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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neue Lyrik.

Noch tiefer sollst du jene doch verachten,
Die stets AltNre für die Kunst begehren,
Um sich zur Gottheit selber frech zu stempeln.

Mit andern Worten, Saar bekennnt mit seiner Zeit: die Kunst ist nicht der
Mittelpunkt des Lebens mehr, wir sind kein ästhetisches Zeitalter mehr. So
wie er also Pessimist ist, bekennt er sich anch zum Realismus der Gegenwart.
Seine Religiosität beschränkt sich auf einen vagen Naturkultus und auf das
praktische Gebot der Liebe. Aus dieser Gesinnung heraus siud die Lieder ent¬
standen, die das Gedichtbuch eröffnen, meist Stimmungsbilder ohne Staffage
von Landschaften und Tages- oder Jahreszeiten. Die Gedichte "Wandlung."
"Stadtsommer," "Thauwetter," "Nacht," "Winterabend" sind solche objektive
Lyrik, hervorgegangen aus der reinen Freude am Gegenstande, dem ruhigen
Genuß des Daseins. Auch für die Liebe hat Saars Lyrik eigne Töne gefunden,
doch schlagt hier meist der Novellist durch. Er liefert ein Charakterbild
des geliebten Mädchens; nicht ans dem erotischen Gefühl, sondern ans der
kühleren Analyse des Charcikteristikcrs sind solche Frauenbilder entstanden:
halb znständlich subjektiv, halb episch gestaltend. Es ist der Mann aus der
Gesellschaft, der hier spricht. Wie er das typisch-moderne Weib auffaßt, zeigt
das Gedicht "Stella." Schön, reich, gebildet, geistreich, fesselnd, tritt Stella
in den Saal in den Kreis der Verehrer ein.

Und dennoch -- rings gefeiert lauten Preises,
Erfüllst du mich mit einem bittren Schmerz;
Denn sich, ich ahn' es -- besser noch, ich weis; es:
Es schlägt in deiner zarten Brust kein Herz.
Aus Hirn und Nerven blos; besteht dein Wesen,
Es ist dein Blut nur ein besondrer Saft;
Es giebt kein Buch, in dem du nicht gelesen --
Doch fehlt die Tiefe dir der Leidenschaft.
Zwar spricht man auch von deinen heißen Sinnen,
Von diesem und von jenem Seelenkampf --
Ich aber kenne dieses irre Minnen,
Ekstase halb, halb ungestümer Kampf.
Bei jenes Meisters "Triften und Isolde"
Wirst in geheimer Fiber du erregt,
Indes dich nie mit seinem läutern Golde
Ein schlicht empfundnes Manneswort bewegt.
Vergieb! Kein Vorwurf liegt in diesen Worten;
Du bist die echte Tochter deiner Zeit --
Der Zeit, die eines neuen Daseins Pforten
Erschlossen hat, mit der Natur in: Streit.
Wohin sie führt, die ungeduldig schnelle,
Ich weiß es nicht -- verschleiert liegt die Bahn;
Du aber stehst bereits an ihrer Schwelle
Und leuchtest strahlend, wie ein Stern, voran!

Neue Lyrik.

Noch tiefer sollst du jene doch verachten,
Die stets AltNre für die Kunst begehren,
Um sich zur Gottheit selber frech zu stempeln.

Mit andern Worten, Saar bekennnt mit seiner Zeit: die Kunst ist nicht der
Mittelpunkt des Lebens mehr, wir sind kein ästhetisches Zeitalter mehr. So
wie er also Pessimist ist, bekennt er sich anch zum Realismus der Gegenwart.
Seine Religiosität beschränkt sich auf einen vagen Naturkultus und auf das
praktische Gebot der Liebe. Aus dieser Gesinnung heraus siud die Lieder ent¬
standen, die das Gedichtbuch eröffnen, meist Stimmungsbilder ohne Staffage
von Landschaften und Tages- oder Jahreszeiten. Die Gedichte „Wandlung."
„Stadtsommer," „Thauwetter," „Nacht," „Winterabend" sind solche objektive
Lyrik, hervorgegangen aus der reinen Freude am Gegenstande, dem ruhigen
Genuß des Daseins. Auch für die Liebe hat Saars Lyrik eigne Töne gefunden,
doch schlagt hier meist der Novellist durch. Er liefert ein Charakterbild
des geliebten Mädchens; nicht ans dem erotischen Gefühl, sondern ans der
kühleren Analyse des Charcikteristikcrs sind solche Frauenbilder entstanden:
halb znständlich subjektiv, halb episch gestaltend. Es ist der Mann aus der
Gesellschaft, der hier spricht. Wie er das typisch-moderne Weib auffaßt, zeigt
das Gedicht „Stella." Schön, reich, gebildet, geistreich, fesselnd, tritt Stella
in den Saal in den Kreis der Verehrer ein.

Und dennoch — rings gefeiert lauten Preises,
Erfüllst du mich mit einem bittren Schmerz;
Denn sich, ich ahn' es — besser noch, ich weis; es:
Es schlägt in deiner zarten Brust kein Herz.
Aus Hirn und Nerven blos; besteht dein Wesen,
Es ist dein Blut nur ein besondrer Saft;
Es giebt kein Buch, in dem du nicht gelesen —
Doch fehlt die Tiefe dir der Leidenschaft.
Zwar spricht man auch von deinen heißen Sinnen,
Von diesem und von jenem Seelenkampf —
Ich aber kenne dieses irre Minnen,
Ekstase halb, halb ungestümer Kampf.
Bei jenes Meisters „Triften und Isolde"
Wirst in geheimer Fiber du erregt,
Indes dich nie mit seinem läutern Golde
Ein schlicht empfundnes Manneswort bewegt.
Vergieb! Kein Vorwurf liegt in diesen Worten;
Du bist die echte Tochter deiner Zeit —
Der Zeit, die eines neuen Daseins Pforten
Erschlossen hat, mit der Natur in: Streit.
Wohin sie führt, die ungeduldig schnelle,
Ich weiß es nicht — verschleiert liegt die Bahn;
Du aber stehst bereits an ihrer Schwelle
Und leuchtest strahlend, wie ein Stern, voran!

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[0629] Neue Lyrik. Noch tiefer sollst du jene doch verachten, Die stets AltNre für die Kunst begehren, Um sich zur Gottheit selber frech zu stempeln. Mit andern Worten, Saar bekennnt mit seiner Zeit: die Kunst ist nicht der Mittelpunkt des Lebens mehr, wir sind kein ästhetisches Zeitalter mehr. So wie er also Pessimist ist, bekennt er sich anch zum Realismus der Gegenwart. Seine Religiosität beschränkt sich auf einen vagen Naturkultus und auf das praktische Gebot der Liebe. Aus dieser Gesinnung heraus siud die Lieder ent¬ standen, die das Gedichtbuch eröffnen, meist Stimmungsbilder ohne Staffage von Landschaften und Tages- oder Jahreszeiten. Die Gedichte „Wandlung." „Stadtsommer," „Thauwetter," „Nacht," „Winterabend" sind solche objektive Lyrik, hervorgegangen aus der reinen Freude am Gegenstande, dem ruhigen Genuß des Daseins. Auch für die Liebe hat Saars Lyrik eigne Töne gefunden, doch schlagt hier meist der Novellist durch. Er liefert ein Charakterbild des geliebten Mädchens; nicht ans dem erotischen Gefühl, sondern ans der kühleren Analyse des Charcikteristikcrs sind solche Frauenbilder entstanden: halb znständlich subjektiv, halb episch gestaltend. Es ist der Mann aus der Gesellschaft, der hier spricht. Wie er das typisch-moderne Weib auffaßt, zeigt das Gedicht „Stella." Schön, reich, gebildet, geistreich, fesselnd, tritt Stella in den Saal in den Kreis der Verehrer ein. Und dennoch — rings gefeiert lauten Preises, Erfüllst du mich mit einem bittren Schmerz; Denn sich, ich ahn' es — besser noch, ich weis; es: Es schlägt in deiner zarten Brust kein Herz. Aus Hirn und Nerven blos; besteht dein Wesen, Es ist dein Blut nur ein besondrer Saft; Es giebt kein Buch, in dem du nicht gelesen — Doch fehlt die Tiefe dir der Leidenschaft. Zwar spricht man auch von deinen heißen Sinnen, Von diesem und von jenem Seelenkampf — Ich aber kenne dieses irre Minnen, Ekstase halb, halb ungestümer Kampf. Bei jenes Meisters „Triften und Isolde" Wirst in geheimer Fiber du erregt, Indes dich nie mit seinem läutern Golde Ein schlicht empfundnes Manneswort bewegt. Vergieb! Kein Vorwurf liegt in diesen Worten; Du bist die echte Tochter deiner Zeit — Der Zeit, die eines neuen Daseins Pforten Erschlossen hat, mit der Natur in: Streit. Wohin sie führt, die ungeduldig schnelle, Ich weiß es nicht — verschleiert liegt die Bahn; Du aber stehst bereits an ihrer Schwelle Und leuchtest strahlend, wie ein Stern, voran!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/629>, abgerufen am 28.07.2024.