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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Empfindung gemäß ist. Ein französisches Blatt, wohlbemerkt ein französisches,
auch eine eigne Freude dieser wunderbaren Tage, der Ug-diri, gab dem Verhält
einen überschwänglichen und doch wunderschönen Ausdruck: die Welt ist wie
in ein Sterbehaus verwandelt, in dem alles auf den Zehen geht.

Überschwcinglich, in einer Zeit, wo nüchtern das Stichwort ist! ja du lieber
Gott! es giebt Augenblicke zu allen Zeiten, wo das Empfundene im Gefäß der
Seele zu solcher Größe und Überfülle anschwillt, daß der überschwüngliche Aus¬
druck dem Bedürfnis gerade der rechte wird, eigentlich auch gar nicht unwahr,
denn das Wahre, das Thatsächliche ist dann die große, ungelenke Empfindung,
diese Quelle alles Lebens. Das sind Augenblicke, wo sich das Leben selbst un¬
mittelbar zur Poesie erhöht, sind Feierstunden des Lebens, und so wars in
diesen Tagen. Was sind nicht in den Berichten über die Krankheit und das
Sterben des Kaisers Wilhelm, in den damit aufgeregten Betrachtungen über
seinen Wert und sein Wesen, über die Wirkung seines Abschiedes in Deutschland
und im Auslande für hohe Worte gebraucht worden, sie stiegen von Tag zu
Tag an Höhe: aber es fiel mir neben aller bewegten Teilnahme einmal auf,
und Andre haben mir das herzlich von sich bestätigt, daß sich dabei nirgends
die Empfindung einstellte, in der wir Deutschen von heute so scharf geschult
sind, als ob die Worte mit dem Gegenstande in Widerspruch träten und über
ihn hinaus flögen. Hohe, höchste Worte und doch nicht in das Gebiet der
Redensarten oder Phrasen hinaustretend, die man in solchen Fällen so oft mit
in Kauf nehmen muß; es war eine wahre Wohlthat für den Geist, eine natio¬
nale Genugthuung mitten in Schmerz und Sorgen, ein hocherfreuliches Zeichen
der Gesundung, der alle unsre Verhältnisse zustreben. Hier war sie einmal
erreicht. War doch der Gegenstand der hohen Worte, der Kaiser selbst, eine
durch und durch gesunde Natur, dem denn auch das Höchste zu erreichen be-
schieden war, hoch über alles Denken und Erwarten hinaus, ein Fall, in
dem auch das Überschwängliche einmal wahr werden konnte. Mir fiel auch auf,
wie in diesen Tagen in Prosa und Versen Gutes, Bestes, Vollkommenes fast
in allen Blättern geleistet wurde, die Schriftsteller und Redner waren eben auch
über sich selbst erhöht, fast in jedem Aufsatze oder Gedichte, fast in jeder Rede
oder Predigt tauchten ganz neue Wendungen auf, die einen mit tiefer Wahrheit
und Schönheit trafen und wert wären, Redensarten zu werden.

Und wie die Federn von großer, gesunder Empfindung geführt wurden, die
eben von selbst Wahrheit für sich verlangt, so brach sie auch im Leben überall
aus in Zeichen ohne Ende, daß man auf den Straßen unter der fremden Menge
wie im Familienhause ging. Ein Bekannter, ein Mann von Jahren, ein Ge¬
lehrter, mit dem ich am Sterbetage ein paar Worte auf der Straße rasch aus¬
tauschte, faßte sich kurz (es war nicht in Preußen): Es ist einem, als ob man
einen Vater verloren hätte. Eine junge Frau aus dem Volke aber hat tief
bewegt gesagt, es wäre ihr, als ob sie einen Großvater verloren hätte. Vater


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Empfindung gemäß ist. Ein französisches Blatt, wohlbemerkt ein französisches,
auch eine eigne Freude dieser wunderbaren Tage, der Ug-diri, gab dem Verhält
einen überschwänglichen und doch wunderschönen Ausdruck: die Welt ist wie
in ein Sterbehaus verwandelt, in dem alles auf den Zehen geht.

Überschwcinglich, in einer Zeit, wo nüchtern das Stichwort ist! ja du lieber
Gott! es giebt Augenblicke zu allen Zeiten, wo das Empfundene im Gefäß der
Seele zu solcher Größe und Überfülle anschwillt, daß der überschwüngliche Aus¬
druck dem Bedürfnis gerade der rechte wird, eigentlich auch gar nicht unwahr,
denn das Wahre, das Thatsächliche ist dann die große, ungelenke Empfindung,
diese Quelle alles Lebens. Das sind Augenblicke, wo sich das Leben selbst un¬
mittelbar zur Poesie erhöht, sind Feierstunden des Lebens, und so wars in
diesen Tagen. Was sind nicht in den Berichten über die Krankheit und das
Sterben des Kaisers Wilhelm, in den damit aufgeregten Betrachtungen über
seinen Wert und sein Wesen, über die Wirkung seines Abschiedes in Deutschland
und im Auslande für hohe Worte gebraucht worden, sie stiegen von Tag zu
Tag an Höhe: aber es fiel mir neben aller bewegten Teilnahme einmal auf,
und Andre haben mir das herzlich von sich bestätigt, daß sich dabei nirgends
die Empfindung einstellte, in der wir Deutschen von heute so scharf geschult
sind, als ob die Worte mit dem Gegenstande in Widerspruch träten und über
ihn hinaus flögen. Hohe, höchste Worte und doch nicht in das Gebiet der
Redensarten oder Phrasen hinaustretend, die man in solchen Fällen so oft mit
in Kauf nehmen muß; es war eine wahre Wohlthat für den Geist, eine natio¬
nale Genugthuung mitten in Schmerz und Sorgen, ein hocherfreuliches Zeichen
der Gesundung, der alle unsre Verhältnisse zustreben. Hier war sie einmal
erreicht. War doch der Gegenstand der hohen Worte, der Kaiser selbst, eine
durch und durch gesunde Natur, dem denn auch das Höchste zu erreichen be-
schieden war, hoch über alles Denken und Erwarten hinaus, ein Fall, in
dem auch das Überschwängliche einmal wahr werden konnte. Mir fiel auch auf,
wie in diesen Tagen in Prosa und Versen Gutes, Bestes, Vollkommenes fast
in allen Blättern geleistet wurde, die Schriftsteller und Redner waren eben auch
über sich selbst erhöht, fast in jedem Aufsatze oder Gedichte, fast in jeder Rede
oder Predigt tauchten ganz neue Wendungen auf, die einen mit tiefer Wahrheit
und Schönheit trafen und wert wären, Redensarten zu werden.

Und wie die Federn von großer, gesunder Empfindung geführt wurden, die
eben von selbst Wahrheit für sich verlangt, so brach sie auch im Leben überall
aus in Zeichen ohne Ende, daß man auf den Straßen unter der fremden Menge
wie im Familienhause ging. Ein Bekannter, ein Mann von Jahren, ein Ge¬
lehrter, mit dem ich am Sterbetage ein paar Worte auf der Straße rasch aus¬
tauschte, faßte sich kurz (es war nicht in Preußen): Es ist einem, als ob man
einen Vater verloren hätte. Eine junge Frau aus dem Volke aber hat tief
bewegt gesagt, es wäre ihr, als ob sie einen Großvater verloren hätte. Vater


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/90>, abgerufen am 01.09.2024.