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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Unterr und Technik.

in .allen Blütenzeiten der Künste herrschte sogar gleichzeitig große sittliche Ver¬
derbtheit; und er weist nach, daß die ästhetische Gemütsstimmung, um mit
Grillparzer zu sprechen, eine Art von Jdeenegoismus erzeugt, der sittlich in¬
different macht. Allein es besteht dennoch ein Unterschied zwischen der Gleich-
giltigkeit des Künstlers und der des Gelehrten. "Dieser Unterschied in dem Ein¬
drucke, den der Gelehrte und den der Künstler auf uns macht, hat seine Begrün¬
dung darin, daß beim Gelehrten (oder Erfinder) kein Widerspruch zwischen dem
Gegenstande seiner theoretischen Beschäftigung mit seinem praktischen Verhalten vor¬
handen ist, insofern jener ja ganz außerhalb aller sozialen Jntereffenkämpfe
liegt; aber beim Künstler oder beim bloßen Liebhaber der Kunst sehen wir eine
immerwährende Beschäftigung mit den Vorgängen sozialer Natur und zwar mit
dem Anscheine größter Empfindung, aber ohne daß je zu wirklichen Beweisen
des Ernstes dieser Empfindung im privaten oder öffentlichen Leben geschritten wird,
und das erweckt dann den Eindruck der lieblosen Beschäftigung mit diesen Dingen,
also einer eigentümlich feinen Gattung von Heuchelei." Wenn demnach eine positive
Förderung der Sittlichkeit den technischen Fortschritten so wenig als den andern
Künsten zuerkannt werden kann, so kann man höchst wichtige negative Vorzüge
an ihnen feststellen, die nämlich, daß sie ebenso wie die exakten, d. h. der mathe¬
matischen BeHandlungsweise zugänglichen Wissenschaften unter allen "ästhetischen
Äquivalenzen" vielleicht am wenigsten die Naivität der menschlichen Natur
verderben. Mehr als alle andern Künste und Wissenschaften gewöhnen sie den
Menschen an die Wahrheit.

Am ausführlichsten und lehrreichsten hält sich Popper bei der Untersuchung
des Einflusses auf, den die technischen Fortschritte auf das Physische Wohl der
Menschheit gewonnen haben. Doch hierüber wollen wir uns mit kurzen An¬
deutungen begnügen. In der Chirurgie, meint Popper, hätten die technischen
Fortschritte wohl große Dienste geleistet. Wenn man aber frage, ob die
Menschen körperlich weniger arbeiten müßten als früher, so müsse man sagen:
Ganz im Gegenteil, mit den Maschinen hat sich die menschliche Arbeit grenzen¬
los vermehrt. Sie haben den Menschen nicht etwa von der Arbeit entlastet,
sondern sie haben selbst neue Bedürfnisse geschaffen, Konkurrenz und Luxus tragen
uur dazu bei, diese zu vermehren, und die erreichten Ergebnisse stehen in gar
keinem Verhältnis zu der aufgewendeten physischen und geistigen Arbeit. Und
von der größten Wichtigkeit ist es, daß diese Mehrarbeit, welche die technischen
Fortschritte hervorgerufen haben, keine solche ist, die für die Erfüllung der ersten
Grundbedingung aller Jndividualitätskultur, nämlich Sicherung des leiblichen
Daseins der Menschen, notwendig ist. Gerade für Beschaffung von Nahrung
und Bekleidung gelangen die technischen Errungenschaften am wenigsten zur An¬
wendung. Für Landwirtschaft, Mutterei, Bäckerei, Fleischerei, für Herstellung
von Wäsche und Bekleidung werden die Leistungen der Technik, von einzelnen
Ausnahmen abgesehen, fast gar nicht in Anspruch genommen^ und man findet


Unterr und Technik.

in .allen Blütenzeiten der Künste herrschte sogar gleichzeitig große sittliche Ver¬
derbtheit; und er weist nach, daß die ästhetische Gemütsstimmung, um mit
Grillparzer zu sprechen, eine Art von Jdeenegoismus erzeugt, der sittlich in¬
different macht. Allein es besteht dennoch ein Unterschied zwischen der Gleich-
giltigkeit des Künstlers und der des Gelehrten. „Dieser Unterschied in dem Ein¬
drucke, den der Gelehrte und den der Künstler auf uns macht, hat seine Begrün¬
dung darin, daß beim Gelehrten (oder Erfinder) kein Widerspruch zwischen dem
Gegenstande seiner theoretischen Beschäftigung mit seinem praktischen Verhalten vor¬
handen ist, insofern jener ja ganz außerhalb aller sozialen Jntereffenkämpfe
liegt; aber beim Künstler oder beim bloßen Liebhaber der Kunst sehen wir eine
immerwährende Beschäftigung mit den Vorgängen sozialer Natur und zwar mit
dem Anscheine größter Empfindung, aber ohne daß je zu wirklichen Beweisen
des Ernstes dieser Empfindung im privaten oder öffentlichen Leben geschritten wird,
und das erweckt dann den Eindruck der lieblosen Beschäftigung mit diesen Dingen,
also einer eigentümlich feinen Gattung von Heuchelei." Wenn demnach eine positive
Förderung der Sittlichkeit den technischen Fortschritten so wenig als den andern
Künsten zuerkannt werden kann, so kann man höchst wichtige negative Vorzüge
an ihnen feststellen, die nämlich, daß sie ebenso wie die exakten, d. h. der mathe¬
matischen BeHandlungsweise zugänglichen Wissenschaften unter allen „ästhetischen
Äquivalenzen" vielleicht am wenigsten die Naivität der menschlichen Natur
verderben. Mehr als alle andern Künste und Wissenschaften gewöhnen sie den
Menschen an die Wahrheit.

Am ausführlichsten und lehrreichsten hält sich Popper bei der Untersuchung
des Einflusses auf, den die technischen Fortschritte auf das Physische Wohl der
Menschheit gewonnen haben. Doch hierüber wollen wir uns mit kurzen An¬
deutungen begnügen. In der Chirurgie, meint Popper, hätten die technischen
Fortschritte wohl große Dienste geleistet. Wenn man aber frage, ob die
Menschen körperlich weniger arbeiten müßten als früher, so müsse man sagen:
Ganz im Gegenteil, mit den Maschinen hat sich die menschliche Arbeit grenzen¬
los vermehrt. Sie haben den Menschen nicht etwa von der Arbeit entlastet,
sondern sie haben selbst neue Bedürfnisse geschaffen, Konkurrenz und Luxus tragen
uur dazu bei, diese zu vermehren, und die erreichten Ergebnisse stehen in gar
keinem Verhältnis zu der aufgewendeten physischen und geistigen Arbeit. Und
von der größten Wichtigkeit ist es, daß diese Mehrarbeit, welche die technischen
Fortschritte hervorgerufen haben, keine solche ist, die für die Erfüllung der ersten
Grundbedingung aller Jndividualitätskultur, nämlich Sicherung des leiblichen
Daseins der Menschen, notwendig ist. Gerade für Beschaffung von Nahrung
und Bekleidung gelangen die technischen Errungenschaften am wenigsten zur An¬
wendung. Für Landwirtschaft, Mutterei, Bäckerei, Fleischerei, für Herstellung
von Wäsche und Bekleidung werden die Leistungen der Technik, von einzelnen
Ausnahmen abgesehen, fast gar nicht in Anspruch genommen^ und man findet


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/179>, abgerufen am 01.07.2024.