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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und Schopenhauer.

schauen: dem wahren Künstler, dem Andächtigen, dem Mitleidigen. An ihnen
bewährt es sich: Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott
schauen. Nun ist aber das höchste dieser Urbilder die Idee der Menschheit,
oder sagen wir besser die Idee der vernünftigen Wesen, alle andern sind ihr
untergeordnet und so abhängig von ihr, daß, wenn die Menschheit unterginge,
alle andern Naturreiche nachfolgen müßten, wie der Mystiker Angelus Silesius
in seiner unheimlichen Überschwenglichkeit selbst Gott vom Menschen abhängig
macht:


Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben:
Werd ich zu nicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.

Erwägt man ferner, daß Schopenhauer jeder Offenbarung des UrWesens das
volle, ganze und ewige Sein zuschreibt, so steht nichts im Wege, seine Idee
der vernünftigen Wesen mit der Gottheit gleichzusetzen, der die Gestaltung,
Erhaltung und Leitung der Menschheit und damit die Herrschaft über die sicht¬
bare Welt zufiele. Diese Gottheit wäre nicht verantwortlich für die Sünde
und die Not der Welt, sie wäre darüber erhaben und stellte dem blinden Willen
zum Leben das Ideal der Vernunftwesen entgegen. So zöge sie den strauchelnden
und leidenden Menschen von der Welt ab und zu sich hinan. Damit wäre
aber auch der Pessimismus vernichtet, denn in der erziehenden Thätigkeit der
Gottheit läge die Bürgschaft für eine allmähliche Vervollkommnung der Welt.

Schopenhauer ist nicht bis zur Gottesidee vorgedrungen, es erging ihm
vielmehr wie meist den Dogmatikern: er sprach den Grundgedanken aus und
lehnte die Folgerungen ab. Aber demungeachtet ist seine Philosophie ein ge¬
waltiger Bau, der immer von neuem Anlaß zu ernsten Forschungen geben
wird, und dies um so mehr, als der Unterbau auf dem Boden einer außer¬
ordentlich scharfen Kritik steht, die das für wahr erkannte ohne Zögern und
ohne Vorbehalt ausspricht.

Nach mehr als zweijähriger angestrengter Arbeit war das große Werk
vollendet, noch vor dem Ende des Jahres 1818 konnte es veröffentlicht werden.
Schopenhauer wartete die letzten Aushängebogen nicht ab, er eilte nach Italien, um
sich zu erholen. In Neapel erhielt er (März 1819) einen Brief von seiner
Schwester Adele. "Nun laß uns von Deinem Werke reden," schreibt sie.
"Goethe empfing es mit großer Freude, zerschnitt gleich das ganze dicke Buch
in zwei Teile und fing augenblicklich an, darin zu lesen. Nach einer Stunde
sandte er mir beiliegenden Zettel und ließ sagen: er danke Dir sehr und glaube,
daß das ganze Buch gut sei. Weil er immer das Glück habe, in Büchern
die bedeutendsten Stellen aufzuschlagen, so habe er denn die bezeichneten Seiten
(S. 320 u. 21, S. 440 u. 41) gelesen und große Freude daran gehabt. Wenige
Tage darauf sagte mir Ottilie, der Vater sitze über dem Buche und lese es
mit einem Eifer, wie sie noch nie an ihm gesehen. Er äußerte gegen sie: auf
ein ganzes Jahr habe er nun eine Freude; denn nun lese er es von Anfang


Goethe und Schopenhauer.

schauen: dem wahren Künstler, dem Andächtigen, dem Mitleidigen. An ihnen
bewährt es sich: Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott
schauen. Nun ist aber das höchste dieser Urbilder die Idee der Menschheit,
oder sagen wir besser die Idee der vernünftigen Wesen, alle andern sind ihr
untergeordnet und so abhängig von ihr, daß, wenn die Menschheit unterginge,
alle andern Naturreiche nachfolgen müßten, wie der Mystiker Angelus Silesius
in seiner unheimlichen Überschwenglichkeit selbst Gott vom Menschen abhängig
macht:


Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben:
Werd ich zu nicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.

Erwägt man ferner, daß Schopenhauer jeder Offenbarung des UrWesens das
volle, ganze und ewige Sein zuschreibt, so steht nichts im Wege, seine Idee
der vernünftigen Wesen mit der Gottheit gleichzusetzen, der die Gestaltung,
Erhaltung und Leitung der Menschheit und damit die Herrschaft über die sicht¬
bare Welt zufiele. Diese Gottheit wäre nicht verantwortlich für die Sünde
und die Not der Welt, sie wäre darüber erhaben und stellte dem blinden Willen
zum Leben das Ideal der Vernunftwesen entgegen. So zöge sie den strauchelnden
und leidenden Menschen von der Welt ab und zu sich hinan. Damit wäre
aber auch der Pessimismus vernichtet, denn in der erziehenden Thätigkeit der
Gottheit läge die Bürgschaft für eine allmähliche Vervollkommnung der Welt.

Schopenhauer ist nicht bis zur Gottesidee vorgedrungen, es erging ihm
vielmehr wie meist den Dogmatikern: er sprach den Grundgedanken aus und
lehnte die Folgerungen ab. Aber demungeachtet ist seine Philosophie ein ge¬
waltiger Bau, der immer von neuem Anlaß zu ernsten Forschungen geben
wird, und dies um so mehr, als der Unterbau auf dem Boden einer außer¬
ordentlich scharfen Kritik steht, die das für wahr erkannte ohne Zögern und
ohne Vorbehalt ausspricht.

Nach mehr als zweijähriger angestrengter Arbeit war das große Werk
vollendet, noch vor dem Ende des Jahres 1818 konnte es veröffentlicht werden.
Schopenhauer wartete die letzten Aushängebogen nicht ab, er eilte nach Italien, um
sich zu erholen. In Neapel erhielt er (März 1819) einen Brief von seiner
Schwester Adele. „Nun laß uns von Deinem Werke reden," schreibt sie.
„Goethe empfing es mit großer Freude, zerschnitt gleich das ganze dicke Buch
in zwei Teile und fing augenblicklich an, darin zu lesen. Nach einer Stunde
sandte er mir beiliegenden Zettel und ließ sagen: er danke Dir sehr und glaube,
daß das ganze Buch gut sei. Weil er immer das Glück habe, in Büchern
die bedeutendsten Stellen aufzuschlagen, so habe er denn die bezeichneten Seiten
(S. 320 u. 21, S. 440 u. 41) gelesen und große Freude daran gehabt. Wenige
Tage darauf sagte mir Ottilie, der Vater sitze über dem Buche und lese es
mit einem Eifer, wie sie noch nie an ihm gesehen. Er äußerte gegen sie: auf
ein ganzes Jahr habe er nun eine Freude; denn nun lese er es von Anfang


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[0132] Goethe und Schopenhauer. schauen: dem wahren Künstler, dem Andächtigen, dem Mitleidigen. An ihnen bewährt es sich: Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Nun ist aber das höchste dieser Urbilder die Idee der Menschheit, oder sagen wir besser die Idee der vernünftigen Wesen, alle andern sind ihr untergeordnet und so abhängig von ihr, daß, wenn die Menschheit unterginge, alle andern Naturreiche nachfolgen müßten, wie der Mystiker Angelus Silesius in seiner unheimlichen Überschwenglichkeit selbst Gott vom Menschen abhängig macht: Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben: Werd ich zu nicht, er muß vor Not den Geist aufgeben. Erwägt man ferner, daß Schopenhauer jeder Offenbarung des UrWesens das volle, ganze und ewige Sein zuschreibt, so steht nichts im Wege, seine Idee der vernünftigen Wesen mit der Gottheit gleichzusetzen, der die Gestaltung, Erhaltung und Leitung der Menschheit und damit die Herrschaft über die sicht¬ bare Welt zufiele. Diese Gottheit wäre nicht verantwortlich für die Sünde und die Not der Welt, sie wäre darüber erhaben und stellte dem blinden Willen zum Leben das Ideal der Vernunftwesen entgegen. So zöge sie den strauchelnden und leidenden Menschen von der Welt ab und zu sich hinan. Damit wäre aber auch der Pessimismus vernichtet, denn in der erziehenden Thätigkeit der Gottheit läge die Bürgschaft für eine allmähliche Vervollkommnung der Welt. Schopenhauer ist nicht bis zur Gottesidee vorgedrungen, es erging ihm vielmehr wie meist den Dogmatikern: er sprach den Grundgedanken aus und lehnte die Folgerungen ab. Aber demungeachtet ist seine Philosophie ein ge¬ waltiger Bau, der immer von neuem Anlaß zu ernsten Forschungen geben wird, und dies um so mehr, als der Unterbau auf dem Boden einer außer¬ ordentlich scharfen Kritik steht, die das für wahr erkannte ohne Zögern und ohne Vorbehalt ausspricht. Nach mehr als zweijähriger angestrengter Arbeit war das große Werk vollendet, noch vor dem Ende des Jahres 1818 konnte es veröffentlicht werden. Schopenhauer wartete die letzten Aushängebogen nicht ab, er eilte nach Italien, um sich zu erholen. In Neapel erhielt er (März 1819) einen Brief von seiner Schwester Adele. „Nun laß uns von Deinem Werke reden," schreibt sie. „Goethe empfing es mit großer Freude, zerschnitt gleich das ganze dicke Buch in zwei Teile und fing augenblicklich an, darin zu lesen. Nach einer Stunde sandte er mir beiliegenden Zettel und ließ sagen: er danke Dir sehr und glaube, daß das ganze Buch gut sei. Weil er immer das Glück habe, in Büchern die bedeutendsten Stellen aufzuschlagen, so habe er denn die bezeichneten Seiten (S. 320 u. 21, S. 440 u. 41) gelesen und große Freude daran gehabt. Wenige Tage darauf sagte mir Ottilie, der Vater sitze über dem Buche und lese es mit einem Eifer, wie sie noch nie an ihm gesehen. Er äußerte gegen sie: auf ein ganzes Jahr habe er nun eine Freude; denn nun lese er es von Anfang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/132>, abgerufen am 22.07.2024.