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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neue Lyrik.

In den Gedichten dieser Art liegt der originale Neiz der Sammlung Saars.
Die Perle darunter ist wohl die "Liebesszcne," gleichfalls ein lyrisch-novellistisches
Studienbildchen. Der andre Kreis von Gedichten, in denen sich Saars spezifisch
moderne Natur offenbart, ist der, den man als sozialistisch bezeichnen könnte.
Die Gegensätze von Armut und Reichtum empfindet Saar in ganz eigner Weise.
Er selbst ist nicht der sorgenlos im Überfluß schwelgende Mann, aber seine
Herkunft, sein Stand und seine Kunst haben ihn in die Kreise der Reichen ge¬
führt; von hier aus beobachtet er mitfühlend die Armut. Er denkt beim An¬
blick eines erdbeerensammelnden Kindes an den jämmerlichen Lohn, den das
Kind dafür empfängt, und an die Summe, welche der Wohlhabende für dasselbe
Erdbeerkörbchen in der Stadt bezahlen muß, ehe es auf seinen Tisch kommt.
Er denkt auf der Eisenbahn an den kargen Lohn, den der Maschinenführer be¬
zieht, von dessen Redlichkeit Menschenleben ohne Zahl abhängen. Er ent¬
wirft das Bild vom "Menschenjammer" (in der neuen Auflage "Die Kuh"
überschrieben): das Kind des Bahnwächters hat dessen einzige Kuh zu hüten.
Da naht der Zug, die Kuh springt davon, das Kind kann sie nicht einholen,
der Alte schimpft darob auf das arme Wesen: der Verlust der einzigen Kuh dünkt
ihm das größte Unglück! Doch besinnt sich das Tier, trabt munter zurück und
die Sonue des Friedens leuchtet wieder. Der ganze Saar mit seiner Teilnahme
für die Armut und seinem schwachen, sich selbst wenig respektirenden Herzen
spricht aus dem Gedichte "Arbeitergruß":


[Beginn Spaltensatz]
Vom nahen Eisenwerke,
Berußt, mit schwerem Gang,
Kommt mir ein Mann entgegen,
Den Wiesenpfad entlang.
Mit trotzig finstrer Miene,
Wie mit sich selbst im Streit,
Greift er an seine Mütze --
Gewohnheit alter Zeit.
Es blickt dabei sein Auge
Mir musternd auf den Rock,
Und dann beim Weiterschreiten
Schwingt er den Knotenstock.
Ich ahne, was im Herzen
Und was im Hirn ihm brennt:
Das ist auch einer, denkt er,
Der nicht die Arbeit kennt.
Lustwandelnd hier im Freien,
Verband er üpp'ges Mahl,
Indes wir darbend schmieden
Das Eisen und den Stahl.
[Spaltenumbruch]
Er sucht deu Wnldesschatteu,
Da wir am Feuer stehn
Und in dem heißen Brodem
Langsam zu Grunde gehn.
Der soll es noch erfahren,
Wie es dem Menschen thut,
Muß er das Atmen zahlen
Mit seinem Schweiß und Blut! --
Verziehen sei dir alles,
Womit du schwer mich kränkst,
Verziehen sei dirs gerne:
Du weißt nicht, was du denkst.
Du hast ja nie erfahren
Des Geistes tiefe Mühn,
Du ahnst nicht, wie die Schläfen
Mir heiß vom Denken glühn;
Du ahnst nicht, wie ich hämmre
Und felle Tag für Tag --
Und wie ich mich verblute
Mit jedem Stundenschlag I
[Ende Spaltensatz]
Neue Lyrik.

In den Gedichten dieser Art liegt der originale Neiz der Sammlung Saars.
Die Perle darunter ist wohl die „Liebesszcne," gleichfalls ein lyrisch-novellistisches
Studienbildchen. Der andre Kreis von Gedichten, in denen sich Saars spezifisch
moderne Natur offenbart, ist der, den man als sozialistisch bezeichnen könnte.
Die Gegensätze von Armut und Reichtum empfindet Saar in ganz eigner Weise.
Er selbst ist nicht der sorgenlos im Überfluß schwelgende Mann, aber seine
Herkunft, sein Stand und seine Kunst haben ihn in die Kreise der Reichen ge¬
führt; von hier aus beobachtet er mitfühlend die Armut. Er denkt beim An¬
blick eines erdbeerensammelnden Kindes an den jämmerlichen Lohn, den das
Kind dafür empfängt, und an die Summe, welche der Wohlhabende für dasselbe
Erdbeerkörbchen in der Stadt bezahlen muß, ehe es auf seinen Tisch kommt.
Er denkt auf der Eisenbahn an den kargen Lohn, den der Maschinenführer be¬
zieht, von dessen Redlichkeit Menschenleben ohne Zahl abhängen. Er ent¬
wirft das Bild vom „Menschenjammer" (in der neuen Auflage „Die Kuh"
überschrieben): das Kind des Bahnwächters hat dessen einzige Kuh zu hüten.
Da naht der Zug, die Kuh springt davon, das Kind kann sie nicht einholen,
der Alte schimpft darob auf das arme Wesen: der Verlust der einzigen Kuh dünkt
ihm das größte Unglück! Doch besinnt sich das Tier, trabt munter zurück und
die Sonue des Friedens leuchtet wieder. Der ganze Saar mit seiner Teilnahme
für die Armut und seinem schwachen, sich selbst wenig respektirenden Herzen
spricht aus dem Gedichte „Arbeitergruß":


[Beginn Spaltensatz]
Vom nahen Eisenwerke,
Berußt, mit schwerem Gang,
Kommt mir ein Mann entgegen,
Den Wiesenpfad entlang.
Mit trotzig finstrer Miene,
Wie mit sich selbst im Streit,
Greift er an seine Mütze —
Gewohnheit alter Zeit.
Es blickt dabei sein Auge
Mir musternd auf den Rock,
Und dann beim Weiterschreiten
Schwingt er den Knotenstock.
Ich ahne, was im Herzen
Und was im Hirn ihm brennt:
Das ist auch einer, denkt er,
Der nicht die Arbeit kennt.
Lustwandelnd hier im Freien,
Verband er üpp'ges Mahl,
Indes wir darbend schmieden
Das Eisen und den Stahl.
[Spaltenumbruch]
Er sucht deu Wnldesschatteu,
Da wir am Feuer stehn
Und in dem heißen Brodem
Langsam zu Grunde gehn.
Der soll es noch erfahren,
Wie es dem Menschen thut,
Muß er das Atmen zahlen
Mit seinem Schweiß und Blut! —
Verziehen sei dir alles,
Womit du schwer mich kränkst,
Verziehen sei dirs gerne:
Du weißt nicht, was du denkst.
Du hast ja nie erfahren
Des Geistes tiefe Mühn,
Du ahnst nicht, wie die Schläfen
Mir heiß vom Denken glühn;
Du ahnst nicht, wie ich hämmre
Und felle Tag für Tag —
Und wie ich mich verblute
Mit jedem Stundenschlag I
[Ende Spaltensatz]
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[0630] Neue Lyrik. In den Gedichten dieser Art liegt der originale Neiz der Sammlung Saars. Die Perle darunter ist wohl die „Liebesszcne," gleichfalls ein lyrisch-novellistisches Studienbildchen. Der andre Kreis von Gedichten, in denen sich Saars spezifisch moderne Natur offenbart, ist der, den man als sozialistisch bezeichnen könnte. Die Gegensätze von Armut und Reichtum empfindet Saar in ganz eigner Weise. Er selbst ist nicht der sorgenlos im Überfluß schwelgende Mann, aber seine Herkunft, sein Stand und seine Kunst haben ihn in die Kreise der Reichen ge¬ führt; von hier aus beobachtet er mitfühlend die Armut. Er denkt beim An¬ blick eines erdbeerensammelnden Kindes an den jämmerlichen Lohn, den das Kind dafür empfängt, und an die Summe, welche der Wohlhabende für dasselbe Erdbeerkörbchen in der Stadt bezahlen muß, ehe es auf seinen Tisch kommt. Er denkt auf der Eisenbahn an den kargen Lohn, den der Maschinenführer be¬ zieht, von dessen Redlichkeit Menschenleben ohne Zahl abhängen. Er ent¬ wirft das Bild vom „Menschenjammer" (in der neuen Auflage „Die Kuh" überschrieben): das Kind des Bahnwächters hat dessen einzige Kuh zu hüten. Da naht der Zug, die Kuh springt davon, das Kind kann sie nicht einholen, der Alte schimpft darob auf das arme Wesen: der Verlust der einzigen Kuh dünkt ihm das größte Unglück! Doch besinnt sich das Tier, trabt munter zurück und die Sonue des Friedens leuchtet wieder. Der ganze Saar mit seiner Teilnahme für die Armut und seinem schwachen, sich selbst wenig respektirenden Herzen spricht aus dem Gedichte „Arbeitergruß": Vom nahen Eisenwerke, Berußt, mit schwerem Gang, Kommt mir ein Mann entgegen, Den Wiesenpfad entlang. Mit trotzig finstrer Miene, Wie mit sich selbst im Streit, Greift er an seine Mütze — Gewohnheit alter Zeit. Es blickt dabei sein Auge Mir musternd auf den Rock, Und dann beim Weiterschreiten Schwingt er den Knotenstock. Ich ahne, was im Herzen Und was im Hirn ihm brennt: Das ist auch einer, denkt er, Der nicht die Arbeit kennt. Lustwandelnd hier im Freien, Verband er üpp'ges Mahl, Indes wir darbend schmieden Das Eisen und den Stahl. Er sucht deu Wnldesschatteu, Da wir am Feuer stehn Und in dem heißen Brodem Langsam zu Grunde gehn. Der soll es noch erfahren, Wie es dem Menschen thut, Muß er das Atmen zahlen Mit seinem Schweiß und Blut! — Verziehen sei dir alles, Womit du schwer mich kränkst, Verziehen sei dirs gerne: Du weißt nicht, was du denkst. Du hast ja nie erfahren Des Geistes tiefe Mühn, Du ahnst nicht, wie die Schläfen Mir heiß vom Denken glühn; Du ahnst nicht, wie ich hämmre Und felle Tag für Tag — Und wie ich mich verblute Mit jedem Stundenschlag I

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/630>, abgerufen am 28.07.2024.