesellschaft ist zu bitterer Klage
gegen den Staat und seine Rechtspflege berechtigt ob des ungenügenden Schutzes


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[0022] Die Lehren der deutschen Strafstatistik. hierüber empfinden wird, so groß ist die Trauer, welche die zweite der oben erwähnten Thatsachen bei ihm hervorrufen muß. Die Abnahme der Diebstähle hält gleichen Schritt mit der Zunahme der Körperverletzungen, der Wider- standsleistungen gegen die Staatsgewalt, der thätlichen Beleidigungen, ge¬ wisser Vergehen gegen die öffentliche Ordnung, mancher Verbrechen gegen die Sittlichkeit, mit einem Worte d^r Noheits- und Geivaltthätigkcitsverbrcchen. Dabei ist es genau genommen unrichtig, von einem gleichen Schritt der Be¬ wegung dieser und jeuer zu sprechen, denn die Vermehrung der wichtigsten aller Nvheitsverbrcchcn, der Körperverletzungen, ist noch viel bedeutender als die Verminderung der Diebstähle. Sittlich ist deshalb der Wert dieser Ver¬ minderung sehr zweifelhaft, ein Volk, welches sich von Jahr zu Jahr in stürkerm Maße der strafbaren Äußerung eiues unbändigen, dem Gesetze und der allge¬ meinen Ordnung Hohn sprechenden Roheitstriebes zuwendet, steht nicht nur nicht höher, sondern wesentlich tiefer, als das Volk, bei dem die Diebstahls- ziffcr alljährlich anschwillt. Für die Häufigkeit der Verletzungen des fremden Eigentums kann die Notlage eine gewisse Entschuldigung bieten; Hunger thut weh, und wer zu Hause ein darbendes, frierendes Weib hat, wer das Jammern seiner hungernden Kinder nach Brot vernimmt, wird stets auf ein menschliches Mitgefühl rechnen dürfen, auch wenn die gesetzliche Strafe über ihn verhängt werden muß. Für die Verübung der Roheitsverbrechen fehlt es aber an jeder Entschuldigung, denn glücklicherweise haben wir doch wenigstens den Fortschritt gemacht, daß die Trunkenheit nicht mehr so allgemein als Entschuldigung auf¬ gefaßt wird wie früher, wenn es auch jetzt noch nicht an Richtern fehlt, die in dieser Beziehung einer verdammcuswerten sittlichen Schwäche huldigen. Was soll aber aus unserm Volksleben werden, wenn diese Vermehrung der Nvhcitsverbrecheu fortdauert, wohin soll es mit unsrer Gesittung, mit der öffentlichen Sicherheit, mit der Achtung vor dem Leben der Nebenmenschen kommen? Es ist lui Laufe der letzten Jahre schon öfters auf diese beklagenswerte Erscheinung aufmerksam gemacht worden, aber trotz aller Erörterungen, trotz aller Klagen hat man bis heute noch nicht die Hand gerührt, um diesen Krebs¬ schaden in unserm Volke zu beseitigen! Im Gegenteil, fort und fort ver¬ hängen viele unsrer Gerichte gegen die mit dem Messer umgehenden Schnaps¬ lumpen Strafen von einer Wirkungslosigkeit, die Erstaunen hervorrufen müßte, Hütte man nicht auf diesem Gebiete das Erstaunen längst verlernt, fort und fort werden die nichtswürdigsten Unholde des neuzeitlichen Verbrechertums, die Dirnenzuhälter, mit unbegreiflicher Milde behandelt. Kann es da Wunder nehmen, wenn die Unsicherheit in den größern Städten täglich zunimmt, wenn wir täglich in den Zeitungen von nächtlichen Überfällen, von barbarischen Mi߬ handlungen und Raufhändeln lesen. Wahrlich, die Gesellschaft ist zu bitterer Klage gegen den Staat und seine Rechtspflege berechtigt ob des ungenügenden Schutzes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/22>, abgerufen am 30.06.2024.