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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Mängeln sieht heiter aus gegen dies düstere Bild. Und doch steigt zugleich
daraus etwas empor, still, aber groß, das im Alltagsleben so schwer oder nie
zu haben ist, und hebt das Gemüt mit sich auf eine Höhe, die es vielleicht so
noch nie gekannt hat, die über Lust und Leid, die Teilung, in der sich ge¬
wöhnlich unser inneres Befinden darstellt, wundersam hinaufsteigt. Der ganze
Blick ist verändert, es ist, als wären einem, wie die Sprache es ausdrückt,
Schuppen von den Augen gefallen. Alles Nahe, Kleine, in dem man sonst be¬
fangen lebt, als wäre es alles, steht plötzlich in andern: Lichte, denn das Große
tritt auf einmal dahinter und darüber empor, ins Weite weisend und von oben
alles umspannend, wenn man es auch zunächst nur durch Trauer hindurch und
hinter dem Schleier der Thränen sieht. Nichts öffnet ja unsre Seele so tief,
und giebt ihr eben damit Weite und Höhe, als Thränen, ihr Schleier ist für
die Dinge draußen und drinnen verklärend, giebt ihnen ihre reine, volle Farbe
wieder, die vom Alltagsleben erbleicht wie ein Bild an der Wand unter dem
Staube, den das Leben aufregt. Man sieht in Trauer und Thränen auf einmal
wie von Bergeshöhe in die Verhältnisse von oben hinein, sieht wohl auch die
Lücken und Schäden genauer als sonst, aber eingetaucht oder eingereiht in das
große Ganze, daher in ihrem wirklichen Verhältnisse, nicht so für sich und damit
vergrößert, wie unter dem engen, nahen Gesichtswinkel des Alltagslebens. Die
Mühe und Sorge der Arbeit im kleinen Kampfe des Lebens ist einmal von
großer Ruhe abgelöst, in der gewisse Dinge, Kräfte, Einsichten allein keimen
können, die man eben für den Kampf braucht. So kommt es, daß solche Tage
herbster Trauer später, wenn man in einer reinen Stunde in sein Leben zurück¬
blickt, wie Höhen erscheinen, von denen man freier und weiter in die Welt
hinaussah, weil man eben durch das Leid in sich selbst erhöht, reiner, größer
und weiter war. Ja wer nur diese einmal gewonnene Höhe dann im Sturme
des Lebens treu festhalten könnte! Die Trauer würde ihm mit dieser Treue
der beste Segen werden.

So war es, wie da im Hause im Kleinen, im Großen in deutschen Landen
in dieser merkwürdigen Woche. Man mußte den Mann davon gehen sehen, der,
ohne ein Genie zu sein, sich in die Herzen der Deutschen eingenistet hat mit
einer Wärme und in die deutsche Geschichte eingeschrieben hat mit einem Glänze,
wie man es sonst nur Genies zutrauen will. Alle Gedanken flogen über das
Gcschäftsdenken hinweg an das Sterbelager dort unter den Linden, beim
Denkmal des großen Friedrich, geteilt freilich durch das Krankenzimmer unten
an der sonnigen Küste der Riviera und dann, als der Schlag gefallen war,
durch die gefährliche Reise des Kranken in die Heimat zurück, dessen eigne Ge¬
danken über seine Krankheit hinweg an das Sterbelager dort gefesselt waren
und an das, was für ihn dahinter aufstieg. Das Sterbezimmer war wie er¬
weitert zu der Weite der deutschen Lande, ja darüber hinaus, daß man von der
ganzen Welt reden kann mit der Erhöhung des Ausdrucks, die der tief erregten


Grenzbote" II. 1338. II
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Mängeln sieht heiter aus gegen dies düstere Bild. Und doch steigt zugleich
daraus etwas empor, still, aber groß, das im Alltagsleben so schwer oder nie
zu haben ist, und hebt das Gemüt mit sich auf eine Höhe, die es vielleicht so
noch nie gekannt hat, die über Lust und Leid, die Teilung, in der sich ge¬
wöhnlich unser inneres Befinden darstellt, wundersam hinaufsteigt. Der ganze
Blick ist verändert, es ist, als wären einem, wie die Sprache es ausdrückt,
Schuppen von den Augen gefallen. Alles Nahe, Kleine, in dem man sonst be¬
fangen lebt, als wäre es alles, steht plötzlich in andern: Lichte, denn das Große
tritt auf einmal dahinter und darüber empor, ins Weite weisend und von oben
alles umspannend, wenn man es auch zunächst nur durch Trauer hindurch und
hinter dem Schleier der Thränen sieht. Nichts öffnet ja unsre Seele so tief,
und giebt ihr eben damit Weite und Höhe, als Thränen, ihr Schleier ist für
die Dinge draußen und drinnen verklärend, giebt ihnen ihre reine, volle Farbe
wieder, die vom Alltagsleben erbleicht wie ein Bild an der Wand unter dem
Staube, den das Leben aufregt. Man sieht in Trauer und Thränen auf einmal
wie von Bergeshöhe in die Verhältnisse von oben hinein, sieht wohl auch die
Lücken und Schäden genauer als sonst, aber eingetaucht oder eingereiht in das
große Ganze, daher in ihrem wirklichen Verhältnisse, nicht so für sich und damit
vergrößert, wie unter dem engen, nahen Gesichtswinkel des Alltagslebens. Die
Mühe und Sorge der Arbeit im kleinen Kampfe des Lebens ist einmal von
großer Ruhe abgelöst, in der gewisse Dinge, Kräfte, Einsichten allein keimen
können, die man eben für den Kampf braucht. So kommt es, daß solche Tage
herbster Trauer später, wenn man in einer reinen Stunde in sein Leben zurück¬
blickt, wie Höhen erscheinen, von denen man freier und weiter in die Welt
hinaussah, weil man eben durch das Leid in sich selbst erhöht, reiner, größer
und weiter war. Ja wer nur diese einmal gewonnene Höhe dann im Sturme
des Lebens treu festhalten könnte! Die Trauer würde ihm mit dieser Treue
der beste Segen werden.

So war es, wie da im Hause im Kleinen, im Großen in deutschen Landen
in dieser merkwürdigen Woche. Man mußte den Mann davon gehen sehen, der,
ohne ein Genie zu sein, sich in die Herzen der Deutschen eingenistet hat mit
einer Wärme und in die deutsche Geschichte eingeschrieben hat mit einem Glänze,
wie man es sonst nur Genies zutrauen will. Alle Gedanken flogen über das
Gcschäftsdenken hinweg an das Sterbelager dort unter den Linden, beim
Denkmal des großen Friedrich, geteilt freilich durch das Krankenzimmer unten
an der sonnigen Küste der Riviera und dann, als der Schlag gefallen war,
durch die gefährliche Reise des Kranken in die Heimat zurück, dessen eigne Ge¬
danken über seine Krankheit hinweg an das Sterbelager dort gefesselt waren
und an das, was für ihn dahinter aufstieg. Das Sterbezimmer war wie er¬
weitert zu der Weite der deutschen Lande, ja darüber hinaus, daß man von der
ganzen Welt reden kann mit der Erhöhung des Ausdrucks, die der tief erregten


Grenzbote» II. 1338. II
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[0089] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. Mängeln sieht heiter aus gegen dies düstere Bild. Und doch steigt zugleich daraus etwas empor, still, aber groß, das im Alltagsleben so schwer oder nie zu haben ist, und hebt das Gemüt mit sich auf eine Höhe, die es vielleicht so noch nie gekannt hat, die über Lust und Leid, die Teilung, in der sich ge¬ wöhnlich unser inneres Befinden darstellt, wundersam hinaufsteigt. Der ganze Blick ist verändert, es ist, als wären einem, wie die Sprache es ausdrückt, Schuppen von den Augen gefallen. Alles Nahe, Kleine, in dem man sonst be¬ fangen lebt, als wäre es alles, steht plötzlich in andern: Lichte, denn das Große tritt auf einmal dahinter und darüber empor, ins Weite weisend und von oben alles umspannend, wenn man es auch zunächst nur durch Trauer hindurch und hinter dem Schleier der Thränen sieht. Nichts öffnet ja unsre Seele so tief, und giebt ihr eben damit Weite und Höhe, als Thränen, ihr Schleier ist für die Dinge draußen und drinnen verklärend, giebt ihnen ihre reine, volle Farbe wieder, die vom Alltagsleben erbleicht wie ein Bild an der Wand unter dem Staube, den das Leben aufregt. Man sieht in Trauer und Thränen auf einmal wie von Bergeshöhe in die Verhältnisse von oben hinein, sieht wohl auch die Lücken und Schäden genauer als sonst, aber eingetaucht oder eingereiht in das große Ganze, daher in ihrem wirklichen Verhältnisse, nicht so für sich und damit vergrößert, wie unter dem engen, nahen Gesichtswinkel des Alltagslebens. Die Mühe und Sorge der Arbeit im kleinen Kampfe des Lebens ist einmal von großer Ruhe abgelöst, in der gewisse Dinge, Kräfte, Einsichten allein keimen können, die man eben für den Kampf braucht. So kommt es, daß solche Tage herbster Trauer später, wenn man in einer reinen Stunde in sein Leben zurück¬ blickt, wie Höhen erscheinen, von denen man freier und weiter in die Welt hinaussah, weil man eben durch das Leid in sich selbst erhöht, reiner, größer und weiter war. Ja wer nur diese einmal gewonnene Höhe dann im Sturme des Lebens treu festhalten könnte! Die Trauer würde ihm mit dieser Treue der beste Segen werden. So war es, wie da im Hause im Kleinen, im Großen in deutschen Landen in dieser merkwürdigen Woche. Man mußte den Mann davon gehen sehen, der, ohne ein Genie zu sein, sich in die Herzen der Deutschen eingenistet hat mit einer Wärme und in die deutsche Geschichte eingeschrieben hat mit einem Glänze, wie man es sonst nur Genies zutrauen will. Alle Gedanken flogen über das Gcschäftsdenken hinweg an das Sterbelager dort unter den Linden, beim Denkmal des großen Friedrich, geteilt freilich durch das Krankenzimmer unten an der sonnigen Küste der Riviera und dann, als der Schlag gefallen war, durch die gefährliche Reise des Kranken in die Heimat zurück, dessen eigne Ge¬ danken über seine Krankheit hinweg an das Sterbelager dort gefesselt waren und an das, was für ihn dahinter aufstieg. Das Sterbezimmer war wie er¬ weitert zu der Weite der deutschen Lande, ja darüber hinaus, daß man von der ganzen Welt reden kann mit der Erhöhung des Ausdrucks, die der tief erregten Grenzbote» II. 1338. II

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/89>, abgerufen am 01.09.2024.