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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

gemeinsam, der sie ihrem eigentlichen Publikum entfremdet und die von ihnen
beabsichtigte Wirkung stört; wir können nicht umhin, ihn wiederum mit dem
freilich wenig empfehlenden Beiwort "scholastisch" zu bezeichnen.

Auch Scherer tritt nicht unbefangen an seine Aufgabe heran. Auch ihm ist
sie nur eine wirkungsvolle Handhabe zur Verbreitung individueller Anschauungen,
zur Durchsetzung seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit. Auch er zeigt jenen Hang
zur Dogmatik, der in geistig überlegenen Zeiten zeitweilig siegreich bekämpft, ja, wie
in der uns vorausliegenden, völlig unterdrückt, doch den Grundzug des Durchschnitts
der Geistesgeschichte bildet, in Zeiten geistiger Zerfahrenheit und Ratlosigkeit zu
unbedingter Herrschaft gelangt. Es gehört dann immer eine besondre Kraft dazu,
sich vou ihm frei zu erhalten. Scherers Bilduugszeit fällt in eine Periode, in
der dies ganz unmöglich schien. Damals hatte eben die Naturwissenschaft
sich von glänzenden empirischen Triumphen zur Höhe des Dogmas erhoben,
auf der sie noch geraume Zeit theoretisch und praktisch Niederlagen ernten
wird. Worin das Bestechende der materialistischen Dogmen vor den sonst
genau übereinstimmenden Dogmen der innern Erfahrung besteht, liegt zu
Tage. Sie stiften daher gewöhnlich praktisch den Schaden, den jene theo¬
retisch anrichten. Sogar auf unserm anscheinend von Natur neutralem Ge¬
biete zeigt sich dies in handgreiflicher Weise. Kaum auf irgend eines kann das
materialistische Dogma von der transzendentalen Bedeutung äußerer Erfahrung
eingeschränktere Anwendung finden, als auf das der Poetik, keines ist so sehr
auf innere Erfahrung angewiesen, als die Wissenschaft vom Wesen und der
Kunst des Dichters. Theoretisch rückt sich daher eine solche Lehre hier von selbst
zurecht, aber sie hat ihre Tücken im Praktischen, wenn das wissenschaftliche
Zeitalter, das sie geboren hat, zugleich so unkünstlerisch ist, so entschieden kunst¬
feindliche Ziele verfolgt wie das unsre.

Eine Wissenschaft, die bereits eine so alte, wechselvolle und bedeutende Ge¬
schichte hat wie die Poetik, wird auf systematische Prüfung der jeweilig um ihre
Anerkennung ringenden Ansichten schon weit weniger bedacht zu sein brauchen,
als auf ihre sichere Bestimmung und passende Einreihung. Es giebt in ihrem
weitesten Umkreise kaum einen Punkt, der nicht bereits allgemein ins Auge ge¬
faßt, von verschiedenartigsten, darunter hochbedeutenden Geistern bestimmt,
auf Wichtigkeit und Machtbereich untersucht worden wäre. Die Prinzipien,
die sich daraus ergeben, sind nun für deu Historiker mit Händen zu greifen.
Dies wäre das wahrhaft "induktive" Verfahren in dieser Wissenschaft. Aber
sei es, daß der frühverstorbene Gelehrte seine bedeutende Arbeitskraft nicht mehr
an diesem Stoffe entfalten konnte, sei es, daß er es absichtlich zu Gunsten einer
äußerlich verlockenden urwüchsigen Behandlungsweise zurücktrete" ließ, genug,
was vor uns liegt, macht den Eindruck eiuer ersten mühseligen Ansteckung eiues
neuen wissenschaftlichen Bezirks. Und fragt man sich, was einen umsichtigen
und auf Ersparung überflüssiger Arbeitskraft stets aufmerksamen Geist zu einem


Grenzboten II. 1838. 73
Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

gemeinsam, der sie ihrem eigentlichen Publikum entfremdet und die von ihnen
beabsichtigte Wirkung stört; wir können nicht umhin, ihn wiederum mit dem
freilich wenig empfehlenden Beiwort „scholastisch" zu bezeichnen.

Auch Scherer tritt nicht unbefangen an seine Aufgabe heran. Auch ihm ist
sie nur eine wirkungsvolle Handhabe zur Verbreitung individueller Anschauungen,
zur Durchsetzung seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit. Auch er zeigt jenen Hang
zur Dogmatik, der in geistig überlegenen Zeiten zeitweilig siegreich bekämpft, ja, wie
in der uns vorausliegenden, völlig unterdrückt, doch den Grundzug des Durchschnitts
der Geistesgeschichte bildet, in Zeiten geistiger Zerfahrenheit und Ratlosigkeit zu
unbedingter Herrschaft gelangt. Es gehört dann immer eine besondre Kraft dazu,
sich vou ihm frei zu erhalten. Scherers Bilduugszeit fällt in eine Periode, in
der dies ganz unmöglich schien. Damals hatte eben die Naturwissenschaft
sich von glänzenden empirischen Triumphen zur Höhe des Dogmas erhoben,
auf der sie noch geraume Zeit theoretisch und praktisch Niederlagen ernten
wird. Worin das Bestechende der materialistischen Dogmen vor den sonst
genau übereinstimmenden Dogmen der innern Erfahrung besteht, liegt zu
Tage. Sie stiften daher gewöhnlich praktisch den Schaden, den jene theo¬
retisch anrichten. Sogar auf unserm anscheinend von Natur neutralem Ge¬
biete zeigt sich dies in handgreiflicher Weise. Kaum auf irgend eines kann das
materialistische Dogma von der transzendentalen Bedeutung äußerer Erfahrung
eingeschränktere Anwendung finden, als auf das der Poetik, keines ist so sehr
auf innere Erfahrung angewiesen, als die Wissenschaft vom Wesen und der
Kunst des Dichters. Theoretisch rückt sich daher eine solche Lehre hier von selbst
zurecht, aber sie hat ihre Tücken im Praktischen, wenn das wissenschaftliche
Zeitalter, das sie geboren hat, zugleich so unkünstlerisch ist, so entschieden kunst¬
feindliche Ziele verfolgt wie das unsre.

Eine Wissenschaft, die bereits eine so alte, wechselvolle und bedeutende Ge¬
schichte hat wie die Poetik, wird auf systematische Prüfung der jeweilig um ihre
Anerkennung ringenden Ansichten schon weit weniger bedacht zu sein brauchen,
als auf ihre sichere Bestimmung und passende Einreihung. Es giebt in ihrem
weitesten Umkreise kaum einen Punkt, der nicht bereits allgemein ins Auge ge¬
faßt, von verschiedenartigsten, darunter hochbedeutenden Geistern bestimmt,
auf Wichtigkeit und Machtbereich untersucht worden wäre. Die Prinzipien,
die sich daraus ergeben, sind nun für deu Historiker mit Händen zu greifen.
Dies wäre das wahrhaft „induktive" Verfahren in dieser Wissenschaft. Aber
sei es, daß der frühverstorbene Gelehrte seine bedeutende Arbeitskraft nicht mehr
an diesem Stoffe entfalten konnte, sei es, daß er es absichtlich zu Gunsten einer
äußerlich verlockenden urwüchsigen Behandlungsweise zurücktrete» ließ, genug,
was vor uns liegt, macht den Eindruck eiuer ersten mühseligen Ansteckung eiues
neuen wissenschaftlichen Bezirks. Und fragt man sich, was einen umsichtigen
und auf Ersparung überflüssiger Arbeitskraft stets aufmerksamen Geist zu einem


Grenzboten II. 1838. 73
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[0585] Poetische Theorien und Theorie der Poesie. gemeinsam, der sie ihrem eigentlichen Publikum entfremdet und die von ihnen beabsichtigte Wirkung stört; wir können nicht umhin, ihn wiederum mit dem freilich wenig empfehlenden Beiwort „scholastisch" zu bezeichnen. Auch Scherer tritt nicht unbefangen an seine Aufgabe heran. Auch ihm ist sie nur eine wirkungsvolle Handhabe zur Verbreitung individueller Anschauungen, zur Durchsetzung seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit. Auch er zeigt jenen Hang zur Dogmatik, der in geistig überlegenen Zeiten zeitweilig siegreich bekämpft, ja, wie in der uns vorausliegenden, völlig unterdrückt, doch den Grundzug des Durchschnitts der Geistesgeschichte bildet, in Zeiten geistiger Zerfahrenheit und Ratlosigkeit zu unbedingter Herrschaft gelangt. Es gehört dann immer eine besondre Kraft dazu, sich vou ihm frei zu erhalten. Scherers Bilduugszeit fällt in eine Periode, in der dies ganz unmöglich schien. Damals hatte eben die Naturwissenschaft sich von glänzenden empirischen Triumphen zur Höhe des Dogmas erhoben, auf der sie noch geraume Zeit theoretisch und praktisch Niederlagen ernten wird. Worin das Bestechende der materialistischen Dogmen vor den sonst genau übereinstimmenden Dogmen der innern Erfahrung besteht, liegt zu Tage. Sie stiften daher gewöhnlich praktisch den Schaden, den jene theo¬ retisch anrichten. Sogar auf unserm anscheinend von Natur neutralem Ge¬ biete zeigt sich dies in handgreiflicher Weise. Kaum auf irgend eines kann das materialistische Dogma von der transzendentalen Bedeutung äußerer Erfahrung eingeschränktere Anwendung finden, als auf das der Poetik, keines ist so sehr auf innere Erfahrung angewiesen, als die Wissenschaft vom Wesen und der Kunst des Dichters. Theoretisch rückt sich daher eine solche Lehre hier von selbst zurecht, aber sie hat ihre Tücken im Praktischen, wenn das wissenschaftliche Zeitalter, das sie geboren hat, zugleich so unkünstlerisch ist, so entschieden kunst¬ feindliche Ziele verfolgt wie das unsre. Eine Wissenschaft, die bereits eine so alte, wechselvolle und bedeutende Ge¬ schichte hat wie die Poetik, wird auf systematische Prüfung der jeweilig um ihre Anerkennung ringenden Ansichten schon weit weniger bedacht zu sein brauchen, als auf ihre sichere Bestimmung und passende Einreihung. Es giebt in ihrem weitesten Umkreise kaum einen Punkt, der nicht bereits allgemein ins Auge ge¬ faßt, von verschiedenartigsten, darunter hochbedeutenden Geistern bestimmt, auf Wichtigkeit und Machtbereich untersucht worden wäre. Die Prinzipien, die sich daraus ergeben, sind nun für deu Historiker mit Händen zu greifen. Dies wäre das wahrhaft „induktive" Verfahren in dieser Wissenschaft. Aber sei es, daß der frühverstorbene Gelehrte seine bedeutende Arbeitskraft nicht mehr an diesem Stoffe entfalten konnte, sei es, daß er es absichtlich zu Gunsten einer äußerlich verlockenden urwüchsigen Behandlungsweise zurücktrete» ließ, genug, was vor uns liegt, macht den Eindruck eiuer ersten mühseligen Ansteckung eiues neuen wissenschaftlichen Bezirks. Und fragt man sich, was einen umsichtigen und auf Ersparung überflüssiger Arbeitskraft stets aufmerksamen Geist zu einem Grenzboten II. 1838. 73

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/585>, abgerufen am 27.07.2024.