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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Volk und Nation.

liebe Grundlegung Ausdrücke wie Stamm, Volk, Völkerschaft u. dergl. ver¬
wenden müssen. Sie thun am besten, sich mit Bemühungen, den wissenschaft¬
lichen Sprachgebrauch, sei es nun im allgemeinen oder den eines besondern
Wissenszweiges der gemeinen Sprachweise anzupassen, nicht allzusehr zu quälen.
Solche Bemühungen werden sich selten durch entsprechenden Erfolg belohnt
sehen. Das Element der allgemeinen Sprache ist viel zu unstet und schwankend.
Wo eine Wissenschaft sich der sorgfältigen und immer währenden Berücksichtigung
desselben nicht entziehen kann, da hat sie selber Mühe, den streng wissenschaft¬
lichen Charakter zu bewahren. Das Beispiel der Politik legt hierfür Zeugnis
ab. Eine wissenschaftliche Behandlung derselben, die sich nicht im Nebel einer
unfruchtbaren Abstraktion verlieren soll, muß sich eng an das bewegte Volks¬
und Staatsleben anschließen. Damit ist ihr aber auch die Notwendigkeit auf¬
erlegt, die thatsächlich vorhandenen Begriffsbildungen und den sich daraus er¬
gebenden Wortgebrauch sorgfältig zu berücksichtigen und in die eigne Gedanken¬
bearbeitung aufzunehmen. Ein politischer Schriftsteller möchte immerhin der
Ansicht sein, daß der Name Volk mit Fug nur der Gesamtheit der Deutschen
zukomme, er hätte sich im Jahre 1848 doch nicht anders ausdrücken können,
als wie es Prinz Albert von England in einer Denkschrift vom 28. März des
genannten Jahres that, indem er schrieb: "Wir haben in Deutschland individuell
verschiedene Völker, in sich vollkommene Staaten."

Die Sprache der praktischen Politik bewahrt naturnotwendig immer eine
starke Beimischung von Subjektivität. Der Gebrauch oder Nichtgebrauch eines
bestimmten Wortes kann oft fast einem politischen Glaubensbekenntnisse gleich¬
kommen. Das Wort Nation wird schwerlich über welfische oder ultramontane
Lippen kommen, wenn es sich um Deutschland oder Italien handelt. Man
könnte ja darin ein Zugeständnis erblicken zu Gunsten des Nationalitätsprinzipes.
Sogar ganz falsche Bezeichnungen behält die politische Sprache mit dem vollen
Bewußtsein der Unrichtigkeit bei, wo diese etwa Parteizwecken dienen, also einer
subjektiven Absicht, die über das objektive Sprach- und Denkgesetz triumphirt.
Wie viele haben leidenschaftlich für die Selbständigkeit der deutschen Stämme --
der Württemberger und Nassauer -- gesprochen, die vielleicht Bescheid wußten
um alle siebenundzwanzig Herrschaften, aus deren einstigen Besitze Land und
Volk des in Wiesbaden regierenden Herzogs "stammte!" Auch die hyper¬
bolischer Neigungen der Nhethorik behaupten in der Politik ihr Recht und
machen sich im Gebrauche der Benennungen Volk und Nation geltend. Dem
patriotischen Österreicher bleibt es unbenommen, unter den "Völkern" des Kaiser-
staates die Slovaken aufzuzählen, ohne daß dem Rechte der Wissenschaft damit
zu nahe getreten wäre, zwischen Volk und Völkerschaft zu unterscheiden. Wir
Deutschen mögen uns freuen, daß das allgemeine Bewußtsein und die strengste
Wissenschaft darin übereinstimmen, in einer tausendjährigen Geschichte auch unter
den schwersten Leiden und Drangsalen doch die ununterbrochene Entwicklung


Volk und Nation.

liebe Grundlegung Ausdrücke wie Stamm, Volk, Völkerschaft u. dergl. ver¬
wenden müssen. Sie thun am besten, sich mit Bemühungen, den wissenschaft¬
lichen Sprachgebrauch, sei es nun im allgemeinen oder den eines besondern
Wissenszweiges der gemeinen Sprachweise anzupassen, nicht allzusehr zu quälen.
Solche Bemühungen werden sich selten durch entsprechenden Erfolg belohnt
sehen. Das Element der allgemeinen Sprache ist viel zu unstet und schwankend.
Wo eine Wissenschaft sich der sorgfältigen und immer währenden Berücksichtigung
desselben nicht entziehen kann, da hat sie selber Mühe, den streng wissenschaft¬
lichen Charakter zu bewahren. Das Beispiel der Politik legt hierfür Zeugnis
ab. Eine wissenschaftliche Behandlung derselben, die sich nicht im Nebel einer
unfruchtbaren Abstraktion verlieren soll, muß sich eng an das bewegte Volks¬
und Staatsleben anschließen. Damit ist ihr aber auch die Notwendigkeit auf¬
erlegt, die thatsächlich vorhandenen Begriffsbildungen und den sich daraus er¬
gebenden Wortgebrauch sorgfältig zu berücksichtigen und in die eigne Gedanken¬
bearbeitung aufzunehmen. Ein politischer Schriftsteller möchte immerhin der
Ansicht sein, daß der Name Volk mit Fug nur der Gesamtheit der Deutschen
zukomme, er hätte sich im Jahre 1848 doch nicht anders ausdrücken können,
als wie es Prinz Albert von England in einer Denkschrift vom 28. März des
genannten Jahres that, indem er schrieb: „Wir haben in Deutschland individuell
verschiedene Völker, in sich vollkommene Staaten."

Die Sprache der praktischen Politik bewahrt naturnotwendig immer eine
starke Beimischung von Subjektivität. Der Gebrauch oder Nichtgebrauch eines
bestimmten Wortes kann oft fast einem politischen Glaubensbekenntnisse gleich¬
kommen. Das Wort Nation wird schwerlich über welfische oder ultramontane
Lippen kommen, wenn es sich um Deutschland oder Italien handelt. Man
könnte ja darin ein Zugeständnis erblicken zu Gunsten des Nationalitätsprinzipes.
Sogar ganz falsche Bezeichnungen behält die politische Sprache mit dem vollen
Bewußtsein der Unrichtigkeit bei, wo diese etwa Parteizwecken dienen, also einer
subjektiven Absicht, die über das objektive Sprach- und Denkgesetz triumphirt.
Wie viele haben leidenschaftlich für die Selbständigkeit der deutschen Stämme —
der Württemberger und Nassauer — gesprochen, die vielleicht Bescheid wußten
um alle siebenundzwanzig Herrschaften, aus deren einstigen Besitze Land und
Volk des in Wiesbaden regierenden Herzogs „stammte!" Auch die hyper¬
bolischer Neigungen der Nhethorik behaupten in der Politik ihr Recht und
machen sich im Gebrauche der Benennungen Volk und Nation geltend. Dem
patriotischen Österreicher bleibt es unbenommen, unter den „Völkern" des Kaiser-
staates die Slovaken aufzuzählen, ohne daß dem Rechte der Wissenschaft damit
zu nahe getreten wäre, zwischen Volk und Völkerschaft zu unterscheiden. Wir
Deutschen mögen uns freuen, daß das allgemeine Bewußtsein und die strengste
Wissenschaft darin übereinstimmen, in einer tausendjährigen Geschichte auch unter
den schwersten Leiden und Drangsalen doch die ununterbrochene Entwicklung


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[0158] Volk und Nation. liebe Grundlegung Ausdrücke wie Stamm, Volk, Völkerschaft u. dergl. ver¬ wenden müssen. Sie thun am besten, sich mit Bemühungen, den wissenschaft¬ lichen Sprachgebrauch, sei es nun im allgemeinen oder den eines besondern Wissenszweiges der gemeinen Sprachweise anzupassen, nicht allzusehr zu quälen. Solche Bemühungen werden sich selten durch entsprechenden Erfolg belohnt sehen. Das Element der allgemeinen Sprache ist viel zu unstet und schwankend. Wo eine Wissenschaft sich der sorgfältigen und immer währenden Berücksichtigung desselben nicht entziehen kann, da hat sie selber Mühe, den streng wissenschaft¬ lichen Charakter zu bewahren. Das Beispiel der Politik legt hierfür Zeugnis ab. Eine wissenschaftliche Behandlung derselben, die sich nicht im Nebel einer unfruchtbaren Abstraktion verlieren soll, muß sich eng an das bewegte Volks¬ und Staatsleben anschließen. Damit ist ihr aber auch die Notwendigkeit auf¬ erlegt, die thatsächlich vorhandenen Begriffsbildungen und den sich daraus er¬ gebenden Wortgebrauch sorgfältig zu berücksichtigen und in die eigne Gedanken¬ bearbeitung aufzunehmen. Ein politischer Schriftsteller möchte immerhin der Ansicht sein, daß der Name Volk mit Fug nur der Gesamtheit der Deutschen zukomme, er hätte sich im Jahre 1848 doch nicht anders ausdrücken können, als wie es Prinz Albert von England in einer Denkschrift vom 28. März des genannten Jahres that, indem er schrieb: „Wir haben in Deutschland individuell verschiedene Völker, in sich vollkommene Staaten." Die Sprache der praktischen Politik bewahrt naturnotwendig immer eine starke Beimischung von Subjektivität. Der Gebrauch oder Nichtgebrauch eines bestimmten Wortes kann oft fast einem politischen Glaubensbekenntnisse gleich¬ kommen. Das Wort Nation wird schwerlich über welfische oder ultramontane Lippen kommen, wenn es sich um Deutschland oder Italien handelt. Man könnte ja darin ein Zugeständnis erblicken zu Gunsten des Nationalitätsprinzipes. Sogar ganz falsche Bezeichnungen behält die politische Sprache mit dem vollen Bewußtsein der Unrichtigkeit bei, wo diese etwa Parteizwecken dienen, also einer subjektiven Absicht, die über das objektive Sprach- und Denkgesetz triumphirt. Wie viele haben leidenschaftlich für die Selbständigkeit der deutschen Stämme — der Württemberger und Nassauer — gesprochen, die vielleicht Bescheid wußten um alle siebenundzwanzig Herrschaften, aus deren einstigen Besitze Land und Volk des in Wiesbaden regierenden Herzogs „stammte!" Auch die hyper¬ bolischer Neigungen der Nhethorik behaupten in der Politik ihr Recht und machen sich im Gebrauche der Benennungen Volk und Nation geltend. Dem patriotischen Österreicher bleibt es unbenommen, unter den „Völkern" des Kaiser- staates die Slovaken aufzuzählen, ohne daß dem Rechte der Wissenschaft damit zu nahe getreten wäre, zwischen Volk und Völkerschaft zu unterscheiden. Wir Deutschen mögen uns freuen, daß das allgemeine Bewußtsein und die strengste Wissenschaft darin übereinstimmen, in einer tausendjährigen Geschichte auch unter den schwersten Leiden und Drangsalen doch die ununterbrochene Entwicklung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/158>, abgerufen am 30.06.2024.