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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Amerikanische und deutsche Gewerbeschiedsgerichte und Linignngsa'inter.

reichen, bevor man sich in einem Lande wie Amerika zu gesetzgeberischen Eingriffen
verstand. Es entspricht dies dem Entwicklungsgange, der sich dort auf allen
Gebieten des öffentlichen Lebens verfolgen läßt; in Ermangelung aller Stätigkeit
und Festigkeit in der Staatsregierung bleibt nach dem Grundsatze Holx ^oursslk
der Lauf der Dinge sich selbst überlassen, bis die dabei unvermeidlichen Mißstände
so arg werden, daß sie die öffentliche Meinung gegen sich kehren und die not¬
wendige Reaktion aus sich selbst hervorrufen. Dies beweist z. B. auf wirt¬
schaftlichem Gebiete die soeben dargestellte Gesetzgebung und die gewaltsame Nieder¬
schlagung von Streiks, sobald sie in weitere Kreise des Geschäfts- und Verkehrs-
lebens störend eingreifen; in der Verwaltung die periodische Auskehrung der
Augiasställe innerhalb der Gemeindebehörden der Großstädte; im politischen
Leben die bisher freilich vergeblich gewesenen Versuche einer Reform des durch und
durch korrumpirten Wahlsystems und gewerbsmäßigen Politikertums; auf dem
Gebiete der Staatspolizei und Rechtspflege der Chicagoer Anarchistenprozeß
n. s. w. Ein bekannter deutsch-amerikanischer Staatsmann kennzeichnete diese
Lage mit dem Ausspruche: "Obwohl bei uns im einzelnen alles schlecht zu
gehen scheint, geht im großen doch alles gut!" Man befinde sich eben noch
auf einer Durchgangsstufe, wo jede Verbesserung erst durch den erlittenen
Schaden erkauft werde; aber darin liege zugleich die Gewähr für eine gesunde
Entwicklung.

Einen so kostspieligen und für die Entwicklung eines Staatswesens sonst
nicht unbedenklichen Lehrgang darf sich vielleicht ein Land gestatten, dem noch
unerschöpfliche Hilfsquellen zu Gebote stehen, und wo die sozialen Gegensätze durch
die steigende Entwicklung des Landes und den fortdauernden Einwandererstrom
immer wieder eine Ausgleichung finden; er mag auch drüben eine gewisse Be¬
rechtigung haben, weil dort noch alles im Werden ist, und es an allen geschichtlich
oder sonstwie feststehenden Mächten fehlt, welche die Leitung und gar eine
planmäßige Behandlung der sozialen Frage übernehmen könnten.

In Deutschland haben wir glücklicherweise solche Mächte und besitzen in
der Allerhöchsten Botschaft vom 17. November 1881 ein grundlegendes Programm
für diese gewaltige Aufgabe.

Es fragt sich nun, ob nicht eine Nutzanwendung der oben geschilderten
amerikanischen Gesetzgebung auf unsre einheimischen Verhältnisse einen Beitrag
zur weiteren Befestigung des sozialen Friedens und zur Ausgleichung der schroffen
Gegensätze, welche das heutige Wirtschaftsleben beherrschen, abgeben könnte,
insbesondre ob gesetzgeberische Eingriffe zur Herbeiführung einer vernünftigeren
Regelung der Lohnstreitigkeiten als durch Massenstreiks und -Aussperrungen
wünschenswert und durchführbar sind. (Schluß folgt.)




Amerikanische und deutsche Gewerbeschiedsgerichte und Linignngsa'inter.

reichen, bevor man sich in einem Lande wie Amerika zu gesetzgeberischen Eingriffen
verstand. Es entspricht dies dem Entwicklungsgange, der sich dort auf allen
Gebieten des öffentlichen Lebens verfolgen läßt; in Ermangelung aller Stätigkeit
und Festigkeit in der Staatsregierung bleibt nach dem Grundsatze Holx ^oursslk
der Lauf der Dinge sich selbst überlassen, bis die dabei unvermeidlichen Mißstände
so arg werden, daß sie die öffentliche Meinung gegen sich kehren und die not¬
wendige Reaktion aus sich selbst hervorrufen. Dies beweist z. B. auf wirt¬
schaftlichem Gebiete die soeben dargestellte Gesetzgebung und die gewaltsame Nieder¬
schlagung von Streiks, sobald sie in weitere Kreise des Geschäfts- und Verkehrs-
lebens störend eingreifen; in der Verwaltung die periodische Auskehrung der
Augiasställe innerhalb der Gemeindebehörden der Großstädte; im politischen
Leben die bisher freilich vergeblich gewesenen Versuche einer Reform des durch und
durch korrumpirten Wahlsystems und gewerbsmäßigen Politikertums; auf dem
Gebiete der Staatspolizei und Rechtspflege der Chicagoer Anarchistenprozeß
n. s. w. Ein bekannter deutsch-amerikanischer Staatsmann kennzeichnete diese
Lage mit dem Ausspruche: „Obwohl bei uns im einzelnen alles schlecht zu
gehen scheint, geht im großen doch alles gut!" Man befinde sich eben noch
auf einer Durchgangsstufe, wo jede Verbesserung erst durch den erlittenen
Schaden erkauft werde; aber darin liege zugleich die Gewähr für eine gesunde
Entwicklung.

Einen so kostspieligen und für die Entwicklung eines Staatswesens sonst
nicht unbedenklichen Lehrgang darf sich vielleicht ein Land gestatten, dem noch
unerschöpfliche Hilfsquellen zu Gebote stehen, und wo die sozialen Gegensätze durch
die steigende Entwicklung des Landes und den fortdauernden Einwandererstrom
immer wieder eine Ausgleichung finden; er mag auch drüben eine gewisse Be¬
rechtigung haben, weil dort noch alles im Werden ist, und es an allen geschichtlich
oder sonstwie feststehenden Mächten fehlt, welche die Leitung und gar eine
planmäßige Behandlung der sozialen Frage übernehmen könnten.

In Deutschland haben wir glücklicherweise solche Mächte und besitzen in
der Allerhöchsten Botschaft vom 17. November 1881 ein grundlegendes Programm
für diese gewaltige Aufgabe.

Es fragt sich nun, ob nicht eine Nutzanwendung der oben geschilderten
amerikanischen Gesetzgebung auf unsre einheimischen Verhältnisse einen Beitrag
zur weiteren Befestigung des sozialen Friedens und zur Ausgleichung der schroffen
Gegensätze, welche das heutige Wirtschaftsleben beherrschen, abgeben könnte,
insbesondre ob gesetzgeberische Eingriffe zur Herbeiführung einer vernünftigeren
Regelung der Lohnstreitigkeiten als durch Massenstreiks und -Aussperrungen
wünschenswert und durchführbar sind. (Schluß folgt.)




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/573>, abgerufen am 27.07.2024.