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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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poetische Theorien und Theorie der Poesie.

so undankbaren Versuche verleitet hat, so finden wir schließlich nichts als wieder
das Trugbild eines in seinem Kerne ungeschichtlichen Prinzips, das seine wissen¬
schaftlichen Eroberungen vom Heute oder besteufalles vom Gestern ansetzt
und mit dem Morgen für ewige Zeiten abzuschließen gedenkt. Freilich, es nimmt
sich ja recht stolz und verheißungsvoll aus, unter der Flagge des Darwinischen
Entwicklungsdogmas eine Entdeckungsfahrt sogar in das alte romantische Land
zu unternehmen. Allein für den schnurgeraden Schienenweg des neunzehnten
Jahrhunderts dürfte es sich doch zu steil und zu unwegsam erweisen. Die
Eisenbahn wird auf dem Gebiete des Hippogrhphcn immer eine undankbare Rolle
spielen, und selbst ein einfacher Fußgänger wird immer noch mehr aus ihm
zurückbringen, als ihr in den Wagen gebauuter, um die Vorberge weitschweifig
herumgeführter Reisender.

Viel mehr als die Vorberge des poetischen Landes aber vermag Scherer
bei seinem Prinzip wirklich nicht zu zeigen. Es ist ein wahres Glück, daß der
Philolog und Historiker in ihm sich oft genug gegen den Darwinisten, den
naturwissenschaftlichen Entdecker auflehnt, sonst würden uns selbst diejenigen
feinen Ausblicke in die poetischen Hochregivnen entgangen sein, die jetzt eben die
geschilderte Anlage des Buches bedauern lassen. Schon ein Blick auf das In¬
haltsverzeichnis kann dies deutlich machen. Der weitaus größte Teil des
Buches zeigt sich da eingenommen von dem einzigen Kapitel "Dichter und
Publikum," ein genauerer Einblick belehrt bald, daß es sich hier absichtlich nicht
um eindringende, umfassende Analysen der poetischen Schöpferkraft und Auf¬
nahmefähigkeit handeln soll -- denn das wäre ja "philosophisch --, sondern im
wesentlichen um die ökonomische Wechselwirkung der beiden "Faktoren" des litte¬
rarischen "Marktes." Das klingt nun sehr originell und wieder sehr verheißungs¬
voll. Naive Tageblätter versprechen sich Wunderdinge von der Anwendung
dieser "neuen" Methode auf die alte schöne Kunst. Nun, die "Methode" mag
ja neu und originell sein, obwohl die Feuilletons jener Tageblätter nach dieser
Richtung schon stark vorgearbeitet haben, wenn es nur auch ihre Ergebnisse
wären. Allein ich weiß nicht, ob das Breittreten der Honorarfrage auf der
einen Seite, die Untersuchungen über Arbeitsgewohnheiten der Dichter auf der
andern diese Bezeichnung verdienen. Die Geldfrage hat jene Fülle geschäftiger
Geister, die sich zu allen Zeiten, namentlich aber in den eigentlichen "littera¬
rischen," in den Vorhöfen der Poesie herumtreiben, stets eifrig beschäftigt; nicht
weniger Anekdoten über Sonderbarkeiten, Gewohnheiten, Launen der Dichter, ihr
Verhältnis zur Wirkung ihrer Werke, ihr persönliches Verhältnis zu einander.
Namentlich die Litteratur der Franzosen ist darin von jeher, besonders in den
neuern Zeiten, stark gewesen, wo die Herausbildung der Hauptstadt zur alleinigen
Litteraturstadt die litterarische " Töpfcheuguckerei" begünstigte und jene Sorte
poetischer Figaros großzog, die auch bei uns noch immer das litterarische Ideal
gewisser Kreise bilden. Man hat sogar früh, namentlich in England, schon ver-


poetische Theorien und Theorie der Poesie.

so undankbaren Versuche verleitet hat, so finden wir schließlich nichts als wieder
das Trugbild eines in seinem Kerne ungeschichtlichen Prinzips, das seine wissen¬
schaftlichen Eroberungen vom Heute oder besteufalles vom Gestern ansetzt
und mit dem Morgen für ewige Zeiten abzuschließen gedenkt. Freilich, es nimmt
sich ja recht stolz und verheißungsvoll aus, unter der Flagge des Darwinischen
Entwicklungsdogmas eine Entdeckungsfahrt sogar in das alte romantische Land
zu unternehmen. Allein für den schnurgeraden Schienenweg des neunzehnten
Jahrhunderts dürfte es sich doch zu steil und zu unwegsam erweisen. Die
Eisenbahn wird auf dem Gebiete des Hippogrhphcn immer eine undankbare Rolle
spielen, und selbst ein einfacher Fußgänger wird immer noch mehr aus ihm
zurückbringen, als ihr in den Wagen gebauuter, um die Vorberge weitschweifig
herumgeführter Reisender.

Viel mehr als die Vorberge des poetischen Landes aber vermag Scherer
bei seinem Prinzip wirklich nicht zu zeigen. Es ist ein wahres Glück, daß der
Philolog und Historiker in ihm sich oft genug gegen den Darwinisten, den
naturwissenschaftlichen Entdecker auflehnt, sonst würden uns selbst diejenigen
feinen Ausblicke in die poetischen Hochregivnen entgangen sein, die jetzt eben die
geschilderte Anlage des Buches bedauern lassen. Schon ein Blick auf das In¬
haltsverzeichnis kann dies deutlich machen. Der weitaus größte Teil des
Buches zeigt sich da eingenommen von dem einzigen Kapitel „Dichter und
Publikum," ein genauerer Einblick belehrt bald, daß es sich hier absichtlich nicht
um eindringende, umfassende Analysen der poetischen Schöpferkraft und Auf¬
nahmefähigkeit handeln soll — denn das wäre ja „philosophisch —, sondern im
wesentlichen um die ökonomische Wechselwirkung der beiden „Faktoren" des litte¬
rarischen „Marktes." Das klingt nun sehr originell und wieder sehr verheißungs¬
voll. Naive Tageblätter versprechen sich Wunderdinge von der Anwendung
dieser „neuen" Methode auf die alte schöne Kunst. Nun, die „Methode" mag
ja neu und originell sein, obwohl die Feuilletons jener Tageblätter nach dieser
Richtung schon stark vorgearbeitet haben, wenn es nur auch ihre Ergebnisse
wären. Allein ich weiß nicht, ob das Breittreten der Honorarfrage auf der
einen Seite, die Untersuchungen über Arbeitsgewohnheiten der Dichter auf der
andern diese Bezeichnung verdienen. Die Geldfrage hat jene Fülle geschäftiger
Geister, die sich zu allen Zeiten, namentlich aber in den eigentlichen „littera¬
rischen," in den Vorhöfen der Poesie herumtreiben, stets eifrig beschäftigt; nicht
weniger Anekdoten über Sonderbarkeiten, Gewohnheiten, Launen der Dichter, ihr
Verhältnis zur Wirkung ihrer Werke, ihr persönliches Verhältnis zu einander.
Namentlich die Litteratur der Franzosen ist darin von jeher, besonders in den
neuern Zeiten, stark gewesen, wo die Herausbildung der Hauptstadt zur alleinigen
Litteraturstadt die litterarische „ Töpfcheuguckerei" begünstigte und jene Sorte
poetischer Figaros großzog, die auch bei uns noch immer das litterarische Ideal
gewisser Kreise bilden. Man hat sogar früh, namentlich in England, schon ver-


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[0586] poetische Theorien und Theorie der Poesie. so undankbaren Versuche verleitet hat, so finden wir schließlich nichts als wieder das Trugbild eines in seinem Kerne ungeschichtlichen Prinzips, das seine wissen¬ schaftlichen Eroberungen vom Heute oder besteufalles vom Gestern ansetzt und mit dem Morgen für ewige Zeiten abzuschließen gedenkt. Freilich, es nimmt sich ja recht stolz und verheißungsvoll aus, unter der Flagge des Darwinischen Entwicklungsdogmas eine Entdeckungsfahrt sogar in das alte romantische Land zu unternehmen. Allein für den schnurgeraden Schienenweg des neunzehnten Jahrhunderts dürfte es sich doch zu steil und zu unwegsam erweisen. Die Eisenbahn wird auf dem Gebiete des Hippogrhphcn immer eine undankbare Rolle spielen, und selbst ein einfacher Fußgänger wird immer noch mehr aus ihm zurückbringen, als ihr in den Wagen gebauuter, um die Vorberge weitschweifig herumgeführter Reisender. Viel mehr als die Vorberge des poetischen Landes aber vermag Scherer bei seinem Prinzip wirklich nicht zu zeigen. Es ist ein wahres Glück, daß der Philolog und Historiker in ihm sich oft genug gegen den Darwinisten, den naturwissenschaftlichen Entdecker auflehnt, sonst würden uns selbst diejenigen feinen Ausblicke in die poetischen Hochregivnen entgangen sein, die jetzt eben die geschilderte Anlage des Buches bedauern lassen. Schon ein Blick auf das In¬ haltsverzeichnis kann dies deutlich machen. Der weitaus größte Teil des Buches zeigt sich da eingenommen von dem einzigen Kapitel „Dichter und Publikum," ein genauerer Einblick belehrt bald, daß es sich hier absichtlich nicht um eindringende, umfassende Analysen der poetischen Schöpferkraft und Auf¬ nahmefähigkeit handeln soll — denn das wäre ja „philosophisch —, sondern im wesentlichen um die ökonomische Wechselwirkung der beiden „Faktoren" des litte¬ rarischen „Marktes." Das klingt nun sehr originell und wieder sehr verheißungs¬ voll. Naive Tageblätter versprechen sich Wunderdinge von der Anwendung dieser „neuen" Methode auf die alte schöne Kunst. Nun, die „Methode" mag ja neu und originell sein, obwohl die Feuilletons jener Tageblätter nach dieser Richtung schon stark vorgearbeitet haben, wenn es nur auch ihre Ergebnisse wären. Allein ich weiß nicht, ob das Breittreten der Honorarfrage auf der einen Seite, die Untersuchungen über Arbeitsgewohnheiten der Dichter auf der andern diese Bezeichnung verdienen. Die Geldfrage hat jene Fülle geschäftiger Geister, die sich zu allen Zeiten, namentlich aber in den eigentlichen „littera¬ rischen," in den Vorhöfen der Poesie herumtreiben, stets eifrig beschäftigt; nicht weniger Anekdoten über Sonderbarkeiten, Gewohnheiten, Launen der Dichter, ihr Verhältnis zur Wirkung ihrer Werke, ihr persönliches Verhältnis zu einander. Namentlich die Litteratur der Franzosen ist darin von jeher, besonders in den neuern Zeiten, stark gewesen, wo die Herausbildung der Hauptstadt zur alleinigen Litteraturstadt die litterarische „ Töpfcheuguckerei" begünstigte und jene Sorte poetischer Figaros großzog, die auch bei uns noch immer das litterarische Ideal gewisser Kreise bilden. Man hat sogar früh, namentlich in England, schon ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/586>, abgerufen am 27.07.2024.