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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

Menschen, die sich bei dem Ausdrucke "sittliche Instinkte" etwas denken können.
Was sie sich aber beim poetischen Kunstwerke -- das ja nach Scherer bei
Menschen des Hayfischen Kunstniveaus (merkwürdige Unterscheidung!) plötzlich
anfängt, als unwahr empfunden zu werden -- darunter denken, ist mir völlig
unfaßbar. Da kann ich nicht mehr folgen. Hier ist ein Platon in seiner Weise
faßlicher und zusammenhangsreicher. Aber für Scherer ist es möglich, Platons
für die Ewigkeit gefaßten Ausdruck Idee als "Moralgesetz" zu fassen (S. 213).
Man solle das Wort nicht mehr brauche,:, rät er. Allerdings in dieser Bedeutung
sollte man es überhaupt nicht brauche", denn sie ist eben falsch und offenbart
nur. wie verworren und verschoben sich der eigentliche innere Bezirk der Poesie
vom naturalistischen Standpunkte ausnimmt.

Es berührt förmlich wohlthuend, wenn unser Poetiker einmal den künst¬
lichen Bauplan seiner Theorie vergißt und als Geschichts- und Sprachforscher
sich praktisch wieder in die lebendigen Aufgaben seiner Wissenschaft zurückfindet.
Man muß nur bedauern, daß auch hier die bekannten darwinistischen Weg¬
zeichen leicht genug imstande sind, abseits ins Gestrüpp der Willkür und des
Konstrnktionszwanges zu führen. So wird z. B. "Rezension" aus den, "Spott-
und Lobgedicht" "entwickelt" u. ni. (S. 25), wo der Begriff "Entwicklung" sich
sofort als gar nicht hergehörig ausweist und die Litteraturgeschichte ihm, wie
so oft, geradezu widerspricht. Ein literarhistorischer Ableger der Entwicklnngs-
wut ist ferner der Entlehnungs- und Abhängigkeitsnachweis. Wir wollen den
Philologen einen Auswuchs, der sich hier findet, nicht vorenthalten. Gottfried
von Straßburg spricht in seinem bekannten kritischen Ausfall gegen Wolfram
von Eschenbach von xlosM, die man für solche dunkle Erzähler stets bei der
Hand haben müsse. Er meint natürlich den gelehrten Kommentar, die Glosse.
Aristoteles erörtert vom 21. bis zum 25. Kapitel der Poetik die Bedeutung der
Dialekte (7^<7c5"t) für die Dichtersprache. Sollte man es für möglich halten, daß
nun Scherer bei der Berührung der Gottfriedschen Stelle (S. 55) fragt: "Sollte
dies etwa aus der aristotelischen Theorie irgendwie abgeleitet sein?" "Über¬
haupt das Ableiten!" Man könnte diesen kritischen Stoßseufzer von S. 286
dieses Buches, welcher der nunmehr wirklich "glücklichst" überwundenen, einseitig
deduktiven Methode gilt, hier passender anwenden. Jene Ableiter -- man weiß
wirklich nicht, wo sie noch Hausen. Statt dessen wird nun nachgerade schon ein
Menschenalter bei uns "evolutionistisch abgeleitet," und dies mit einer Ein¬
seitigkeit, die dem frühern "philosophischen" gar nichts nachgiebt. In der Litte¬
raturgeschichte, um nur das hier einschlägige Feld zu beleuchten, führt das zu
einem innern Widerspruche, zur Annahme einer feststehenden (und daher mecha¬
nisch zu berechnenden) Gestaltung eines sich von innen heraus fortbildenden
Stoffes. Diesen Grundirrtum hat Scherer von Buckle überkommen, und er hat
vordem versucht, ihn auf die litterarhistorische Periodeneinteilung anzuwenden,
ein Versuch, der außer der Vergleichung mit den frühern astrologischen Versuche"


Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

Menschen, die sich bei dem Ausdrucke „sittliche Instinkte" etwas denken können.
Was sie sich aber beim poetischen Kunstwerke — das ja nach Scherer bei
Menschen des Hayfischen Kunstniveaus (merkwürdige Unterscheidung!) plötzlich
anfängt, als unwahr empfunden zu werden — darunter denken, ist mir völlig
unfaßbar. Da kann ich nicht mehr folgen. Hier ist ein Platon in seiner Weise
faßlicher und zusammenhangsreicher. Aber für Scherer ist es möglich, Platons
für die Ewigkeit gefaßten Ausdruck Idee als „Moralgesetz" zu fassen (S. 213).
Man solle das Wort nicht mehr brauche,:, rät er. Allerdings in dieser Bedeutung
sollte man es überhaupt nicht brauche», denn sie ist eben falsch und offenbart
nur. wie verworren und verschoben sich der eigentliche innere Bezirk der Poesie
vom naturalistischen Standpunkte ausnimmt.

Es berührt förmlich wohlthuend, wenn unser Poetiker einmal den künst¬
lichen Bauplan seiner Theorie vergißt und als Geschichts- und Sprachforscher
sich praktisch wieder in die lebendigen Aufgaben seiner Wissenschaft zurückfindet.
Man muß nur bedauern, daß auch hier die bekannten darwinistischen Weg¬
zeichen leicht genug imstande sind, abseits ins Gestrüpp der Willkür und des
Konstrnktionszwanges zu führen. So wird z. B. „Rezension" aus den, „Spott-
und Lobgedicht" „entwickelt" u. ni. (S. 25), wo der Begriff „Entwicklung" sich
sofort als gar nicht hergehörig ausweist und die Litteraturgeschichte ihm, wie
so oft, geradezu widerspricht. Ein literarhistorischer Ableger der Entwicklnngs-
wut ist ferner der Entlehnungs- und Abhängigkeitsnachweis. Wir wollen den
Philologen einen Auswuchs, der sich hier findet, nicht vorenthalten. Gottfried
von Straßburg spricht in seinem bekannten kritischen Ausfall gegen Wolfram
von Eschenbach von xlosM, die man für solche dunkle Erzähler stets bei der
Hand haben müsse. Er meint natürlich den gelehrten Kommentar, die Glosse.
Aristoteles erörtert vom 21. bis zum 25. Kapitel der Poetik die Bedeutung der
Dialekte (7^<7c5«t) für die Dichtersprache. Sollte man es für möglich halten, daß
nun Scherer bei der Berührung der Gottfriedschen Stelle (S. 55) fragt: „Sollte
dies etwa aus der aristotelischen Theorie irgendwie abgeleitet sein?" „Über¬
haupt das Ableiten!" Man könnte diesen kritischen Stoßseufzer von S. 286
dieses Buches, welcher der nunmehr wirklich „glücklichst" überwundenen, einseitig
deduktiven Methode gilt, hier passender anwenden. Jene Ableiter — man weiß
wirklich nicht, wo sie noch Hausen. Statt dessen wird nun nachgerade schon ein
Menschenalter bei uns „evolutionistisch abgeleitet," und dies mit einer Ein¬
seitigkeit, die dem frühern „philosophischen" gar nichts nachgiebt. In der Litte¬
raturgeschichte, um nur das hier einschlägige Feld zu beleuchten, führt das zu
einem innern Widerspruche, zur Annahme einer feststehenden (und daher mecha¬
nisch zu berechnenden) Gestaltung eines sich von innen heraus fortbildenden
Stoffes. Diesen Grundirrtum hat Scherer von Buckle überkommen, und er hat
vordem versucht, ihn auf die litterarhistorische Periodeneinteilung anzuwenden,
ein Versuch, der außer der Vergleichung mit den frühern astrologischen Versuche»


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[0591] Poetische Theorien und Theorie der Poesie. Menschen, die sich bei dem Ausdrucke „sittliche Instinkte" etwas denken können. Was sie sich aber beim poetischen Kunstwerke — das ja nach Scherer bei Menschen des Hayfischen Kunstniveaus (merkwürdige Unterscheidung!) plötzlich anfängt, als unwahr empfunden zu werden — darunter denken, ist mir völlig unfaßbar. Da kann ich nicht mehr folgen. Hier ist ein Platon in seiner Weise faßlicher und zusammenhangsreicher. Aber für Scherer ist es möglich, Platons für die Ewigkeit gefaßten Ausdruck Idee als „Moralgesetz" zu fassen (S. 213). Man solle das Wort nicht mehr brauche,:, rät er. Allerdings in dieser Bedeutung sollte man es überhaupt nicht brauche», denn sie ist eben falsch und offenbart nur. wie verworren und verschoben sich der eigentliche innere Bezirk der Poesie vom naturalistischen Standpunkte ausnimmt. Es berührt förmlich wohlthuend, wenn unser Poetiker einmal den künst¬ lichen Bauplan seiner Theorie vergißt und als Geschichts- und Sprachforscher sich praktisch wieder in die lebendigen Aufgaben seiner Wissenschaft zurückfindet. Man muß nur bedauern, daß auch hier die bekannten darwinistischen Weg¬ zeichen leicht genug imstande sind, abseits ins Gestrüpp der Willkür und des Konstrnktionszwanges zu führen. So wird z. B. „Rezension" aus den, „Spott- und Lobgedicht" „entwickelt" u. ni. (S. 25), wo der Begriff „Entwicklung" sich sofort als gar nicht hergehörig ausweist und die Litteraturgeschichte ihm, wie so oft, geradezu widerspricht. Ein literarhistorischer Ableger der Entwicklnngs- wut ist ferner der Entlehnungs- und Abhängigkeitsnachweis. Wir wollen den Philologen einen Auswuchs, der sich hier findet, nicht vorenthalten. Gottfried von Straßburg spricht in seinem bekannten kritischen Ausfall gegen Wolfram von Eschenbach von xlosM, die man für solche dunkle Erzähler stets bei der Hand haben müsse. Er meint natürlich den gelehrten Kommentar, die Glosse. Aristoteles erörtert vom 21. bis zum 25. Kapitel der Poetik die Bedeutung der Dialekte (7^<7c5«t) für die Dichtersprache. Sollte man es für möglich halten, daß nun Scherer bei der Berührung der Gottfriedschen Stelle (S. 55) fragt: „Sollte dies etwa aus der aristotelischen Theorie irgendwie abgeleitet sein?" „Über¬ haupt das Ableiten!" Man könnte diesen kritischen Stoßseufzer von S. 286 dieses Buches, welcher der nunmehr wirklich „glücklichst" überwundenen, einseitig deduktiven Methode gilt, hier passender anwenden. Jene Ableiter — man weiß wirklich nicht, wo sie noch Hausen. Statt dessen wird nun nachgerade schon ein Menschenalter bei uns „evolutionistisch abgeleitet," und dies mit einer Ein¬ seitigkeit, die dem frühern „philosophischen" gar nichts nachgiebt. In der Litte¬ raturgeschichte, um nur das hier einschlägige Feld zu beleuchten, führt das zu einem innern Widerspruche, zur Annahme einer feststehenden (und daher mecha¬ nisch zu berechnenden) Gestaltung eines sich von innen heraus fortbildenden Stoffes. Diesen Grundirrtum hat Scherer von Buckle überkommen, und er hat vordem versucht, ihn auf die litterarhistorische Periodeneinteilung anzuwenden, ein Versuch, der außer der Vergleichung mit den frühern astrologischen Versuche»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/591>, abgerufen am 28.07.2024.