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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Erkennens.

der menschliche Verstand eindringen und thut es von Tag zu Tage mehr; hier
schaut der forschende Geist, wie auf eine siegreich durchmessene Bahn zurück, so auf
ein großes, weites Feld der Ehren ruhig und mit Zuversicht vorwärts. "In Bezug
auf das Rätsel aber, sagt Dubois-Reymond, was Materie und Kraft seien,
und wie sie zu denken vermögen (also wie Bewußtsein möglich ist), muß er
ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrsprüche sich entschlie¬
ßen: IZnor-Minus"! Dagegen hat der Naturforscher, je bereitwilliger er die
Grenzen seines Forschungsgebietes anerkennt, ein unbedingtes Recht, innerhalb
derselben die ficht- und greifbare Welt nach allen Seiten hin mit allen Vor¬
gängen in ihr zu erforschen, unbehindert durch Mythen und Dogmen. Wenn
der naturwissenschaftliche Forscher mit Dubois-Reymond sagen muß: "Das
mosaische Es ward Licht ist physiologisch falsch. Licht ward erst, als der erste
rote Augenpunkt eines Infusoriums zum erstenmale hell und dunkel unter¬
schied," so kann dem gegenüber die Theologie sich nicht auf die höhere Instanz
ihres Dogmas von der Schöpfung und der notwendigen Echtheit des biblischen
Berichtes darüber berufen, und wenn die Theologie ihr eignes Bestes versteht,
so läßt sie solche Dinge, die für die Wissenschaft außer allem Streite liegen,
auch für sich keine Notwendigkeit sein. Sie kann dabei nur schlecht fahren. Da¬
gegen hat sie ein gutes Recht, wie auf die Grenzen des menschlichen Wissens
überhaupt, so auf die des naturwissenschaftlichen insbesondre hinzuweisen.

Auch die Philosophie, soweit sie sich mit der Welt der sittlichen Werte
beschäftigt, muß auf diese Grenzen des Naturerkennens hinweisen. Denn mit
Erkenntnis davon ist die Wissenschaft zu einem sehr wichtigen Ergebnisse ge¬
langt. Wenn die mechanische Weltanschauung Halt machen muß vor den Be¬
griffen von Materie und Kraft, Empfindung und Bewußtsein, so sind die sitt¬
lichen Begriffe, die Ideen, auch nur durch sittliche Instanzen zu entscheiden.
Dahin gehört zuerst die Idee der Freiheit, die freie Entscheidung des Willens.
Kant setzte diese, wie bekannt, unter die Antinomien, d. h. unter die Begriffe,
für deren Wahrheit man ebensogut Beweise aufstellen kann, wie für ihr Ge¬
genteil. Der Wille ist frei, oder er ist unfrei, determinirt -- die beiden Sätze
haben nach Kant wissenschaftlich ganz gleichwertige Bedeutung. Dem ist, sobald
die Grenzen des Naturerkennens feststehen, doch nicht so. Freilich, wer auf
Vogt-Büchnerschcm Standpunkte steht -- ich nenne die Namen, die in den fünf¬
ziger Jahren, wie Dubois-Reymond sagt, "zu einer Art von Tournier um die
Seele" Anlaß gaben und Rufer in einem Streite waren, der noch fortdauert --
also, wer auf diesem Standpunkte steht, der kann nicht anders, er muß alle
Willensfreiheit leugnen; sie ist ihm ein Unding. Vorstellen wie Begehren, Denken
wie Wollen hängen allein ab von der Lage und Bewegung der Gehirnatome.
Folgerichtig ist es dann nur -- und die Entschiedener besonders unter den
Laien thaten so -- mit der Freiheit auch die Verantwortlichkeit zu leugnen,
die Strafe für unberechtigt zu erklären, die Gefängnisse und Zuchthäuser auf-


Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Erkennens.

der menschliche Verstand eindringen und thut es von Tag zu Tage mehr; hier
schaut der forschende Geist, wie auf eine siegreich durchmessene Bahn zurück, so auf
ein großes, weites Feld der Ehren ruhig und mit Zuversicht vorwärts. „In Bezug
auf das Rätsel aber, sagt Dubois-Reymond, was Materie und Kraft seien,
und wie sie zu denken vermögen (also wie Bewußtsein möglich ist), muß er
ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrsprüche sich entschlie¬
ßen: IZnor-Minus"! Dagegen hat der Naturforscher, je bereitwilliger er die
Grenzen seines Forschungsgebietes anerkennt, ein unbedingtes Recht, innerhalb
derselben die ficht- und greifbare Welt nach allen Seiten hin mit allen Vor¬
gängen in ihr zu erforschen, unbehindert durch Mythen und Dogmen. Wenn
der naturwissenschaftliche Forscher mit Dubois-Reymond sagen muß: „Das
mosaische Es ward Licht ist physiologisch falsch. Licht ward erst, als der erste
rote Augenpunkt eines Infusoriums zum erstenmale hell und dunkel unter¬
schied," so kann dem gegenüber die Theologie sich nicht auf die höhere Instanz
ihres Dogmas von der Schöpfung und der notwendigen Echtheit des biblischen
Berichtes darüber berufen, und wenn die Theologie ihr eignes Bestes versteht,
so läßt sie solche Dinge, die für die Wissenschaft außer allem Streite liegen,
auch für sich keine Notwendigkeit sein. Sie kann dabei nur schlecht fahren. Da¬
gegen hat sie ein gutes Recht, wie auf die Grenzen des menschlichen Wissens
überhaupt, so auf die des naturwissenschaftlichen insbesondre hinzuweisen.

Auch die Philosophie, soweit sie sich mit der Welt der sittlichen Werte
beschäftigt, muß auf diese Grenzen des Naturerkennens hinweisen. Denn mit
Erkenntnis davon ist die Wissenschaft zu einem sehr wichtigen Ergebnisse ge¬
langt. Wenn die mechanische Weltanschauung Halt machen muß vor den Be¬
griffen von Materie und Kraft, Empfindung und Bewußtsein, so sind die sitt¬
lichen Begriffe, die Ideen, auch nur durch sittliche Instanzen zu entscheiden.
Dahin gehört zuerst die Idee der Freiheit, die freie Entscheidung des Willens.
Kant setzte diese, wie bekannt, unter die Antinomien, d. h. unter die Begriffe,
für deren Wahrheit man ebensogut Beweise aufstellen kann, wie für ihr Ge¬
genteil. Der Wille ist frei, oder er ist unfrei, determinirt — die beiden Sätze
haben nach Kant wissenschaftlich ganz gleichwertige Bedeutung. Dem ist, sobald
die Grenzen des Naturerkennens feststehen, doch nicht so. Freilich, wer auf
Vogt-Büchnerschcm Standpunkte steht — ich nenne die Namen, die in den fünf¬
ziger Jahren, wie Dubois-Reymond sagt, „zu einer Art von Tournier um die
Seele" Anlaß gaben und Rufer in einem Streite waren, der noch fortdauert —
also, wer auf diesem Standpunkte steht, der kann nicht anders, er muß alle
Willensfreiheit leugnen; sie ist ihm ein Unding. Vorstellen wie Begehren, Denken
wie Wollen hängen allein ab von der Lage und Bewegung der Gehirnatome.
Folgerichtig ist es dann nur — und die Entschiedener besonders unter den
Laien thaten so — mit der Freiheit auch die Verantwortlichkeit zu leugnen,
die Strafe für unberechtigt zu erklären, die Gefängnisse und Zuchthäuser auf-


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[0166] Die Grenzen des naturwissenschaftlichen Erkennens. der menschliche Verstand eindringen und thut es von Tag zu Tage mehr; hier schaut der forschende Geist, wie auf eine siegreich durchmessene Bahn zurück, so auf ein großes, weites Feld der Ehren ruhig und mit Zuversicht vorwärts. „In Bezug auf das Rätsel aber, sagt Dubois-Reymond, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen (also wie Bewußtsein möglich ist), muß er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrsprüche sich entschlie¬ ßen: IZnor-Minus"! Dagegen hat der Naturforscher, je bereitwilliger er die Grenzen seines Forschungsgebietes anerkennt, ein unbedingtes Recht, innerhalb derselben die ficht- und greifbare Welt nach allen Seiten hin mit allen Vor¬ gängen in ihr zu erforschen, unbehindert durch Mythen und Dogmen. Wenn der naturwissenschaftliche Forscher mit Dubois-Reymond sagen muß: „Das mosaische Es ward Licht ist physiologisch falsch. Licht ward erst, als der erste rote Augenpunkt eines Infusoriums zum erstenmale hell und dunkel unter¬ schied," so kann dem gegenüber die Theologie sich nicht auf die höhere Instanz ihres Dogmas von der Schöpfung und der notwendigen Echtheit des biblischen Berichtes darüber berufen, und wenn die Theologie ihr eignes Bestes versteht, so läßt sie solche Dinge, die für die Wissenschaft außer allem Streite liegen, auch für sich keine Notwendigkeit sein. Sie kann dabei nur schlecht fahren. Da¬ gegen hat sie ein gutes Recht, wie auf die Grenzen des menschlichen Wissens überhaupt, so auf die des naturwissenschaftlichen insbesondre hinzuweisen. Auch die Philosophie, soweit sie sich mit der Welt der sittlichen Werte beschäftigt, muß auf diese Grenzen des Naturerkennens hinweisen. Denn mit Erkenntnis davon ist die Wissenschaft zu einem sehr wichtigen Ergebnisse ge¬ langt. Wenn die mechanische Weltanschauung Halt machen muß vor den Be¬ griffen von Materie und Kraft, Empfindung und Bewußtsein, so sind die sitt¬ lichen Begriffe, die Ideen, auch nur durch sittliche Instanzen zu entscheiden. Dahin gehört zuerst die Idee der Freiheit, die freie Entscheidung des Willens. Kant setzte diese, wie bekannt, unter die Antinomien, d. h. unter die Begriffe, für deren Wahrheit man ebensogut Beweise aufstellen kann, wie für ihr Ge¬ genteil. Der Wille ist frei, oder er ist unfrei, determinirt — die beiden Sätze haben nach Kant wissenschaftlich ganz gleichwertige Bedeutung. Dem ist, sobald die Grenzen des Naturerkennens feststehen, doch nicht so. Freilich, wer auf Vogt-Büchnerschcm Standpunkte steht — ich nenne die Namen, die in den fünf¬ ziger Jahren, wie Dubois-Reymond sagt, „zu einer Art von Tournier um die Seele" Anlaß gaben und Rufer in einem Streite waren, der noch fortdauert — also, wer auf diesem Standpunkte steht, der kann nicht anders, er muß alle Willensfreiheit leugnen; sie ist ihm ein Unding. Vorstellen wie Begehren, Denken wie Wollen hängen allein ab von der Lage und Bewegung der Gehirnatome. Folgerichtig ist es dann nur — und die Entschiedener besonders unter den Laien thaten so — mit der Freiheit auch die Verantwortlichkeit zu leugnen, die Strafe für unberechtigt zu erklären, die Gefängnisse und Zuchthäuser auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/166>, abgerufen am 24.08.2024.