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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Richtschnur meines Strebens gewesen; heute erfahre ich, daß ich ihn nicht ver¬
standen habe, denn ich muß bekennen, ich verstehe kein Griechisch!"

Als ich dann bescheiden hinzufügte, meines Erachtens beruhe der beste
Teil der modernen Kultur, ja die ganze Gestaltung unsers Lebens auf einem
griechischen Buche, dem Neuen Testamente, dieses aber lese jeder in seiner
Sprache, nicht im Urtexte, da schüttelte der gelehrte Mann zornig sein lvcken-
umwalltes Haupt, griff nach seinem Hute, warf Devrient einen verachtenden,
mir einen vernichtenden Blick zu und verließ das Zimmer.

Mit ebenso großer Entschiedenheit wie dieser Schulmann für das Griechische
eintrat, verlangen viele, Professor Preyer an der Spitze, die Abschaffung des
Griechischen ans unsern höhern Lehranstalten. Sie berufen sich unter andern
darauf, hervorragende Männer Deutschlands, z. B. Friedrich der Große, seien der
griechischen Sprache nicht mächtig gewesen; ja nicht einmal Schiller, der doch
wie wenige in die Schönheit des Griechentums eingedrungen sei und sie ver¬
herrlicht habe.

Das letztere ist richtig. Indes folgt daraus nicht, daß diese Männer das
nicht als einen Mangel empfunden hätten. Aber wie steht es mit uns andern,
die wir sechs Jahre hindurch so viele schöne Stunden, großenteils mit schweren
Seufzern, dein Griechischen haben opfern müssen? Was haben nur damit
erreicht?

Kenntnis der griechischen Grammatik mit ihren zahllosen Formen, dem Dual,
dein Optativ, dem Aorist, dem tu kurzum seormämn, dein Medium u. s. w.? Ja.
Nützt uns diese Kenntnis im spätern Leben etwas? Nicht das geringste.
Kenntnis der griechischen Litteratur? In sehr geringem Maße. Wir haben
in jenen sechs Jahren einen verschwindend kleinen Teil derselben ans der Schule
durchgearbeitet; wir haben es nicht dahin gebracht, den Plato, den Thukydides
oder auch nnr den A'cnophon fließend zu lesen, etwa wie ein französisches Buch.
Und wenn wir es könnten, thun wir es im Leben, sobald uns die Disziplin
der Schule nicht mehr dazu zwingt? Nein. Es liegt anch gar kein Bedürfnis
dazu vor. Denn was jene Schriftsteller geschrieben haben, das steht für uns
viel verständlicher in hundert deutschen Büchern.

Wie steht es aber mit dem Homer? Daß Homer der größte epische Dichter
aller Zeiten und Völker gewesen, daß sein Ruhm, um mit König Ludwig zu
reden, fester ist als die Felsen im Meere, die einst der geblendete Cyklop dem
Schiffe des göttlichen Dulders nachschleuderte, das zu bestreiten (und es ist
noch erst kürzlich bestritten worden) wird ein vergebliches Bemühen bleiben.
Homer ist für die Menschen der Gegenwart noch eben so wichtig als er es für
die Griechen war; was Horaz über ihn ans Präneste an Lollius schreibt, das
gilt noch heute. Jedes Kind kennt ja auch Homers Erzählungen von den
Götter" und Heldengestalten der Hellenen. Ist nnn zum Lesen des Homer die
griechische Sprache erforderlich? Um die volle Freude daran zu haben, ja!


Richtschnur meines Strebens gewesen; heute erfahre ich, daß ich ihn nicht ver¬
standen habe, denn ich muß bekennen, ich verstehe kein Griechisch!"

Als ich dann bescheiden hinzufügte, meines Erachtens beruhe der beste
Teil der modernen Kultur, ja die ganze Gestaltung unsers Lebens auf einem
griechischen Buche, dem Neuen Testamente, dieses aber lese jeder in seiner
Sprache, nicht im Urtexte, da schüttelte der gelehrte Mann zornig sein lvcken-
umwalltes Haupt, griff nach seinem Hute, warf Devrient einen verachtenden,
mir einen vernichtenden Blick zu und verließ das Zimmer.

Mit ebenso großer Entschiedenheit wie dieser Schulmann für das Griechische
eintrat, verlangen viele, Professor Preyer an der Spitze, die Abschaffung des
Griechischen ans unsern höhern Lehranstalten. Sie berufen sich unter andern
darauf, hervorragende Männer Deutschlands, z. B. Friedrich der Große, seien der
griechischen Sprache nicht mächtig gewesen; ja nicht einmal Schiller, der doch
wie wenige in die Schönheit des Griechentums eingedrungen sei und sie ver¬
herrlicht habe.

Das letztere ist richtig. Indes folgt daraus nicht, daß diese Männer das
nicht als einen Mangel empfunden hätten. Aber wie steht es mit uns andern,
die wir sechs Jahre hindurch so viele schöne Stunden, großenteils mit schweren
Seufzern, dein Griechischen haben opfern müssen? Was haben nur damit
erreicht?

Kenntnis der griechischen Grammatik mit ihren zahllosen Formen, dem Dual,
dein Optativ, dem Aorist, dem tu kurzum seormämn, dein Medium u. s. w.? Ja.
Nützt uns diese Kenntnis im spätern Leben etwas? Nicht das geringste.
Kenntnis der griechischen Litteratur? In sehr geringem Maße. Wir haben
in jenen sechs Jahren einen verschwindend kleinen Teil derselben ans der Schule
durchgearbeitet; wir haben es nicht dahin gebracht, den Plato, den Thukydides
oder auch nnr den A'cnophon fließend zu lesen, etwa wie ein französisches Buch.
Und wenn wir es könnten, thun wir es im Leben, sobald uns die Disziplin
der Schule nicht mehr dazu zwingt? Nein. Es liegt anch gar kein Bedürfnis
dazu vor. Denn was jene Schriftsteller geschrieben haben, das steht für uns
viel verständlicher in hundert deutschen Büchern.

Wie steht es aber mit dem Homer? Daß Homer der größte epische Dichter
aller Zeiten und Völker gewesen, daß sein Ruhm, um mit König Ludwig zu
reden, fester ist als die Felsen im Meere, die einst der geblendete Cyklop dem
Schiffe des göttlichen Dulders nachschleuderte, das zu bestreiten (und es ist
noch erst kürzlich bestritten worden) wird ein vergebliches Bemühen bleiben.
Homer ist für die Menschen der Gegenwart noch eben so wichtig als er es für
die Griechen war; was Horaz über ihn ans Präneste an Lollius schreibt, das
gilt noch heute. Jedes Kind kennt ja auch Homers Erzählungen von den
Götter» und Heldengestalten der Hellenen. Ist nnn zum Lesen des Homer die
griechische Sprache erforderlich? Um die volle Freude daran zu haben, ja!


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[0580] Richtschnur meines Strebens gewesen; heute erfahre ich, daß ich ihn nicht ver¬ standen habe, denn ich muß bekennen, ich verstehe kein Griechisch!" Als ich dann bescheiden hinzufügte, meines Erachtens beruhe der beste Teil der modernen Kultur, ja die ganze Gestaltung unsers Lebens auf einem griechischen Buche, dem Neuen Testamente, dieses aber lese jeder in seiner Sprache, nicht im Urtexte, da schüttelte der gelehrte Mann zornig sein lvcken- umwalltes Haupt, griff nach seinem Hute, warf Devrient einen verachtenden, mir einen vernichtenden Blick zu und verließ das Zimmer. Mit ebenso großer Entschiedenheit wie dieser Schulmann für das Griechische eintrat, verlangen viele, Professor Preyer an der Spitze, die Abschaffung des Griechischen ans unsern höhern Lehranstalten. Sie berufen sich unter andern darauf, hervorragende Männer Deutschlands, z. B. Friedrich der Große, seien der griechischen Sprache nicht mächtig gewesen; ja nicht einmal Schiller, der doch wie wenige in die Schönheit des Griechentums eingedrungen sei und sie ver¬ herrlicht habe. Das letztere ist richtig. Indes folgt daraus nicht, daß diese Männer das nicht als einen Mangel empfunden hätten. Aber wie steht es mit uns andern, die wir sechs Jahre hindurch so viele schöne Stunden, großenteils mit schweren Seufzern, dein Griechischen haben opfern müssen? Was haben nur damit erreicht? Kenntnis der griechischen Grammatik mit ihren zahllosen Formen, dem Dual, dein Optativ, dem Aorist, dem tu kurzum seormämn, dein Medium u. s. w.? Ja. Nützt uns diese Kenntnis im spätern Leben etwas? Nicht das geringste. Kenntnis der griechischen Litteratur? In sehr geringem Maße. Wir haben in jenen sechs Jahren einen verschwindend kleinen Teil derselben ans der Schule durchgearbeitet; wir haben es nicht dahin gebracht, den Plato, den Thukydides oder auch nnr den A'cnophon fließend zu lesen, etwa wie ein französisches Buch. Und wenn wir es könnten, thun wir es im Leben, sobald uns die Disziplin der Schule nicht mehr dazu zwingt? Nein. Es liegt anch gar kein Bedürfnis dazu vor. Denn was jene Schriftsteller geschrieben haben, das steht für uns viel verständlicher in hundert deutschen Büchern. Wie steht es aber mit dem Homer? Daß Homer der größte epische Dichter aller Zeiten und Völker gewesen, daß sein Ruhm, um mit König Ludwig zu reden, fester ist als die Felsen im Meere, die einst der geblendete Cyklop dem Schiffe des göttlichen Dulders nachschleuderte, das zu bestreiten (und es ist noch erst kürzlich bestritten worden) wird ein vergebliches Bemühen bleiben. Homer ist für die Menschen der Gegenwart noch eben so wichtig als er es für die Griechen war; was Horaz über ihn ans Präneste an Lollius schreibt, das gilt noch heute. Jedes Kind kennt ja auch Homers Erzählungen von den Götter» und Heldengestalten der Hellenen. Ist nnn zum Lesen des Homer die griechische Sprache erforderlich? Um die volle Freude daran zu haben, ja!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/580>, abgerufen am 01.09.2024.