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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.

Verirrungen die methodische Unklarheit der Mediziner. Von dieser unwissen¬
schaftlichen Philosophie fühlte sich der wissenschaftliche Genius Fechners abge¬
stoßen, und von dieser unwissenschaftlichen Heilkunde wandte er sich zu exakter
Naturwissenschaft.

Wer Fechners Lebensarbeit gerecht würdigen will, muß vor allem auf
diesen Wendepunkt in seiner Lebensgeschichte achten. Berücksichtigt man nicht
genügend, wie naturgemäß seine Entwicklung war, so drängt sich leicht die
Vorstellung auf, daß Fechner "leider" nicht den Weg zur wissenschaftlichen
Philosophie gefunden habe, wie er den Weg zur Physik glücklicherweise sofort
fand. Für die berufsmäßige Philosophie zeigte Fechner in keiner spätern Zeit
Sympathie. Er verfolgte zwar die sich geltend machenden Systeme; Herbart
versagte er, trotz seiner entschiednen Opposition gegen ihn, seine Achtung nicht,
ja er ließ sich in bemerkenswerter Weise von ihm beeinflussen; Hegels dialektische
Methode reizte seine Neigung zur Satire; der Pessimismus, der sich in
Schopenhauers und v. Hartmanns Philosophemen geltend macht, erweckte die
kraftvolle Reaktion seines tief innerlichen, religiösen Gemütes. Nur zu Kant
und dem nachkantischen Ausbau der Erkenntniskritik gewann er, der Kritiker,
keine Beziehung, und im großen und ganzen waren ihm die Philosophen die
Leute, "die nichts sehen, als was sie glauben." Fechner wollte der Philosophie
als der spekulativen Forschung nur dasjenige Feld einräume", wohin die wissen¬
schaftliche Erkenntnis nicht vordringen kann, das Gebiet der Ethik und der
Religion. Sogar die ästhetische Forschung suchte er der naturwissenschaftlichen
Empirie zuzuweisen.

Diese eigenartige, zu aller Schulphilosophie in Gegensatz tretende Meta¬
physik Fechners beherrscht natürlich erst seine Entwicklung, nachdem ihm die
Krankheit die Arbeit im physikalischen Laboratorium unmöglich gemacht und
ihn auf das Gedankenspinnen in der Studirstube verwiesen hatte. In seiner
ersten wissenschaftlichen Periode, also in den zwanziger und dreißiger Jahren,
war Fechner ganz Physiker und widmete der Wissenschaft eine außergewöhn¬
liche Arbeitskraft.

Wir sahen, wie der junge Leipziger Doktor und Privatdozent durch seine
Mittellosigkeit zu litterarischer Thätigkeit gedrängt wurde. Die Art, wie er
schriftstellerte, ehrt ihn und legt ebenso für seine wissenschaftliche Bedeutung
Zeugnis ab, wie die Experimentaluntersuchungen, die in seinem physikalischen
Hauptwerke "Maßbestimmungen über die galvanische Kette" und in zahlreichen
kleinern, in den damaligen wissenschaftlichen Zeitschriften zerstreuten Abhand¬
lungen niedergelegt sind. Thenards Lehrbuch der Chemie und Biots Lehrbuch
der Experimentalphysik sind lange Jahre in Fechners Übersetzung als die besten
Lehrbücher in ihrer Art benutzt worden, und namentlich das letztere verdankte
seinen Erfolg zum guten Teile den Anmerkungen, Zusätzen und Erweiterungen
des Übersetzers. Fünf Bände "Repertorium der Experimentalphysik" und drei


Zum Andenken Gustav Theodor Fechners.

Verirrungen die methodische Unklarheit der Mediziner. Von dieser unwissen¬
schaftlichen Philosophie fühlte sich der wissenschaftliche Genius Fechners abge¬
stoßen, und von dieser unwissenschaftlichen Heilkunde wandte er sich zu exakter
Naturwissenschaft.

Wer Fechners Lebensarbeit gerecht würdigen will, muß vor allem auf
diesen Wendepunkt in seiner Lebensgeschichte achten. Berücksichtigt man nicht
genügend, wie naturgemäß seine Entwicklung war, so drängt sich leicht die
Vorstellung auf, daß Fechner „leider" nicht den Weg zur wissenschaftlichen
Philosophie gefunden habe, wie er den Weg zur Physik glücklicherweise sofort
fand. Für die berufsmäßige Philosophie zeigte Fechner in keiner spätern Zeit
Sympathie. Er verfolgte zwar die sich geltend machenden Systeme; Herbart
versagte er, trotz seiner entschiednen Opposition gegen ihn, seine Achtung nicht,
ja er ließ sich in bemerkenswerter Weise von ihm beeinflussen; Hegels dialektische
Methode reizte seine Neigung zur Satire; der Pessimismus, der sich in
Schopenhauers und v. Hartmanns Philosophemen geltend macht, erweckte die
kraftvolle Reaktion seines tief innerlichen, religiösen Gemütes. Nur zu Kant
und dem nachkantischen Ausbau der Erkenntniskritik gewann er, der Kritiker,
keine Beziehung, und im großen und ganzen waren ihm die Philosophen die
Leute, „die nichts sehen, als was sie glauben." Fechner wollte der Philosophie
als der spekulativen Forschung nur dasjenige Feld einräume«, wohin die wissen¬
schaftliche Erkenntnis nicht vordringen kann, das Gebiet der Ethik und der
Religion. Sogar die ästhetische Forschung suchte er der naturwissenschaftlichen
Empirie zuzuweisen.

Diese eigenartige, zu aller Schulphilosophie in Gegensatz tretende Meta¬
physik Fechners beherrscht natürlich erst seine Entwicklung, nachdem ihm die
Krankheit die Arbeit im physikalischen Laboratorium unmöglich gemacht und
ihn auf das Gedankenspinnen in der Studirstube verwiesen hatte. In seiner
ersten wissenschaftlichen Periode, also in den zwanziger und dreißiger Jahren,
war Fechner ganz Physiker und widmete der Wissenschaft eine außergewöhn¬
liche Arbeitskraft.

Wir sahen, wie der junge Leipziger Doktor und Privatdozent durch seine
Mittellosigkeit zu litterarischer Thätigkeit gedrängt wurde. Die Art, wie er
schriftstellerte, ehrt ihn und legt ebenso für seine wissenschaftliche Bedeutung
Zeugnis ab, wie die Experimentaluntersuchungen, die in seinem physikalischen
Hauptwerke „Maßbestimmungen über die galvanische Kette" und in zahlreichen
kleinern, in den damaligen wissenschaftlichen Zeitschriften zerstreuten Abhand¬
lungen niedergelegt sind. Thenards Lehrbuch der Chemie und Biots Lehrbuch
der Experimentalphysik sind lange Jahre in Fechners Übersetzung als die besten
Lehrbücher in ihrer Art benutzt worden, und namentlich das letztere verdankte
seinen Erfolg zum guten Teile den Anmerkungen, Zusätzen und Erweiterungen
des Übersetzers. Fünf Bände „Repertorium der Experimentalphysik" und drei


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[0085] Zum Andenken Gustav Theodor Fechners. Verirrungen die methodische Unklarheit der Mediziner. Von dieser unwissen¬ schaftlichen Philosophie fühlte sich der wissenschaftliche Genius Fechners abge¬ stoßen, und von dieser unwissenschaftlichen Heilkunde wandte er sich zu exakter Naturwissenschaft. Wer Fechners Lebensarbeit gerecht würdigen will, muß vor allem auf diesen Wendepunkt in seiner Lebensgeschichte achten. Berücksichtigt man nicht genügend, wie naturgemäß seine Entwicklung war, so drängt sich leicht die Vorstellung auf, daß Fechner „leider" nicht den Weg zur wissenschaftlichen Philosophie gefunden habe, wie er den Weg zur Physik glücklicherweise sofort fand. Für die berufsmäßige Philosophie zeigte Fechner in keiner spätern Zeit Sympathie. Er verfolgte zwar die sich geltend machenden Systeme; Herbart versagte er, trotz seiner entschiednen Opposition gegen ihn, seine Achtung nicht, ja er ließ sich in bemerkenswerter Weise von ihm beeinflussen; Hegels dialektische Methode reizte seine Neigung zur Satire; der Pessimismus, der sich in Schopenhauers und v. Hartmanns Philosophemen geltend macht, erweckte die kraftvolle Reaktion seines tief innerlichen, religiösen Gemütes. Nur zu Kant und dem nachkantischen Ausbau der Erkenntniskritik gewann er, der Kritiker, keine Beziehung, und im großen und ganzen waren ihm die Philosophen die Leute, „die nichts sehen, als was sie glauben." Fechner wollte der Philosophie als der spekulativen Forschung nur dasjenige Feld einräume«, wohin die wissen¬ schaftliche Erkenntnis nicht vordringen kann, das Gebiet der Ethik und der Religion. Sogar die ästhetische Forschung suchte er der naturwissenschaftlichen Empirie zuzuweisen. Diese eigenartige, zu aller Schulphilosophie in Gegensatz tretende Meta¬ physik Fechners beherrscht natürlich erst seine Entwicklung, nachdem ihm die Krankheit die Arbeit im physikalischen Laboratorium unmöglich gemacht und ihn auf das Gedankenspinnen in der Studirstube verwiesen hatte. In seiner ersten wissenschaftlichen Periode, also in den zwanziger und dreißiger Jahren, war Fechner ganz Physiker und widmete der Wissenschaft eine außergewöhn¬ liche Arbeitskraft. Wir sahen, wie der junge Leipziger Doktor und Privatdozent durch seine Mittellosigkeit zu litterarischer Thätigkeit gedrängt wurde. Die Art, wie er schriftstellerte, ehrt ihn und legt ebenso für seine wissenschaftliche Bedeutung Zeugnis ab, wie die Experimentaluntersuchungen, die in seinem physikalischen Hauptwerke „Maßbestimmungen über die galvanische Kette" und in zahlreichen kleinern, in den damaligen wissenschaftlichen Zeitschriften zerstreuten Abhand¬ lungen niedergelegt sind. Thenards Lehrbuch der Chemie und Biots Lehrbuch der Experimentalphysik sind lange Jahre in Fechners Übersetzung als die besten Lehrbücher in ihrer Art benutzt worden, und namentlich das letztere verdankte seinen Erfolg zum guten Teile den Anmerkungen, Zusätzen und Erweiterungen des Übersetzers. Fünf Bände „Repertorium der Experimentalphysik" und drei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/85>, abgerufen am 01.09.2024.