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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neue Lyrik.

ist noch eine ungleich zarter organisirte Erscheinung. Und es hängt mit der
ganzen Entwicklung unsers demokratischen Zeitgeistes zusammen, der den Wert
des Einzelnen gegenüber der Gewalt des "Publikums," d. h. der Masse, auf
ein geringes beschränkt, daß man vor dieser ewig unerforschlichen Macht, vor
diesem wogenden Chaos einen übergroßen Respekt hat und nicht leicht diesem
Vorwürfe macht, wenn es einen Einzelnen nicht genügend schätzt. In seiner
anregenden Poetik hat Wilhelm Scherer so recht aus dem Geiste der Gegenwart
heraus ein eignes Kapitel über das Wesen und die Bedingungen des littera¬
rischen Erfolges geschrieben, eben aus der richtigen Erkenntnis des eigenartigen
Wesens der Poesie, welche immer im Zusammenhange von Künstler und Pu¬
blikum, von dem wirkenden Subjekt auf das empfangende Objekt betrachtet werden
soll. Es ist ein noch wenig erforschtes Gebiet von Thatsachen des historischen
Lebens, diese Geschichte der litterarischen Erfolge: eine dramatisch bewegte Ge¬
schichte, die ihre Tragödien und ihre Komödien hat, die wahrhaft erschüttern
und ergrimmt auflachen machen kann. Aber es ist ein Gebiet gewaltiger Mächte,
die des Einzelnen Widerstand zermalmen können, um ihm nie oder erst spät,
vielleicht gar ein Jahrhundert nach seinem Tode die Märtyrerkrone der Unsterb¬
lichkeit zu reichen, während sie manchem andern, der ihnen zu schmeicheln weiß,
oder gar dem, der sie zu lenken versteht, bei Lebzeiten Gold und Purpur in
Fülle schenken. Verschieden ist die Haltung, welche die einzelnen mit dieser
Macht ("Publikum" heute genannt) ringenden Dichter zu ihr einnehmen. Der eine
hüllt sich in das Gewand stoischer Selbstgenügsamkeit, der andre scherzt sich
leichtblütig über den Unverstand der Menge hinweg; wenige haben das Glück
des Sonntagskindes, unbewußt den Ton zu treffen, den sie hören will; wieder
andre, und zu diesen gehört auch Ferdinand von Saar, schlagen mit den Keulen
grimmiger Weltverachtung auf diese nichts weniger als sentimentale Macht
los -- jeder handelt nach seinem Naturell, und selbst aus diesem Streite ent¬
steht eine Art von Poesie, weil er die Tiefe der Persönlichkeit aufregt und alles
zu Tage fördert, was in ihr schlummert. Ein Urteil über das Recht im Kampfe
muß vom Zuschauer zurückgehalten werden. Dergleichen darf man beobachten,
aber nicht kritisiren. In diesem Kampfe können beide Parteien Recht haben.
Der Einzelne aber, der sich an ein Urteil über das Werk des Dichters hinan¬
wagt, kann nicht anders, als sich seiner Subjektivität bewußt bleiben. Er kann
nur den Versuch wagen, über die rein ästhetischen und allgemein sittlichen Eigen¬
schaften des Werkes aus einer Erfahrung zu urteilen, die durch die häufigere
Beschäftigung mit der Kunst bereichert und verfeinert wurde. Den Erfolg des
Werkes muß sich der Dichter selber machen, und bestenfalls kann ihm noch
eine Autorität zu Hilfe kommen, die ja ebenso lange ein mitwirkendes Ele¬
ment des litterarischen Lebens bleiben wird, als es überhaupt noch Menschen
geben wird.

Ferdinand von Saar hat sich die verhältnismäßige Erfolglosigkeit seines


Neue Lyrik.

ist noch eine ungleich zarter organisirte Erscheinung. Und es hängt mit der
ganzen Entwicklung unsers demokratischen Zeitgeistes zusammen, der den Wert
des Einzelnen gegenüber der Gewalt des „Publikums," d. h. der Masse, auf
ein geringes beschränkt, daß man vor dieser ewig unerforschlichen Macht, vor
diesem wogenden Chaos einen übergroßen Respekt hat und nicht leicht diesem
Vorwürfe macht, wenn es einen Einzelnen nicht genügend schätzt. In seiner
anregenden Poetik hat Wilhelm Scherer so recht aus dem Geiste der Gegenwart
heraus ein eignes Kapitel über das Wesen und die Bedingungen des littera¬
rischen Erfolges geschrieben, eben aus der richtigen Erkenntnis des eigenartigen
Wesens der Poesie, welche immer im Zusammenhange von Künstler und Pu¬
blikum, von dem wirkenden Subjekt auf das empfangende Objekt betrachtet werden
soll. Es ist ein noch wenig erforschtes Gebiet von Thatsachen des historischen
Lebens, diese Geschichte der litterarischen Erfolge: eine dramatisch bewegte Ge¬
schichte, die ihre Tragödien und ihre Komödien hat, die wahrhaft erschüttern
und ergrimmt auflachen machen kann. Aber es ist ein Gebiet gewaltiger Mächte,
die des Einzelnen Widerstand zermalmen können, um ihm nie oder erst spät,
vielleicht gar ein Jahrhundert nach seinem Tode die Märtyrerkrone der Unsterb¬
lichkeit zu reichen, während sie manchem andern, der ihnen zu schmeicheln weiß,
oder gar dem, der sie zu lenken versteht, bei Lebzeiten Gold und Purpur in
Fülle schenken. Verschieden ist die Haltung, welche die einzelnen mit dieser
Macht („Publikum" heute genannt) ringenden Dichter zu ihr einnehmen. Der eine
hüllt sich in das Gewand stoischer Selbstgenügsamkeit, der andre scherzt sich
leichtblütig über den Unverstand der Menge hinweg; wenige haben das Glück
des Sonntagskindes, unbewußt den Ton zu treffen, den sie hören will; wieder
andre, und zu diesen gehört auch Ferdinand von Saar, schlagen mit den Keulen
grimmiger Weltverachtung auf diese nichts weniger als sentimentale Macht
los — jeder handelt nach seinem Naturell, und selbst aus diesem Streite ent¬
steht eine Art von Poesie, weil er die Tiefe der Persönlichkeit aufregt und alles
zu Tage fördert, was in ihr schlummert. Ein Urteil über das Recht im Kampfe
muß vom Zuschauer zurückgehalten werden. Dergleichen darf man beobachten,
aber nicht kritisiren. In diesem Kampfe können beide Parteien Recht haben.
Der Einzelne aber, der sich an ein Urteil über das Werk des Dichters hinan¬
wagt, kann nicht anders, als sich seiner Subjektivität bewußt bleiben. Er kann
nur den Versuch wagen, über die rein ästhetischen und allgemein sittlichen Eigen¬
schaften des Werkes aus einer Erfahrung zu urteilen, die durch die häufigere
Beschäftigung mit der Kunst bereichert und verfeinert wurde. Den Erfolg des
Werkes muß sich der Dichter selber machen, und bestenfalls kann ihm noch
eine Autorität zu Hilfe kommen, die ja ebenso lange ein mitwirkendes Ele¬
ment des litterarischen Lebens bleiben wird, als es überhaupt noch Menschen
geben wird.

Ferdinand von Saar hat sich die verhältnismäßige Erfolglosigkeit seines


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[0626] Neue Lyrik. ist noch eine ungleich zarter organisirte Erscheinung. Und es hängt mit der ganzen Entwicklung unsers demokratischen Zeitgeistes zusammen, der den Wert des Einzelnen gegenüber der Gewalt des „Publikums," d. h. der Masse, auf ein geringes beschränkt, daß man vor dieser ewig unerforschlichen Macht, vor diesem wogenden Chaos einen übergroßen Respekt hat und nicht leicht diesem Vorwürfe macht, wenn es einen Einzelnen nicht genügend schätzt. In seiner anregenden Poetik hat Wilhelm Scherer so recht aus dem Geiste der Gegenwart heraus ein eignes Kapitel über das Wesen und die Bedingungen des littera¬ rischen Erfolges geschrieben, eben aus der richtigen Erkenntnis des eigenartigen Wesens der Poesie, welche immer im Zusammenhange von Künstler und Pu¬ blikum, von dem wirkenden Subjekt auf das empfangende Objekt betrachtet werden soll. Es ist ein noch wenig erforschtes Gebiet von Thatsachen des historischen Lebens, diese Geschichte der litterarischen Erfolge: eine dramatisch bewegte Ge¬ schichte, die ihre Tragödien und ihre Komödien hat, die wahrhaft erschüttern und ergrimmt auflachen machen kann. Aber es ist ein Gebiet gewaltiger Mächte, die des Einzelnen Widerstand zermalmen können, um ihm nie oder erst spät, vielleicht gar ein Jahrhundert nach seinem Tode die Märtyrerkrone der Unsterb¬ lichkeit zu reichen, während sie manchem andern, der ihnen zu schmeicheln weiß, oder gar dem, der sie zu lenken versteht, bei Lebzeiten Gold und Purpur in Fülle schenken. Verschieden ist die Haltung, welche die einzelnen mit dieser Macht („Publikum" heute genannt) ringenden Dichter zu ihr einnehmen. Der eine hüllt sich in das Gewand stoischer Selbstgenügsamkeit, der andre scherzt sich leichtblütig über den Unverstand der Menge hinweg; wenige haben das Glück des Sonntagskindes, unbewußt den Ton zu treffen, den sie hören will; wieder andre, und zu diesen gehört auch Ferdinand von Saar, schlagen mit den Keulen grimmiger Weltverachtung auf diese nichts weniger als sentimentale Macht los — jeder handelt nach seinem Naturell, und selbst aus diesem Streite ent¬ steht eine Art von Poesie, weil er die Tiefe der Persönlichkeit aufregt und alles zu Tage fördert, was in ihr schlummert. Ein Urteil über das Recht im Kampfe muß vom Zuschauer zurückgehalten werden. Dergleichen darf man beobachten, aber nicht kritisiren. In diesem Kampfe können beide Parteien Recht haben. Der Einzelne aber, der sich an ein Urteil über das Werk des Dichters hinan¬ wagt, kann nicht anders, als sich seiner Subjektivität bewußt bleiben. Er kann nur den Versuch wagen, über die rein ästhetischen und allgemein sittlichen Eigen¬ schaften des Werkes aus einer Erfahrung zu urteilen, die durch die häufigere Beschäftigung mit der Kunst bereichert und verfeinert wurde. Den Erfolg des Werkes muß sich der Dichter selber machen, und bestenfalls kann ihm noch eine Autorität zu Hilfe kommen, die ja ebenso lange ein mitwirkendes Ele¬ ment des litterarischen Lebens bleiben wird, als es überhaupt noch Menschen geben wird. Ferdinand von Saar hat sich die verhältnismäßige Erfolglosigkeit seines

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/626>, abgerufen am 27.07.2024.