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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Amerikanische und deutsche Gewerbeschiedsgerichte und Ginigungsämter.

den Arbeitern eine bessere Belehrung über die einschlägigen Verhältnisse zu
geben, sodaß übertriebene oder unsinnige Forderungen immer seltener werden.

Es lassen sich sogar Beispiele dafür anführen, daß in manchen Gewerbs-
zweigen die gegenseitig vereinbarten Lohnsätze jahrelang den Arbeitsmarkt be¬
herrscht haben, und daß selbst erhebliche, durch Schiedsspruch auferlegte Lohn-
herabsetzungen stillschweigend hingenommen worden sind.

Es bietet nun lediglich einen weitern Beweis für den oben behaupteten Um-
schwung in der sozialpolitischen Anschauung, daß neuerdings die Gesetzgebung sich
auch der soeben erörterten Frage bemächtigt hat, um eine befriedigendere Lösung
der Lohnstreitigkeiten zu verbürgen. Allerdings hat sie sich in weiser Mäßigung
und entsprechender Berücksichtigung der allgemeinen Abneigung gegen staatliche
Eingriffe in das freie Selbstbestimmungsrecht im wesentlichen darauf beschränkt,
dem durch Selbsthilfe geschaffenen nachzugehen, d. h. ihm festere Formen zu
geben und die vorhandenen Mängel möglichst zu beseitigen.

Auch hier hat Massachusetts (nachdem der große Eisenbahnstreik von 1877
in Pennsylvanien und Ohio zu erfolglosen Versuchen geführt hatte) den Anfang
gemacht, indem in Boston durch Gesetz vom 2. Juni 1886 und 14. Mai 1887
das erste staatliche Schieds- und Einigungsamt -- bosrcl ok arbitr-itiou "na
oonoili-Mon -- eingesetzt worden ist. Es besteht aus drei vom Gouverneur
ernannten und vereidigten Mitgliedern, von denen je einer dem Arbeitgeber¬
und dem Arbeiterstande oder deren Organisationen entnommen und der dritte
von diesen beiden vorgeschlagen werden soll. Als "Schiedsgericht" tritt das
Amt nur auf Antrag der beiden streitenden Parteien oder auch nur einer derselben
oder ihrer Bevollmächtigten in Thätigkeit. Der Antrag muß eine gedrungene
Sachdarstellnng des Streitgegenstandes und in jedem Falle das Versprechen
enthalten, bis zu dem -- binnen längstens drei Wochen zu erlassenden --
Schiedssprüche keine Arbeitseinstellung oder Arbeiteraussperruug vorzunehmen,
widrigenfalls das Verfahren nur mit schriftlicher Einwilligung der Gegenpartei
fortgesetzt werden darf. Nach Eingang eines solchen Antrages hat das Amt
Ort und Zeit der Verhandlung zu bestimmen. Zur Feststellung des Sachver¬
halts kaun es die Parteien an Ort und Stelle hören, die erforderliche Besich¬
tigung vornehmen, die Geschäftsbücher über die Lohnzahlungen einsehen, auch
Zeugen und Sachverständige eidlich vernehmen. Darauf soll eine schriftliche
Entscheidung erfolgen, die in das Spruchbnch einzutragen und zur öffentlichen
Einsicht auszulegen, auch in Abschrift der betreffenden Ortsbehörde mitzuteilen
ist. Die Rechtsverbindlichkeit dieses Spruches ist für beide Teile auf einen
Zeitraum von sechs Monaten beschränkt und an eine Kündigungsfrist von
sechzig Tagen gebunden, eine Bestimmung, die augenscheinlich den wechselnden
Geschäftslagen und den dadurch gebotenen Rücksichten Rechnung tragen soll.
Im übrigen steht ein solcher Schiedsspruch den richterlichen Urteilen gleich, kann
daher auch zivilrechtlich vollstreckt werden.


Amerikanische und deutsche Gewerbeschiedsgerichte und Ginigungsämter.

den Arbeitern eine bessere Belehrung über die einschlägigen Verhältnisse zu
geben, sodaß übertriebene oder unsinnige Forderungen immer seltener werden.

Es lassen sich sogar Beispiele dafür anführen, daß in manchen Gewerbs-
zweigen die gegenseitig vereinbarten Lohnsätze jahrelang den Arbeitsmarkt be¬
herrscht haben, und daß selbst erhebliche, durch Schiedsspruch auferlegte Lohn-
herabsetzungen stillschweigend hingenommen worden sind.

Es bietet nun lediglich einen weitern Beweis für den oben behaupteten Um-
schwung in der sozialpolitischen Anschauung, daß neuerdings die Gesetzgebung sich
auch der soeben erörterten Frage bemächtigt hat, um eine befriedigendere Lösung
der Lohnstreitigkeiten zu verbürgen. Allerdings hat sie sich in weiser Mäßigung
und entsprechender Berücksichtigung der allgemeinen Abneigung gegen staatliche
Eingriffe in das freie Selbstbestimmungsrecht im wesentlichen darauf beschränkt,
dem durch Selbsthilfe geschaffenen nachzugehen, d. h. ihm festere Formen zu
geben und die vorhandenen Mängel möglichst zu beseitigen.

Auch hier hat Massachusetts (nachdem der große Eisenbahnstreik von 1877
in Pennsylvanien und Ohio zu erfolglosen Versuchen geführt hatte) den Anfang
gemacht, indem in Boston durch Gesetz vom 2. Juni 1886 und 14. Mai 1887
das erste staatliche Schieds- und Einigungsamt — bosrcl ok arbitr-itiou »na
oonoili-Mon — eingesetzt worden ist. Es besteht aus drei vom Gouverneur
ernannten und vereidigten Mitgliedern, von denen je einer dem Arbeitgeber¬
und dem Arbeiterstande oder deren Organisationen entnommen und der dritte
von diesen beiden vorgeschlagen werden soll. Als „Schiedsgericht" tritt das
Amt nur auf Antrag der beiden streitenden Parteien oder auch nur einer derselben
oder ihrer Bevollmächtigten in Thätigkeit. Der Antrag muß eine gedrungene
Sachdarstellnng des Streitgegenstandes und in jedem Falle das Versprechen
enthalten, bis zu dem — binnen längstens drei Wochen zu erlassenden —
Schiedssprüche keine Arbeitseinstellung oder Arbeiteraussperruug vorzunehmen,
widrigenfalls das Verfahren nur mit schriftlicher Einwilligung der Gegenpartei
fortgesetzt werden darf. Nach Eingang eines solchen Antrages hat das Amt
Ort und Zeit der Verhandlung zu bestimmen. Zur Feststellung des Sachver¬
halts kaun es die Parteien an Ort und Stelle hören, die erforderliche Besich¬
tigung vornehmen, die Geschäftsbücher über die Lohnzahlungen einsehen, auch
Zeugen und Sachverständige eidlich vernehmen. Darauf soll eine schriftliche
Entscheidung erfolgen, die in das Spruchbnch einzutragen und zur öffentlichen
Einsicht auszulegen, auch in Abschrift der betreffenden Ortsbehörde mitzuteilen
ist. Die Rechtsverbindlichkeit dieses Spruches ist für beide Teile auf einen
Zeitraum von sechs Monaten beschränkt und an eine Kündigungsfrist von
sechzig Tagen gebunden, eine Bestimmung, die augenscheinlich den wechselnden
Geschäftslagen und den dadurch gebotenen Rücksichten Rechnung tragen soll.
Im übrigen steht ein solcher Schiedsspruch den richterlichen Urteilen gleich, kann
daher auch zivilrechtlich vollstreckt werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/570>, abgerufen am 01.09.2024.