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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Gebietsentwicklung der Ginzelstaaten Deutschlands.

des Krieges von Frankreich besetzt worden, zum drittenmale in Verlauf von
etwa sechzig Jahren. Nach dem Tode des Exkönigs Stanislaus sollten die beiden
Herzogtümer endgiltig an Frankreich fallen. Dies trat im Jahre 1766 ein. Der
letzte Herzog von Lothringen, Franz Stephan, der ehemalige römische Kaiser Franz I.,
der inzwischen, den 12. Februar 1736, Gemahl der Maria Theresia geworden war,
erhielt als Ersatz Toskana, das durch das Aussterben des Hauses Medici, 1737,
erledigt war. Das Reich wurde bei diesen ganzen Verhandlungen, die eines
seiner Gebiete dem Reichsfeinde in die Hände spielte, nicht einmal befragt. Der
Kaiser opferte unbedenklich ein deutsches Land seiner Hauspolitik und seinem
Familieninteresse. Österreich gab wiederum ein Gebiet im Westen des Reiches
auf. Und was gewann der Kaiser, was gewann Österreich dabei? Dafür
verbürgte Frankreich die pragmatische Sanktion, eine Bürgschaft, die, wie sich
zwei Jahre später auf klarste herausstellte, nicht das Papier wert war, worauf
sie geschrieben war. Österreich behielt sich das höchst wichtige Recht vor, das
alte lothringische Votum am deutschen Reichstage weiterzuführen, das unter dem
Namen "Nomeny" aufgerufen wurde. Der Verlust von ganz Elsaß und ganz
Lothringen für das deutsche Reich durch die Habsburgische Hauspolitik war
damit vollendet worden.

Kaum hatte Karl VI. die Augen' geschlossen, als sich auch sofort zeigte,
welchen Wert jene mit so vieler Mühe zu fast allgemeiner Anerkennung gebrachte
pragmatische Sanktion thatsächlich hatte. Sofort traten drei Bewerber auf, die
entweder auf die ganze Erbschaft dieses Kaisers oder doch auf bedeutende Teile
derselben Anspruch machten. Das waren der Kurfürst Karl Albert von Baiern,
Philipp V. von Spanien und August III. von Sachsen. Nur die Ansprüche
des ersten Fürsten, der zudem niemals die pragmatische Sanktion anerkannt
hatte, waren nicht ganz unbegründet und wurden mit Ernst und Nachdruck
zur Geltung gebracht. Nach dem Testamente Ferdinands I., des Stammhauptes
der deutschen Habsburger, war seiner Tochter Anna, deren Nachkomme der
Kurfürst Karl Albert war, das Erbrecht auf die österreichischen Lande zuge¬
sichert für den Fall, daß die männliche Nachkommenschaft ihrer Brüder aus¬
stürbe. Der damals mit dem Kurfürsten von Baiern abgeschlossene Heiratsvertrag
stimmte hiermit überein. Von jenem Testamente hatte man in München jedoch
nur die Abschrift; in der zu Wien aufbewahrten Urschrift aber stand, statt
"männlicher," "eheliche Nachkommenschaft." Nun ist wohl durch die gründlichen
Forschungen Rankes unbestreitbar festgestellt, daß eine Fälschung in dem Originale
der Urkunde nicht vorgenommen worden ist. und an einen Schreibfehler in einem
so hervorragend wichtigen Schriftstücke darf man doch kaum denken. Aber dem
einfachen gesunden Menschenverstande muß der Text des Wiener Testamentes
immer ziemlich widersinnig erscheinen; denn da die etwaige außereheliche Nach¬
kommenschaft offenbar überhaupt nicht in Frage kommen konnte, und da durch
den betreffenden Zusatz die etwaigen Sprößlinge aus einer nicht standesgemäßen,


Die Gebietsentwicklung der Ginzelstaaten Deutschlands.

des Krieges von Frankreich besetzt worden, zum drittenmale in Verlauf von
etwa sechzig Jahren. Nach dem Tode des Exkönigs Stanislaus sollten die beiden
Herzogtümer endgiltig an Frankreich fallen. Dies trat im Jahre 1766 ein. Der
letzte Herzog von Lothringen, Franz Stephan, der ehemalige römische Kaiser Franz I.,
der inzwischen, den 12. Februar 1736, Gemahl der Maria Theresia geworden war,
erhielt als Ersatz Toskana, das durch das Aussterben des Hauses Medici, 1737,
erledigt war. Das Reich wurde bei diesen ganzen Verhandlungen, die eines
seiner Gebiete dem Reichsfeinde in die Hände spielte, nicht einmal befragt. Der
Kaiser opferte unbedenklich ein deutsches Land seiner Hauspolitik und seinem
Familieninteresse. Österreich gab wiederum ein Gebiet im Westen des Reiches
auf. Und was gewann der Kaiser, was gewann Österreich dabei? Dafür
verbürgte Frankreich die pragmatische Sanktion, eine Bürgschaft, die, wie sich
zwei Jahre später auf klarste herausstellte, nicht das Papier wert war, worauf
sie geschrieben war. Österreich behielt sich das höchst wichtige Recht vor, das
alte lothringische Votum am deutschen Reichstage weiterzuführen, das unter dem
Namen „Nomeny" aufgerufen wurde. Der Verlust von ganz Elsaß und ganz
Lothringen für das deutsche Reich durch die Habsburgische Hauspolitik war
damit vollendet worden.

Kaum hatte Karl VI. die Augen' geschlossen, als sich auch sofort zeigte,
welchen Wert jene mit so vieler Mühe zu fast allgemeiner Anerkennung gebrachte
pragmatische Sanktion thatsächlich hatte. Sofort traten drei Bewerber auf, die
entweder auf die ganze Erbschaft dieses Kaisers oder doch auf bedeutende Teile
derselben Anspruch machten. Das waren der Kurfürst Karl Albert von Baiern,
Philipp V. von Spanien und August III. von Sachsen. Nur die Ansprüche
des ersten Fürsten, der zudem niemals die pragmatische Sanktion anerkannt
hatte, waren nicht ganz unbegründet und wurden mit Ernst und Nachdruck
zur Geltung gebracht. Nach dem Testamente Ferdinands I., des Stammhauptes
der deutschen Habsburger, war seiner Tochter Anna, deren Nachkomme der
Kurfürst Karl Albert war, das Erbrecht auf die österreichischen Lande zuge¬
sichert für den Fall, daß die männliche Nachkommenschaft ihrer Brüder aus¬
stürbe. Der damals mit dem Kurfürsten von Baiern abgeschlossene Heiratsvertrag
stimmte hiermit überein. Von jenem Testamente hatte man in München jedoch
nur die Abschrift; in der zu Wien aufbewahrten Urschrift aber stand, statt
„männlicher," „eheliche Nachkommenschaft." Nun ist wohl durch die gründlichen
Forschungen Rankes unbestreitbar festgestellt, daß eine Fälschung in dem Originale
der Urkunde nicht vorgenommen worden ist. und an einen Schreibfehler in einem
so hervorragend wichtigen Schriftstücke darf man doch kaum denken. Aber dem
einfachen gesunden Menschenverstande muß der Text des Wiener Testamentes
immer ziemlich widersinnig erscheinen; denn da die etwaige außereheliche Nach¬
kommenschaft offenbar überhaupt nicht in Frage kommen konnte, und da durch
den betreffenden Zusatz die etwaigen Sprößlinge aus einer nicht standesgemäßen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/118>, abgerufen am 24.08.2024.