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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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von der Nordlandfahrt bis zur Romfahr.

konnte, da war dieser Staat der Fluch aller Italiener geworden; in Belgien,
"wo die Priester so zahlreich sind wie der Sand am Meere," kann noch nicht
die Hälfte der Einwohner schreiben, d. h. ihren Namen notdürftig unterzeichnen,
und bei dieser priesterlichen Herrlichkeit pochen die Schrecken der sozialen Re¬
volution an die Thore des Staates; in dem glaubensstarken Tirol konnten von
zehntausend Kaiserjägern, die Unteroffiziere abgerechnet, im Jahre 1869 nur sechs¬
undvierzig schreiben. Wenn gegenüber solchen Zuständen, die sich überall einstellen,
wo die Kirche herrscht, die "Vossische Zeitung" sagt, daß, wofern sich auch bei
uns die Begehrlichkeit der Klerisei auf die Schule geltend machen wolle, die
Reaktion dem einmütiger Widerstände aller Parteien begegnen'werde, so hat sie
Recht. Daß aber unsre Konservativen, auch wo sie noch so orthodox sind,
schließlich doch nicht liechtensteinisch klerikal sind, wird sich dann zeigen, wenn
die Bestrebungen Limbach-Liechtenstein auch auf unsern Boden durch antipreußische
Römlinge verpflanzt werden sollten.

Als ein Zeichen der Stimmung unter den geistigen Kapacitäten in unserm
Vaterlande kann die Wahl Gerhardts zum Rektor der Berliner Universität
angesehen werden. Sie erfolgte auf Initiative der nicht medizinischen Fakul¬
täten, um ihm in dieser Form eine Art Anerkennung für seine Haltung wäh¬
rend der Krankheit Kaiser Friedrichs auszusprechen. Von den Freisinnigen
war Virchows Wahl erwartet worden; als sie sich darin getäuscht sahen, fanden
sie, "daß die Berliner Professoren sich heute freiwillig des Rechts begeben, eine
eigne politische Meinung zu haben oder zu vertreten." Das erinnert uns wieder
einmal an den Vertrauensarzt des Kaisers und der Kaiserin Friedrich. Wer
es noch nicht wüßte, daß dieser Vertrauensmann kein Vertrauen verdient hat,
der würde es ans seinem Buche gegen die deutschen Arzte erkennen, diesem
frechsten Pamphlet des Jahrhunderts, dem jetzt sogar Virchow mit seiner Namens¬
unterschrift seine .Lügen vorhält. Wie frech der Pamphletist ist, kann man
auch aus einem jedenfalls apokryphen Briefe der Kaiserin Friedrich ersehen, den
diese an ihn, Sir Morett Mackenzie, geschrieben haben soll und von dem die v-ni^
Usvs einen Auszug veröffentlicht. Der Brief läßt die Kaiserin ihm, Sir
Morett, alles das vortragen, was er, Sir Morett, Wohl wünschen mag, ihr
bei seiner ersten Begegnung gesagt zu haben. An die Echtheit des Briefes
der Kaiserin Friedrich könnte man erst dann glauben, wenn es sich bestätigen
sollte, daß das englische Manuskript oder die Druckbogen der Broschüre Macken-
zies von der Kaiserin durchgelesen worden seien, wie die öffentlichen Blätter
berichten.

Da wir einmal bei apokryphen Machwerken stehen, so mag hier auch noch
ein andres apokryphes Aktenstück erwähnt werden, nämlich der Geheimbericht,
den Bismarck in der Battenberger Heiratsgeschichte an den Kaiser Friedrich
gerichtet haben sollte und der in der Muvellö R<zvus durch die bekannte Madame
Adam veröffentlicht wurde. Auch hier dachten viele an litterarische Beziehungen


von der Nordlandfahrt bis zur Romfahr.

konnte, da war dieser Staat der Fluch aller Italiener geworden; in Belgien,
„wo die Priester so zahlreich sind wie der Sand am Meere," kann noch nicht
die Hälfte der Einwohner schreiben, d. h. ihren Namen notdürftig unterzeichnen,
und bei dieser priesterlichen Herrlichkeit pochen die Schrecken der sozialen Re¬
volution an die Thore des Staates; in dem glaubensstarken Tirol konnten von
zehntausend Kaiserjägern, die Unteroffiziere abgerechnet, im Jahre 1869 nur sechs¬
undvierzig schreiben. Wenn gegenüber solchen Zuständen, die sich überall einstellen,
wo die Kirche herrscht, die „Vossische Zeitung" sagt, daß, wofern sich auch bei
uns die Begehrlichkeit der Klerisei auf die Schule geltend machen wolle, die
Reaktion dem einmütiger Widerstände aller Parteien begegnen'werde, so hat sie
Recht. Daß aber unsre Konservativen, auch wo sie noch so orthodox sind,
schließlich doch nicht liechtensteinisch klerikal sind, wird sich dann zeigen, wenn
die Bestrebungen Limbach-Liechtenstein auch auf unsern Boden durch antipreußische
Römlinge verpflanzt werden sollten.

Als ein Zeichen der Stimmung unter den geistigen Kapacitäten in unserm
Vaterlande kann die Wahl Gerhardts zum Rektor der Berliner Universität
angesehen werden. Sie erfolgte auf Initiative der nicht medizinischen Fakul¬
täten, um ihm in dieser Form eine Art Anerkennung für seine Haltung wäh¬
rend der Krankheit Kaiser Friedrichs auszusprechen. Von den Freisinnigen
war Virchows Wahl erwartet worden; als sie sich darin getäuscht sahen, fanden
sie, „daß die Berliner Professoren sich heute freiwillig des Rechts begeben, eine
eigne politische Meinung zu haben oder zu vertreten." Das erinnert uns wieder
einmal an den Vertrauensarzt des Kaisers und der Kaiserin Friedrich. Wer
es noch nicht wüßte, daß dieser Vertrauensmann kein Vertrauen verdient hat,
der würde es ans seinem Buche gegen die deutschen Arzte erkennen, diesem
frechsten Pamphlet des Jahrhunderts, dem jetzt sogar Virchow mit seiner Namens¬
unterschrift seine .Lügen vorhält. Wie frech der Pamphletist ist, kann man
auch aus einem jedenfalls apokryphen Briefe der Kaiserin Friedrich ersehen, den
diese an ihn, Sir Morett Mackenzie, geschrieben haben soll und von dem die v-ni^
Usvs einen Auszug veröffentlicht. Der Brief läßt die Kaiserin ihm, Sir
Morett, alles das vortragen, was er, Sir Morett, Wohl wünschen mag, ihr
bei seiner ersten Begegnung gesagt zu haben. An die Echtheit des Briefes
der Kaiserin Friedrich könnte man erst dann glauben, wenn es sich bestätigen
sollte, daß das englische Manuskript oder die Druckbogen der Broschüre Macken-
zies von der Kaiserin durchgelesen worden seien, wie die öffentlichen Blätter
berichten.

Da wir einmal bei apokryphen Machwerken stehen, so mag hier auch noch
ein andres apokryphes Aktenstück erwähnt werden, nämlich der Geheimbericht,
den Bismarck in der Battenberger Heiratsgeschichte an den Kaiser Friedrich
gerichtet haben sollte und der in der Muvellö R<zvus durch die bekannte Madame
Adam veröffentlicht wurde. Auch hier dachten viele an litterarische Beziehungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/204>, abgerufen am 26.06.2024.