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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die zweite Session des jetzigen Reichstags.

ländlicher Grundstücke den Beweis sieht, daß ja doch die Produktionskosten gedeckt
sein mußten, da man gern noch sei es Pacht, sei es Kaufpreis zuzahle, so heißt das
weiter nichts, als sich damit zufrieden geben, daß das Eigentum, soweit es in Grund
und Boden besteht, enteignet werde. Damit hätte ja das Zentrum seinen Berüh¬
rungspunkt mit den Sozialdemokraten glücklich gefunden, wie es den mit der De¬
mokratie schon längst entdeckt hat. Zu wünschen ist, daß all diesen Bestrebungen
von Zentrum, Freisinn und Sozialdemokraten gegenüber sich die Gemäßigt¬
liberalen nicht berücken lassen durch Redensarten von der Erbitterung der Ar¬
beiterbevölkerung und der Abkehr der kleinen Bürger und Bauern. Erbittert
wird die Arbeiterbevölkerung gemacht nur durch das lügenhafte fortschrittliche
Geschrei von der Notwendigkeit der Brvtverteuerung, die sich die Bäcker nicht
zweimal vordemonstriren lassen; erbittert wird sie durch solche Appelle an die
nackteste Demagogie, wie sie die freisinnigen Blätter erschallen lassen, selbst ein
Blatt wie die Wescrzeitung, wenn sie bei Gelegenheit einer Erörterung der
Laudsturmfrage schreibt: "Doppelt empfindlich ist es, wenn man in demselben
Augenblicke den deutschen Mann nötigt, auch noch für eine Anzahl privilegirter
Privatpersonen unentgeltlich zu arbeiten." Sie zielte damit auf die famose
Rechnung der freisinnigen Redner, daß der Arbeiter durch die erhöhten Zölle
jährlich dreißig Mark mehr für Brot ausgeben müsse, was gleich sei zehn Ar¬
beitstagen, die er im Interesse der Großaristokratie opfern müsse. Wenn ein
Blatt wie die Weserzeituug eine solche Sprache führt, so kann man daraus
sehen, wie weit fanatische Parteidoktrin das Urteil schädigt und den Charakter
verdirbt.

Bei den Verhandlungen über die Getreidezölle war es Windthorst zum
ersten male wieder in dieser Legislaturperiode vergönnt, einen Triumph zu
feiern; er wurde dadurch, daß die Nationalliberalcn nur zum Teil für die
Erhöhung stimmten, wieder einmal Führer des Reichstags und bewies so der
Regierung und den Konservativen die Unentbehrlichkeit des Zentrums auf zoll¬
politischem Gebiete. Ob die Nationalliberalen daran klug gethan haben, den
schlauen Fuchs wieder ins Gehege einzulassen, ist fraglich; daß eine Ahnung
von dem gefährlichen Spiel sie beschlich, ging aus einem Artikel der National-
liberalen Korrespondenz hervor, der ganz richtig aus dem Verlauf der Getreide¬
zollangelegenheit folgerte, daß mit dem Zentrum als einer nur ihr eignes
Frccktionsintereffe berücksichtigenden Partei auch ferner gerechnet werden müsse.
Wir haben das nie anders angesehen. Es ist gut, daß die Nationalliberale
Korrespondenz den Schluß zieht, daß für Konservative und Nationalliberale sich
die selbstverständliche Pflicht ergebe, nach Möglichkeit alles zu vermeiden, was
die in den Febrnarwahlen errungene nationale Mehrheit wieder erschüttern könnte.
Dieses Zusammenhalten ist umso' nötiger, als der Prozeß Cabcmnes wieder
zeigte, einen wie impertinenten Feind wir an Frankreich haben; er bot ein
widerwärtiges Schauspiel unehrenhafter Politik des Hinterhalts. Umso er-


Die zweite Session des jetzigen Reichstags.

ländlicher Grundstücke den Beweis sieht, daß ja doch die Produktionskosten gedeckt
sein mußten, da man gern noch sei es Pacht, sei es Kaufpreis zuzahle, so heißt das
weiter nichts, als sich damit zufrieden geben, daß das Eigentum, soweit es in Grund
und Boden besteht, enteignet werde. Damit hätte ja das Zentrum seinen Berüh¬
rungspunkt mit den Sozialdemokraten glücklich gefunden, wie es den mit der De¬
mokratie schon längst entdeckt hat. Zu wünschen ist, daß all diesen Bestrebungen
von Zentrum, Freisinn und Sozialdemokraten gegenüber sich die Gemäßigt¬
liberalen nicht berücken lassen durch Redensarten von der Erbitterung der Ar¬
beiterbevölkerung und der Abkehr der kleinen Bürger und Bauern. Erbittert
wird die Arbeiterbevölkerung gemacht nur durch das lügenhafte fortschrittliche
Geschrei von der Notwendigkeit der Brvtverteuerung, die sich die Bäcker nicht
zweimal vordemonstriren lassen; erbittert wird sie durch solche Appelle an die
nackteste Demagogie, wie sie die freisinnigen Blätter erschallen lassen, selbst ein
Blatt wie die Wescrzeitung, wenn sie bei Gelegenheit einer Erörterung der
Laudsturmfrage schreibt: „Doppelt empfindlich ist es, wenn man in demselben
Augenblicke den deutschen Mann nötigt, auch noch für eine Anzahl privilegirter
Privatpersonen unentgeltlich zu arbeiten." Sie zielte damit auf die famose
Rechnung der freisinnigen Redner, daß der Arbeiter durch die erhöhten Zölle
jährlich dreißig Mark mehr für Brot ausgeben müsse, was gleich sei zehn Ar¬
beitstagen, die er im Interesse der Großaristokratie opfern müsse. Wenn ein
Blatt wie die Weserzeituug eine solche Sprache führt, so kann man daraus
sehen, wie weit fanatische Parteidoktrin das Urteil schädigt und den Charakter
verdirbt.

Bei den Verhandlungen über die Getreidezölle war es Windthorst zum
ersten male wieder in dieser Legislaturperiode vergönnt, einen Triumph zu
feiern; er wurde dadurch, daß die Nationalliberalcn nur zum Teil für die
Erhöhung stimmten, wieder einmal Führer des Reichstags und bewies so der
Regierung und den Konservativen die Unentbehrlichkeit des Zentrums auf zoll¬
politischem Gebiete. Ob die Nationalliberalen daran klug gethan haben, den
schlauen Fuchs wieder ins Gehege einzulassen, ist fraglich; daß eine Ahnung
von dem gefährlichen Spiel sie beschlich, ging aus einem Artikel der National-
liberalen Korrespondenz hervor, der ganz richtig aus dem Verlauf der Getreide¬
zollangelegenheit folgerte, daß mit dem Zentrum als einer nur ihr eignes
Frccktionsintereffe berücksichtigenden Partei auch ferner gerechnet werden müsse.
Wir haben das nie anders angesehen. Es ist gut, daß die Nationalliberale
Korrespondenz den Schluß zieht, daß für Konservative und Nationalliberale sich
die selbstverständliche Pflicht ergebe, nach Möglichkeit alles zu vermeiden, was
die in den Febrnarwahlen errungene nationale Mehrheit wieder erschüttern könnte.
Dieses Zusammenhalten ist umso' nötiger, als der Prozeß Cabcmnes wieder
zeigte, einen wie impertinenten Feind wir an Frankreich haben; er bot ein
widerwärtiges Schauspiel unehrenhafter Politik des Hinterhalts. Umso er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/60>, abgerufen am 28.07.2024.