Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ricks Lyhne.

Ricks sehr wunderte, da er wußte, daß das Landhaus ihres Vaters nicht weit
davon entfernt lag. An einem der nächsten Tage wollte er einmal da hinaus.

Aber schon am andern Morgen erhielt er ein Billet von Frau Voye, worin
sie ihn zu einer Zusammenkunft in ihrer Stadtwohnung bestellte. Dreiviertel
auf eins solle er kommen, müsse er kommen. Sie wolle ihm sagen, weshalb,
falls er es nicht schon wisse. Wußte er es bereits? Er dürfe sie nicht falsch
beurteilen, er kenne sie ja. Warum sollte er auch die Sache so auffassen, wie
es plebejische Naturen thun würden? Das würde er doch nicht? Sie seien
ja nicht so wie andre. Wenn er sie nur verstehen wollte! Ricks, Ricks!

Dieser Brief versetzte ihn in eine ungeheure Spannung, und er erinnerte
sich plötzlich voller Unruhe, daß die Etatsrcitiu ihn neulich so spöttisch, mitleidig
angesehen und dann gelächelt hatte und geschwiegen, ja sie hatte ganz eigen¬
tümlich geschwiegen. Was konnte es nur sein? Ja, was in aller Welt konnte
es nur sein?

Die Stimmung, die ihn von Frau Boye ferngehalten hatte, war ver¬
schwunden. Er verstand sie nicht einmal mehr, er fürchtete sich. Hätten sie
einander nur wie andre vernünftige Menschen geschrieben! Warum hatten sie
es denn eigentlich nicht gethan? Seine Zeit war doch wirklich nicht zu sehr
in Anspruch genommen gewesen. Es war auch zu wunderbar, daß er sich stets
von dem Orte beeinflussen ließ, an dem er sich gerade befand, und daß er
alles vergaß, was ihm fern lag. Er vergaß es nicht gerade, aber er wies
es weit von sich, ließ es von dem Zunächstliegenden begraben wie unter Berges¬
lasten. Man hätte kaum geglaubt, daß er Phantasie besaß!

Endlich! Frau Boye schloß ihm die Eingangsthür auf, ehe er noch ge¬
schellt hatte. Sie sagte nichts, reichte ihm nur die Hand zu einem langen Hand¬
drucke des Beileides; die Zeitungen hatten ja seinen Verlust gemeldet. Auch
Ricks sagte nichts, und so gingen sie schweigend durch das erste Zimmer
zwischen zwei Reihen von Stühlen mit rotgestreifteu Bezügen hindurch. Die
Kronleuchter waren verhängt und die Fenster mit Kreide geweißt. Im Wohn¬
zimmer war alles wie gewöhnlich, nur waren die Svmmerläden vor den ge¬
öffneten Fenstern herabgelassen und bewegten sich in dein leisen Luftzuge klappernd
mit kleinen einförmigen Schlägen gegen die Fensterkreuze. Die Reflexlichter des
sonnenbeschienenen Kanals hinterem gedämpft durch die gelben Holzstäbe und
bildeten oben an der Decke eine unruhige, wirre Zeichnung von Wellen¬
linien, zitternd wie die zitternden Wogen da draußen; sonst war alles so weich
und still, so erwartungsvoll mit angehaltenem Atem.

Frau Boye konnte nicht recht mit sich einig werden, wo sie sitzen wollte,
endlich entschloß sie sich sür den Schaukelstuhl; sie wischte eifrig den Staub
mit dem Taschentuche davon ab, stellte sich dann aber hinter dem Stuhle auf,
die Hände auf die Lehne gestützt. Sie hatte ihre Handschuhe noch anbehalten
und nur den einen Ärmel ihrer schwarzen Mantille abgezogen, die sie über


Ricks Lyhne.

Ricks sehr wunderte, da er wußte, daß das Landhaus ihres Vaters nicht weit
davon entfernt lag. An einem der nächsten Tage wollte er einmal da hinaus.

Aber schon am andern Morgen erhielt er ein Billet von Frau Voye, worin
sie ihn zu einer Zusammenkunft in ihrer Stadtwohnung bestellte. Dreiviertel
auf eins solle er kommen, müsse er kommen. Sie wolle ihm sagen, weshalb,
falls er es nicht schon wisse. Wußte er es bereits? Er dürfe sie nicht falsch
beurteilen, er kenne sie ja. Warum sollte er auch die Sache so auffassen, wie
es plebejische Naturen thun würden? Das würde er doch nicht? Sie seien
ja nicht so wie andre. Wenn er sie nur verstehen wollte! Ricks, Ricks!

Dieser Brief versetzte ihn in eine ungeheure Spannung, und er erinnerte
sich plötzlich voller Unruhe, daß die Etatsrcitiu ihn neulich so spöttisch, mitleidig
angesehen und dann gelächelt hatte und geschwiegen, ja sie hatte ganz eigen¬
tümlich geschwiegen. Was konnte es nur sein? Ja, was in aller Welt konnte
es nur sein?

Die Stimmung, die ihn von Frau Boye ferngehalten hatte, war ver¬
schwunden. Er verstand sie nicht einmal mehr, er fürchtete sich. Hätten sie
einander nur wie andre vernünftige Menschen geschrieben! Warum hatten sie
es denn eigentlich nicht gethan? Seine Zeit war doch wirklich nicht zu sehr
in Anspruch genommen gewesen. Es war auch zu wunderbar, daß er sich stets
von dem Orte beeinflussen ließ, an dem er sich gerade befand, und daß er
alles vergaß, was ihm fern lag. Er vergaß es nicht gerade, aber er wies
es weit von sich, ließ es von dem Zunächstliegenden begraben wie unter Berges¬
lasten. Man hätte kaum geglaubt, daß er Phantasie besaß!

Endlich! Frau Boye schloß ihm die Eingangsthür auf, ehe er noch ge¬
schellt hatte. Sie sagte nichts, reichte ihm nur die Hand zu einem langen Hand¬
drucke des Beileides; die Zeitungen hatten ja seinen Verlust gemeldet. Auch
Ricks sagte nichts, und so gingen sie schweigend durch das erste Zimmer
zwischen zwei Reihen von Stühlen mit rotgestreifteu Bezügen hindurch. Die
Kronleuchter waren verhängt und die Fenster mit Kreide geweißt. Im Wohn¬
zimmer war alles wie gewöhnlich, nur waren die Svmmerläden vor den ge¬
öffneten Fenstern herabgelassen und bewegten sich in dein leisen Luftzuge klappernd
mit kleinen einförmigen Schlägen gegen die Fensterkreuze. Die Reflexlichter des
sonnenbeschienenen Kanals hinterem gedämpft durch die gelben Holzstäbe und
bildeten oben an der Decke eine unruhige, wirre Zeichnung von Wellen¬
linien, zitternd wie die zitternden Wogen da draußen; sonst war alles so weich
und still, so erwartungsvoll mit angehaltenem Atem.

Frau Boye konnte nicht recht mit sich einig werden, wo sie sitzen wollte,
endlich entschloß sie sich sür den Schaukelstuhl; sie wischte eifrig den Staub
mit dem Taschentuche davon ab, stellte sich dann aber hinter dem Stuhle auf,
die Hände auf die Lehne gestützt. Sie hatte ihre Handschuhe noch anbehalten
und nur den einen Ärmel ihrer schwarzen Mantille abgezogen, die sie über


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0603" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203380"/>
            <fw type="header" place="top"> Ricks Lyhne.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1887" prev="#ID_1886"> Ricks sehr wunderte, da er wußte, daß das Landhaus ihres Vaters nicht weit<lb/>
davon entfernt lag. An einem der nächsten Tage wollte er einmal da hinaus.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1888"> Aber schon am andern Morgen erhielt er ein Billet von Frau Voye, worin<lb/>
sie ihn zu einer Zusammenkunft in ihrer Stadtwohnung bestellte. Dreiviertel<lb/>
auf eins solle er kommen, müsse er kommen. Sie wolle ihm sagen, weshalb,<lb/>
falls er es nicht schon wisse. Wußte er es bereits? Er dürfe sie nicht falsch<lb/>
beurteilen, er kenne sie ja. Warum sollte er auch die Sache so auffassen, wie<lb/>
es plebejische Naturen thun würden? Das würde er doch nicht? Sie seien<lb/>
ja nicht so wie andre.  Wenn er sie nur verstehen wollte!  Ricks, Ricks!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1889"> Dieser Brief versetzte ihn in eine ungeheure Spannung, und er erinnerte<lb/>
sich plötzlich voller Unruhe, daß die Etatsrcitiu ihn neulich so spöttisch, mitleidig<lb/>
angesehen und dann gelächelt hatte und geschwiegen, ja sie hatte ganz eigen¬<lb/>
tümlich geschwiegen. Was konnte es nur sein? Ja, was in aller Welt konnte<lb/>
es nur sein?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1890"> Die Stimmung, die ihn von Frau Boye ferngehalten hatte, war ver¬<lb/>
schwunden. Er verstand sie nicht einmal mehr, er fürchtete sich. Hätten sie<lb/>
einander nur wie andre vernünftige Menschen geschrieben! Warum hatten sie<lb/>
es denn eigentlich nicht gethan? Seine Zeit war doch wirklich nicht zu sehr<lb/>
in Anspruch genommen gewesen. Es war auch zu wunderbar, daß er sich stets<lb/>
von dem Orte beeinflussen ließ, an dem er sich gerade befand, und daß er<lb/>
alles vergaß, was ihm fern lag. Er vergaß es nicht gerade, aber er wies<lb/>
es weit von sich, ließ es von dem Zunächstliegenden begraben wie unter Berges¬<lb/>
lasten.  Man hätte kaum geglaubt, daß er Phantasie besaß!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1891"> Endlich! Frau Boye schloß ihm die Eingangsthür auf, ehe er noch ge¬<lb/>
schellt hatte. Sie sagte nichts, reichte ihm nur die Hand zu einem langen Hand¬<lb/>
drucke des Beileides; die Zeitungen hatten ja seinen Verlust gemeldet. Auch<lb/>
Ricks sagte nichts, und so gingen sie schweigend durch das erste Zimmer<lb/>
zwischen zwei Reihen von Stühlen mit rotgestreifteu Bezügen hindurch. Die<lb/>
Kronleuchter waren verhängt und die Fenster mit Kreide geweißt. Im Wohn¬<lb/>
zimmer war alles wie gewöhnlich, nur waren die Svmmerläden vor den ge¬<lb/>
öffneten Fenstern herabgelassen und bewegten sich in dein leisen Luftzuge klappernd<lb/>
mit kleinen einförmigen Schlägen gegen die Fensterkreuze. Die Reflexlichter des<lb/>
sonnenbeschienenen Kanals hinterem gedämpft durch die gelben Holzstäbe und<lb/>
bildeten oben an der Decke eine unruhige, wirre Zeichnung von Wellen¬<lb/>
linien, zitternd wie die zitternden Wogen da draußen; sonst war alles so weich<lb/>
und still, so erwartungsvoll mit angehaltenem Atem.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1892" next="#ID_1893"> Frau Boye konnte nicht recht mit sich einig werden, wo sie sitzen wollte,<lb/>
endlich entschloß sie sich sür den Schaukelstuhl; sie wischte eifrig den Staub<lb/>
mit dem Taschentuche davon ab, stellte sich dann aber hinter dem Stuhle auf,<lb/>
die Hände auf die Lehne gestützt. Sie hatte ihre Handschuhe noch anbehalten<lb/>
und nur den einen Ärmel ihrer schwarzen Mantille abgezogen, die sie über</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0603] Ricks Lyhne. Ricks sehr wunderte, da er wußte, daß das Landhaus ihres Vaters nicht weit davon entfernt lag. An einem der nächsten Tage wollte er einmal da hinaus. Aber schon am andern Morgen erhielt er ein Billet von Frau Voye, worin sie ihn zu einer Zusammenkunft in ihrer Stadtwohnung bestellte. Dreiviertel auf eins solle er kommen, müsse er kommen. Sie wolle ihm sagen, weshalb, falls er es nicht schon wisse. Wußte er es bereits? Er dürfe sie nicht falsch beurteilen, er kenne sie ja. Warum sollte er auch die Sache so auffassen, wie es plebejische Naturen thun würden? Das würde er doch nicht? Sie seien ja nicht so wie andre. Wenn er sie nur verstehen wollte! Ricks, Ricks! Dieser Brief versetzte ihn in eine ungeheure Spannung, und er erinnerte sich plötzlich voller Unruhe, daß die Etatsrcitiu ihn neulich so spöttisch, mitleidig angesehen und dann gelächelt hatte und geschwiegen, ja sie hatte ganz eigen¬ tümlich geschwiegen. Was konnte es nur sein? Ja, was in aller Welt konnte es nur sein? Die Stimmung, die ihn von Frau Boye ferngehalten hatte, war ver¬ schwunden. Er verstand sie nicht einmal mehr, er fürchtete sich. Hätten sie einander nur wie andre vernünftige Menschen geschrieben! Warum hatten sie es denn eigentlich nicht gethan? Seine Zeit war doch wirklich nicht zu sehr in Anspruch genommen gewesen. Es war auch zu wunderbar, daß er sich stets von dem Orte beeinflussen ließ, an dem er sich gerade befand, und daß er alles vergaß, was ihm fern lag. Er vergaß es nicht gerade, aber er wies es weit von sich, ließ es von dem Zunächstliegenden begraben wie unter Berges¬ lasten. Man hätte kaum geglaubt, daß er Phantasie besaß! Endlich! Frau Boye schloß ihm die Eingangsthür auf, ehe er noch ge¬ schellt hatte. Sie sagte nichts, reichte ihm nur die Hand zu einem langen Hand¬ drucke des Beileides; die Zeitungen hatten ja seinen Verlust gemeldet. Auch Ricks sagte nichts, und so gingen sie schweigend durch das erste Zimmer zwischen zwei Reihen von Stühlen mit rotgestreifteu Bezügen hindurch. Die Kronleuchter waren verhängt und die Fenster mit Kreide geweißt. Im Wohn¬ zimmer war alles wie gewöhnlich, nur waren die Svmmerläden vor den ge¬ öffneten Fenstern herabgelassen und bewegten sich in dein leisen Luftzuge klappernd mit kleinen einförmigen Schlägen gegen die Fensterkreuze. Die Reflexlichter des sonnenbeschienenen Kanals hinterem gedämpft durch die gelben Holzstäbe und bildeten oben an der Decke eine unruhige, wirre Zeichnung von Wellen¬ linien, zitternd wie die zitternden Wogen da draußen; sonst war alles so weich und still, so erwartungsvoll mit angehaltenem Atem. Frau Boye konnte nicht recht mit sich einig werden, wo sie sitzen wollte, endlich entschloß sie sich sür den Schaukelstuhl; sie wischte eifrig den Staub mit dem Taschentuche davon ab, stellte sich dann aber hinter dem Stuhle auf, die Hände auf die Lehne gestützt. Sie hatte ihre Handschuhe noch anbehalten und nur den einen Ärmel ihrer schwarzen Mantille abgezogen, die sie über

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/603
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/603>, abgerufen am 27.07.2024.