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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neue Lyrik.

Schaffens in ungewöhnlicher Weise zu Herzen genommen. Seine Klagen über
den Undank der Welt oder, vielleicht zutreffender, der "Gesellschaft" gegen ihren
Dichter machen sich in vielen Sonetten und "freien Rhythmen" Luft. Er hat
Novellen geschrieben, deren einzelne besondern Beifall, aber wenig Verbreitung
gefunden haben; er hat sich auf dem dramatischen Gebiete versucht, das Lob
Grillpcirzcrs gehört, ohne auf dem Theater sich festsetzen zu können; er hat als
Lyriker eine eigne charakteristische Physiognomie, er hat als solcher neue Töne
angeschlagen, und in engern Kreisen wurde dies auch anerkannt. Aber der
Ruhm, die große Volkstümlichkeit blieben aus, und der Dichter, dessen ganzes
Dasein auf diesen Erfolg gestellt war, zog sich grollend von der Welt zurück, die
ihn nicht zu schätzen wußte. Allerdings trug auch dazu Saars eigenartiges Gemüt
bei. Es ist ohne Zweifel das eines echten Dichters, von naiver Empfänglich¬
keit für die Schönheit der Natur und des Weibes, von hingebungsvollem Zart¬
gefühl, von sittlichem Idealismus erfüllt, aber es ist auch nicht frei von einem
Hange zur Selbstquälerei, zur Hypochondrie, und in allem Leichtsinn ist es doch
geneigt, viele Dinge schwerer zu nehmen, als sie verdienen. So frei, um humo¬
ristisch über sich selbst hinwegzuschauen, ist dieses Gemüt nicht, es nimmt alles,
die Liebe und den Haß, die Überzeugung und die Kunst, bitter ernst. In seiner
Gewissenhaftigkeit wendet es das Mißtrauen lieber gegen sich selbst, als gegen die
andern, und man begreift, welche Unsumme von Schwermut ein solches Herz zu
ertragen hatte, wie oft ihm das freie Urteil durch den nagenden Gedanken an die
eignen Schwäche gebunden war. Zwischen den äußersten Gegensätzen heraus¬
fordernden Selbstgefühls und verzagenden Mißtrauens gegen sich selbst mußte
sich dieses Herz bewegen. Nichts ist ihm fremder als olympischer Gleichmut,
als nüchterne Betrachtung. Bezaubernd und abstoßend, entzückend heiter und
beängstigend mutlos, bis ins Pathologische merkwürdig mußte solch ein Na¬
turell sich darstellen, das keine Verstandesbildung je ins Gleichgewicht des Weisen
bringen konnte, das vielmehr gequält durch namenlos unglückliche Zufälle nie
zu einer Beruhigung kommen konnte. Diese innere Geschichte lesen wir aus
der Abteilung des Saarschen Gedichtenbuches: "Aus qualvollen Tagen" heraus;
sie ist mehr psychologisch als lyrisch bedeutsam. Wie ernst es diesem Manne um
die Kunst zu thun war, und zugleich welche fortreißende Gewalt sein lyrischer
Ton haben kann, zeigt eines seiner schönsten Gedichte: "Gebet."


[Beginn Spaltensatz] Jahr um Jahr hab' ich gerungen
Und erlitten Schmerz um Schmerz;
Aber stark und unbczwungcn
Hielt sich mein gequältes Herz. Wie sich auch die Wolken ballten,
Wie das Leben sich verschwor --
Mit stets reinerem Entfalten
Schwang sich still mein Geist empor. [Spaltenumbruch] Treu erglühend sür das Echte,
Hab' ich fast das Ziel erreicht;
Blickt mich an, ihr co'gen Mächte:
Dieser Scheitel ist gebleicht. Und die Flamme meines Lebens
Neigt sich mählich zum Verglühn --
Gönnt mir noch den Rest des Strebens,
Gönnt mir noch ein letztes Mühn. [Ende Spaltensatz]

Neue Lyrik.

Schaffens in ungewöhnlicher Weise zu Herzen genommen. Seine Klagen über
den Undank der Welt oder, vielleicht zutreffender, der „Gesellschaft" gegen ihren
Dichter machen sich in vielen Sonetten und „freien Rhythmen" Luft. Er hat
Novellen geschrieben, deren einzelne besondern Beifall, aber wenig Verbreitung
gefunden haben; er hat sich auf dem dramatischen Gebiete versucht, das Lob
Grillpcirzcrs gehört, ohne auf dem Theater sich festsetzen zu können; er hat als
Lyriker eine eigne charakteristische Physiognomie, er hat als solcher neue Töne
angeschlagen, und in engern Kreisen wurde dies auch anerkannt. Aber der
Ruhm, die große Volkstümlichkeit blieben aus, und der Dichter, dessen ganzes
Dasein auf diesen Erfolg gestellt war, zog sich grollend von der Welt zurück, die
ihn nicht zu schätzen wußte. Allerdings trug auch dazu Saars eigenartiges Gemüt
bei. Es ist ohne Zweifel das eines echten Dichters, von naiver Empfänglich¬
keit für die Schönheit der Natur und des Weibes, von hingebungsvollem Zart¬
gefühl, von sittlichem Idealismus erfüllt, aber es ist auch nicht frei von einem
Hange zur Selbstquälerei, zur Hypochondrie, und in allem Leichtsinn ist es doch
geneigt, viele Dinge schwerer zu nehmen, als sie verdienen. So frei, um humo¬
ristisch über sich selbst hinwegzuschauen, ist dieses Gemüt nicht, es nimmt alles,
die Liebe und den Haß, die Überzeugung und die Kunst, bitter ernst. In seiner
Gewissenhaftigkeit wendet es das Mißtrauen lieber gegen sich selbst, als gegen die
andern, und man begreift, welche Unsumme von Schwermut ein solches Herz zu
ertragen hatte, wie oft ihm das freie Urteil durch den nagenden Gedanken an die
eignen Schwäche gebunden war. Zwischen den äußersten Gegensätzen heraus¬
fordernden Selbstgefühls und verzagenden Mißtrauens gegen sich selbst mußte
sich dieses Herz bewegen. Nichts ist ihm fremder als olympischer Gleichmut,
als nüchterne Betrachtung. Bezaubernd und abstoßend, entzückend heiter und
beängstigend mutlos, bis ins Pathologische merkwürdig mußte solch ein Na¬
turell sich darstellen, das keine Verstandesbildung je ins Gleichgewicht des Weisen
bringen konnte, das vielmehr gequält durch namenlos unglückliche Zufälle nie
zu einer Beruhigung kommen konnte. Diese innere Geschichte lesen wir aus
der Abteilung des Saarschen Gedichtenbuches: „Aus qualvollen Tagen" heraus;
sie ist mehr psychologisch als lyrisch bedeutsam. Wie ernst es diesem Manne um
die Kunst zu thun war, und zugleich welche fortreißende Gewalt sein lyrischer
Ton haben kann, zeigt eines seiner schönsten Gedichte: „Gebet."


[Beginn Spaltensatz] Jahr um Jahr hab' ich gerungen
Und erlitten Schmerz um Schmerz;
Aber stark und unbczwungcn
Hielt sich mein gequältes Herz. Wie sich auch die Wolken ballten,
Wie das Leben sich verschwor —
Mit stets reinerem Entfalten
Schwang sich still mein Geist empor. [Spaltenumbruch] Treu erglühend sür das Echte,
Hab' ich fast das Ziel erreicht;
Blickt mich an, ihr co'gen Mächte:
Dieser Scheitel ist gebleicht. Und die Flamme meines Lebens
Neigt sich mählich zum Verglühn —
Gönnt mir noch den Rest des Strebens,
Gönnt mir noch ein letztes Mühn. [Ende Spaltensatz]

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[0627] Neue Lyrik. Schaffens in ungewöhnlicher Weise zu Herzen genommen. Seine Klagen über den Undank der Welt oder, vielleicht zutreffender, der „Gesellschaft" gegen ihren Dichter machen sich in vielen Sonetten und „freien Rhythmen" Luft. Er hat Novellen geschrieben, deren einzelne besondern Beifall, aber wenig Verbreitung gefunden haben; er hat sich auf dem dramatischen Gebiete versucht, das Lob Grillpcirzcrs gehört, ohne auf dem Theater sich festsetzen zu können; er hat als Lyriker eine eigne charakteristische Physiognomie, er hat als solcher neue Töne angeschlagen, und in engern Kreisen wurde dies auch anerkannt. Aber der Ruhm, die große Volkstümlichkeit blieben aus, und der Dichter, dessen ganzes Dasein auf diesen Erfolg gestellt war, zog sich grollend von der Welt zurück, die ihn nicht zu schätzen wußte. Allerdings trug auch dazu Saars eigenartiges Gemüt bei. Es ist ohne Zweifel das eines echten Dichters, von naiver Empfänglich¬ keit für die Schönheit der Natur und des Weibes, von hingebungsvollem Zart¬ gefühl, von sittlichem Idealismus erfüllt, aber es ist auch nicht frei von einem Hange zur Selbstquälerei, zur Hypochondrie, und in allem Leichtsinn ist es doch geneigt, viele Dinge schwerer zu nehmen, als sie verdienen. So frei, um humo¬ ristisch über sich selbst hinwegzuschauen, ist dieses Gemüt nicht, es nimmt alles, die Liebe und den Haß, die Überzeugung und die Kunst, bitter ernst. In seiner Gewissenhaftigkeit wendet es das Mißtrauen lieber gegen sich selbst, als gegen die andern, und man begreift, welche Unsumme von Schwermut ein solches Herz zu ertragen hatte, wie oft ihm das freie Urteil durch den nagenden Gedanken an die eignen Schwäche gebunden war. Zwischen den äußersten Gegensätzen heraus¬ fordernden Selbstgefühls und verzagenden Mißtrauens gegen sich selbst mußte sich dieses Herz bewegen. Nichts ist ihm fremder als olympischer Gleichmut, als nüchterne Betrachtung. Bezaubernd und abstoßend, entzückend heiter und beängstigend mutlos, bis ins Pathologische merkwürdig mußte solch ein Na¬ turell sich darstellen, das keine Verstandesbildung je ins Gleichgewicht des Weisen bringen konnte, das vielmehr gequält durch namenlos unglückliche Zufälle nie zu einer Beruhigung kommen konnte. Diese innere Geschichte lesen wir aus der Abteilung des Saarschen Gedichtenbuches: „Aus qualvollen Tagen" heraus; sie ist mehr psychologisch als lyrisch bedeutsam. Wie ernst es diesem Manne um die Kunst zu thun war, und zugleich welche fortreißende Gewalt sein lyrischer Ton haben kann, zeigt eines seiner schönsten Gedichte: „Gebet." Jahr um Jahr hab' ich gerungen Und erlitten Schmerz um Schmerz; Aber stark und unbczwungcn Hielt sich mein gequältes Herz. Wie sich auch die Wolken ballten, Wie das Leben sich verschwor — Mit stets reinerem Entfalten Schwang sich still mein Geist empor. Treu erglühend sür das Echte, Hab' ich fast das Ziel erreicht; Blickt mich an, ihr co'gen Mächte: Dieser Scheitel ist gebleicht. Und die Flamme meines Lebens Neigt sich mählich zum Verglühn — Gönnt mir noch den Rest des Strebens, Gönnt mir noch ein letztes Mühn.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/627>, abgerufen am 27.07.2024.