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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

dieser Richtung wenig Interesse gewährt. Doch er hielt sich, gezwungen, mit
dem festen Gerüst der Chronologie zu rechnen, in den allgemeinsten Zügen, so
bedenklich sich auch schon hier das Prokrustesbett solch äußerlicher Systematik
geltend machte. Ihn aber auf das überaus feine, bewegliche Gecider der ein¬
zelnen geistigen und noch dazu künstlerischen Individualität auszudehnen, die
reichen Mittel der philologischen Hermeneutik und Charakteristik einem von
außen hereingetragenen, starren und leblosen Prinzip zu opfern, derartige An¬
sätze müssen jenen innern Widerspruch zu schroffem, gelegentlich geradezu be¬
dauerlichen Ausdruck bringen. Bedauerlich ganz besonders deshalb, weil man
hier eine frische, rege Kraft sich mit diesen leeren Phantomen herumschlagen
sieht. Denn daß in den methodischen Bemerkungen, namentlich zur ältern ger¬
manistischen Forschung, in schonen Lichtern aus dem Gebiete der Sprache und
ihrer Ausdrucksformen (wir heben die Ausführung über die Formen der Zeit¬
wörter hervor), in scharfen Gliederungen der Bestandteile der Phantasie (die
nur erklärlicherweise seltsam formulirt sind, wie die Registrirung der "Botanik,"
"Mineralogie" u. s. w. in den Mignouliedern u. a.), daß in dem kecken, wägenden
Zuge des Ganzen die wissenschaftliche Persönlichkeit Scherers sich nicht ver¬
leugnet, darauf haben wir bereits, wenn auch in minder günstigem Zusammen¬
hange, hinzudeuten Gelegenheit gehabt. Wir kommen darauf zurück, daß die zu¬
sammenfassende Behandlung eines Gegenstandes wie des vorliegenden, noch dazu
im Hinblick auf ein gemischtes oder heranzubildendes Publikum, zunächst nicht
der geeignete Rahmen scheint für die Durchführung so hervorragend streitbarer
Grundrichtungen. Was hier im einzelnen doch fruchtbare Anregung für das
wissenschaftliche Getriebe werden kann, wirkt, zu einem Ganzen geschlossen und
eigensinnig herausgearbeitet, verwirrend und störend. Man möge es daher dem
Berichte an dieser Stelle zu gute halten, daß der Nachweis dieser Beziehung
eines dogmatischen Ganzen zu seinen Einzelheiten genaueres Eingehen auf letztere
nötig machte. Es mußte uns daran liegen, die verhängnisvolle Tyrannei der
Dogmatik an diesem von Natur kritischen Stoffe in jedem Winkel seines Be¬
reiches zur Anschauung zu bringen. Was hier im Nahmen unsrer Vesprcchnng
unerledigt bleiben mußte, wird der Leser leicht bei einer etwaigen privaten Fort¬
setzung dieses kritischen Ganzen selbst berichtigen. Er darf sich hierbei ruhig
von seinem Kopfschütteln, von jenem innern Proteste leiten lassen, der in diesen
Wissenschaften nach wie vor die Stelle der Probe, des Experimentes vertreten
wird. Das kostbare Unterpfand ihres kräftigen Fortganges zu verscherzen und
an Stelle ihrer ewigen Grundlage, der Kritik, die freilich bequeme Vereidigung
auf eine herrschende Formel fordern zu wollen, wird am wenigsten die Absicht
eines Forschers gewesen sein, der wie Scherer den "Fortschritt der Wissenschaft" so
gern auf seine Fahne schrieb. Dem Zeitalter gegenüber, das mehr als je dieser
Grundlage bedarf, auch wohl im Interesse der akademischen Jugend, deren
Lebensrecht ohne jenes Unterpfand vernichtet wird, ist es Pflicht, diese Tendenz,


Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

dieser Richtung wenig Interesse gewährt. Doch er hielt sich, gezwungen, mit
dem festen Gerüst der Chronologie zu rechnen, in den allgemeinsten Zügen, so
bedenklich sich auch schon hier das Prokrustesbett solch äußerlicher Systematik
geltend machte. Ihn aber auf das überaus feine, bewegliche Gecider der ein¬
zelnen geistigen und noch dazu künstlerischen Individualität auszudehnen, die
reichen Mittel der philologischen Hermeneutik und Charakteristik einem von
außen hereingetragenen, starren und leblosen Prinzip zu opfern, derartige An¬
sätze müssen jenen innern Widerspruch zu schroffem, gelegentlich geradezu be¬
dauerlichen Ausdruck bringen. Bedauerlich ganz besonders deshalb, weil man
hier eine frische, rege Kraft sich mit diesen leeren Phantomen herumschlagen
sieht. Denn daß in den methodischen Bemerkungen, namentlich zur ältern ger¬
manistischen Forschung, in schonen Lichtern aus dem Gebiete der Sprache und
ihrer Ausdrucksformen (wir heben die Ausführung über die Formen der Zeit¬
wörter hervor), in scharfen Gliederungen der Bestandteile der Phantasie (die
nur erklärlicherweise seltsam formulirt sind, wie die Registrirung der „Botanik,"
„Mineralogie" u. s. w. in den Mignouliedern u. a.), daß in dem kecken, wägenden
Zuge des Ganzen die wissenschaftliche Persönlichkeit Scherers sich nicht ver¬
leugnet, darauf haben wir bereits, wenn auch in minder günstigem Zusammen¬
hange, hinzudeuten Gelegenheit gehabt. Wir kommen darauf zurück, daß die zu¬
sammenfassende Behandlung eines Gegenstandes wie des vorliegenden, noch dazu
im Hinblick auf ein gemischtes oder heranzubildendes Publikum, zunächst nicht
der geeignete Rahmen scheint für die Durchführung so hervorragend streitbarer
Grundrichtungen. Was hier im einzelnen doch fruchtbare Anregung für das
wissenschaftliche Getriebe werden kann, wirkt, zu einem Ganzen geschlossen und
eigensinnig herausgearbeitet, verwirrend und störend. Man möge es daher dem
Berichte an dieser Stelle zu gute halten, daß der Nachweis dieser Beziehung
eines dogmatischen Ganzen zu seinen Einzelheiten genaueres Eingehen auf letztere
nötig machte. Es mußte uns daran liegen, die verhängnisvolle Tyrannei der
Dogmatik an diesem von Natur kritischen Stoffe in jedem Winkel seines Be¬
reiches zur Anschauung zu bringen. Was hier im Nahmen unsrer Vesprcchnng
unerledigt bleiben mußte, wird der Leser leicht bei einer etwaigen privaten Fort¬
setzung dieses kritischen Ganzen selbst berichtigen. Er darf sich hierbei ruhig
von seinem Kopfschütteln, von jenem innern Proteste leiten lassen, der in diesen
Wissenschaften nach wie vor die Stelle der Probe, des Experimentes vertreten
wird. Das kostbare Unterpfand ihres kräftigen Fortganges zu verscherzen und
an Stelle ihrer ewigen Grundlage, der Kritik, die freilich bequeme Vereidigung
auf eine herrschende Formel fordern zu wollen, wird am wenigsten die Absicht
eines Forschers gewesen sein, der wie Scherer den „Fortschritt der Wissenschaft" so
gern auf seine Fahne schrieb. Dem Zeitalter gegenüber, das mehr als je dieser
Grundlage bedarf, auch wohl im Interesse der akademischen Jugend, deren
Lebensrecht ohne jenes Unterpfand vernichtet wird, ist es Pflicht, diese Tendenz,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/592>, abgerufen am 28.07.2024.