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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Lohren der deutschen Strafstatistik.

so muß dieser bedeutende Rückgang der wichtigsten aller Verletzungen des
Eigentumes in den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zuständen seine Ursache
haben. Es ist nun durch die Strafstatistik schon seit langer Zeit festgestellt,
daß die Bewegung der Ziffern der Diebstähle mit den Preisen der Lebensmittel,
namentlich der für die Ernährung der Massen maßgebenden ursachlich zusammen-
hängt. Je höher die Lebensmittelpreise, um so häufiger die Verletzungen des
Eigentumes, je niedrige jene, um so seltener diese. Wenn man unter einem
"Gesetz" des Gesellschaftslebens nichts weiter versteht, als den Ausdruck einer
regelmäßig wiederkehrenden, jedoch durchaus nicht unabänderlichen oder unter
allen Umständen notwendigen Erscheinung, so kann man es getrost als ein
gesellschaftliches oder statistisches Gesetz bezeichnen, daß die Bewegung der Dieb-
stähle in umgekehrtem Verhältnis zur Höhe der Lebensmittelpreise steht. Über
die Richtigkeit dieses Satzes besteht eigentlich kein Streit, und es braucht in
dieser Beziehung nur daran erinnert zu werden, daß bei Gelegenheit der Er¬
höhung der Getreidezölle im Reichstage wiederholt als Gegengrund angeführt
wurde, die Maßregel werde eine beträchtliche Vermehrung der Diebstähle zur
Folge haben. Wenn nun die Statistik seit 1882 ein stetiges Sinken der Dieb¬
stähle erkennen läßt, so muß hieraus mit Notwendigkeit geschlossen werden,
daß die Lcbensmittelpreise in dieser Zeit nicht nur keine Erhöhung, sondern
eine Verminderung erfahren haben, trotz der wiederholten Erhöhung der land¬
wirtschaftlichen Zölle. Der Diebstahl ist das durch die Notlage hervorgerufene
Verbrechen; sein gewöhnlicher Beweggrund liegt in dem Mangel an den für die
Lebensunterhaltung notwendigen Mitteln; wenn er von Jahr zu Jahr seltener verübt
wird, so beweist dies, daß die Massen leichter in der Lage sind, auf erlaubtem
Wege für ihren Bedarf Sorge zu tragen, als vormals. Nicht mit Unrecht
hat der französische Statistiker A. Come den Satz aufgestellt, daß die Hoff¬
nungslosigkeit der Massenarmut die hauptsächliche Quelle für Laster und Ver¬
brechen sei. Wir wenden diesen Ausspruch auf die Bewegung der Diebstahls¬
ziffern im Deutschen Reiche seit 1882 unmittelbar an. Die hoffnungslose
Massenarmut, die sich nur durch die strafbare Antastung des Eigentums die
Unterhaltsmittel verschaffen kann, besitzt nicht mehr den Umfang, wie vor fünf
Jahren, die Zustünde haben sich gebessert. Die Gesundung des deutschen Er¬
werbs- und Wirthschaftslebens hat langsame, aber stetige Fortschritte gemacht,
die Unternehmungslust und die Thatkraft des deutschen Volkes hat sich reger
entfaltet, und wir haben die Folgen der furchtbaren Krisis der siebziger Jahre
überwunden. Diese erfreuliche Thatsache, mit der sich auch die verbissene
Nörgelei und die berufsmäßige Schwarzmalerei wohl oder übel abfinden muß,
läßt sich auch durch gekünstelte und weit hergeholte Erklärungen der statistischen
Ergebnisse nicht aus der Welt schaffen, sie zeigt, was es mit der Redensart
von der Vertheuerung des Brodes seit 1879 auf sich hat.

So groß aber nun die Genugthuung ist, die jeder Vaterlandsfreund


Die Lohren der deutschen Strafstatistik.

so muß dieser bedeutende Rückgang der wichtigsten aller Verletzungen des
Eigentumes in den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zuständen seine Ursache
haben. Es ist nun durch die Strafstatistik schon seit langer Zeit festgestellt,
daß die Bewegung der Ziffern der Diebstähle mit den Preisen der Lebensmittel,
namentlich der für die Ernährung der Massen maßgebenden ursachlich zusammen-
hängt. Je höher die Lebensmittelpreise, um so häufiger die Verletzungen des
Eigentumes, je niedrige jene, um so seltener diese. Wenn man unter einem
„Gesetz" des Gesellschaftslebens nichts weiter versteht, als den Ausdruck einer
regelmäßig wiederkehrenden, jedoch durchaus nicht unabänderlichen oder unter
allen Umständen notwendigen Erscheinung, so kann man es getrost als ein
gesellschaftliches oder statistisches Gesetz bezeichnen, daß die Bewegung der Dieb-
stähle in umgekehrtem Verhältnis zur Höhe der Lebensmittelpreise steht. Über
die Richtigkeit dieses Satzes besteht eigentlich kein Streit, und es braucht in
dieser Beziehung nur daran erinnert zu werden, daß bei Gelegenheit der Er¬
höhung der Getreidezölle im Reichstage wiederholt als Gegengrund angeführt
wurde, die Maßregel werde eine beträchtliche Vermehrung der Diebstähle zur
Folge haben. Wenn nun die Statistik seit 1882 ein stetiges Sinken der Dieb¬
stähle erkennen läßt, so muß hieraus mit Notwendigkeit geschlossen werden,
daß die Lcbensmittelpreise in dieser Zeit nicht nur keine Erhöhung, sondern
eine Verminderung erfahren haben, trotz der wiederholten Erhöhung der land¬
wirtschaftlichen Zölle. Der Diebstahl ist das durch die Notlage hervorgerufene
Verbrechen; sein gewöhnlicher Beweggrund liegt in dem Mangel an den für die
Lebensunterhaltung notwendigen Mitteln; wenn er von Jahr zu Jahr seltener verübt
wird, so beweist dies, daß die Massen leichter in der Lage sind, auf erlaubtem
Wege für ihren Bedarf Sorge zu tragen, als vormals. Nicht mit Unrecht
hat der französische Statistiker A. Come den Satz aufgestellt, daß die Hoff¬
nungslosigkeit der Massenarmut die hauptsächliche Quelle für Laster und Ver¬
brechen sei. Wir wenden diesen Ausspruch auf die Bewegung der Diebstahls¬
ziffern im Deutschen Reiche seit 1882 unmittelbar an. Die hoffnungslose
Massenarmut, die sich nur durch die strafbare Antastung des Eigentums die
Unterhaltsmittel verschaffen kann, besitzt nicht mehr den Umfang, wie vor fünf
Jahren, die Zustünde haben sich gebessert. Die Gesundung des deutschen Er¬
werbs- und Wirthschaftslebens hat langsame, aber stetige Fortschritte gemacht,
die Unternehmungslust und die Thatkraft des deutschen Volkes hat sich reger
entfaltet, und wir haben die Folgen der furchtbaren Krisis der siebziger Jahre
überwunden. Diese erfreuliche Thatsache, mit der sich auch die verbissene
Nörgelei und die berufsmäßige Schwarzmalerei wohl oder übel abfinden muß,
läßt sich auch durch gekünstelte und weit hergeholte Erklärungen der statistischen
Ergebnisse nicht aus der Welt schaffen, sie zeigt, was es mit der Redensart
von der Vertheuerung des Brodes seit 1879 auf sich hat.

So groß aber nun die Genugthuung ist, die jeder Vaterlandsfreund


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[0021] Die Lohren der deutschen Strafstatistik. so muß dieser bedeutende Rückgang der wichtigsten aller Verletzungen des Eigentumes in den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zuständen seine Ursache haben. Es ist nun durch die Strafstatistik schon seit langer Zeit festgestellt, daß die Bewegung der Ziffern der Diebstähle mit den Preisen der Lebensmittel, namentlich der für die Ernährung der Massen maßgebenden ursachlich zusammen- hängt. Je höher die Lebensmittelpreise, um so häufiger die Verletzungen des Eigentumes, je niedrige jene, um so seltener diese. Wenn man unter einem „Gesetz" des Gesellschaftslebens nichts weiter versteht, als den Ausdruck einer regelmäßig wiederkehrenden, jedoch durchaus nicht unabänderlichen oder unter allen Umständen notwendigen Erscheinung, so kann man es getrost als ein gesellschaftliches oder statistisches Gesetz bezeichnen, daß die Bewegung der Dieb- stähle in umgekehrtem Verhältnis zur Höhe der Lebensmittelpreise steht. Über die Richtigkeit dieses Satzes besteht eigentlich kein Streit, und es braucht in dieser Beziehung nur daran erinnert zu werden, daß bei Gelegenheit der Er¬ höhung der Getreidezölle im Reichstage wiederholt als Gegengrund angeführt wurde, die Maßregel werde eine beträchtliche Vermehrung der Diebstähle zur Folge haben. Wenn nun die Statistik seit 1882 ein stetiges Sinken der Dieb¬ stähle erkennen läßt, so muß hieraus mit Notwendigkeit geschlossen werden, daß die Lcbensmittelpreise in dieser Zeit nicht nur keine Erhöhung, sondern eine Verminderung erfahren haben, trotz der wiederholten Erhöhung der land¬ wirtschaftlichen Zölle. Der Diebstahl ist das durch die Notlage hervorgerufene Verbrechen; sein gewöhnlicher Beweggrund liegt in dem Mangel an den für die Lebensunterhaltung notwendigen Mitteln; wenn er von Jahr zu Jahr seltener verübt wird, so beweist dies, daß die Massen leichter in der Lage sind, auf erlaubtem Wege für ihren Bedarf Sorge zu tragen, als vormals. Nicht mit Unrecht hat der französische Statistiker A. Come den Satz aufgestellt, daß die Hoff¬ nungslosigkeit der Massenarmut die hauptsächliche Quelle für Laster und Ver¬ brechen sei. Wir wenden diesen Ausspruch auf die Bewegung der Diebstahls¬ ziffern im Deutschen Reiche seit 1882 unmittelbar an. Die hoffnungslose Massenarmut, die sich nur durch die strafbare Antastung des Eigentums die Unterhaltsmittel verschaffen kann, besitzt nicht mehr den Umfang, wie vor fünf Jahren, die Zustünde haben sich gebessert. Die Gesundung des deutschen Er¬ werbs- und Wirthschaftslebens hat langsame, aber stetige Fortschritte gemacht, die Unternehmungslust und die Thatkraft des deutschen Volkes hat sich reger entfaltet, und wir haben die Folgen der furchtbaren Krisis der siebziger Jahre überwunden. Diese erfreuliche Thatsache, mit der sich auch die verbissene Nörgelei und die berufsmäßige Schwarzmalerei wohl oder übel abfinden muß, läßt sich auch durch gekünstelte und weit hergeholte Erklärungen der statistischen Ergebnisse nicht aus der Welt schaffen, sie zeigt, was es mit der Redensart von der Vertheuerung des Brodes seit 1879 auf sich hat. So groß aber nun die Genugthuung ist, die jeder Vaterlandsfreund

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/21>, abgerufen am 30.06.2024.