Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ricks Lyhne.

wie das Plätschern der an den Strand rollenden Wellen zu seiner Seele
sprachen.

Der ist glücklich in seinem Kummer, der, wenn einer seiner Lieben heim¬
gegangen ist, alle seine Thränen über die Leere, die Verlassenheit und den Ver¬
lust weinen kann; aber schwere, herbe Thränen sind es, die sühnen sollen, was
entschwundne Tage von Mangel an Liebe zu dem gesehen, der jetzt gestorben
ist, und dem gegenüber nichts Geschehenes wieder gut gemacht werden kann.
Denn jetzt kehren sie alle wieder, nicht nur harte, sorgfältig vergiftete Ant¬
worten, schonungsloser Tadel, gedankenloser Zorn, sondern auch lieblose Ge¬
danken, denen keine Worte verliehen wurden, hastige Träume, die dnrch den
Sinn zogen, einsames Achselzucken, ungesehenes Lächeln voller Hohn und Un¬
geduld; sie kommen alle wieder wie giftige Pfeile und senken ihren Stachel tief
in deine eigne Brust, ihren stumpfen Stachel, denn die Spitze ist ja abgebrochen
in dem Herzen, das jetzt nicht mehr schlägt. Ja, es schlägt nicht mehr, du kannst
nichts wieder gut machen, nicht das geringste. Jetzt hegt dein Herz Liebe genug,
aber nun ist es zu spät. Tritt an das kalte Grab mit deinem vollen Herzen --
kannst du dem Abgeschiednen näher kommen? Pflanze Blumen und flicht
Kränze -- bist du ihm damit um einen Finger breit näher gekommen?

Auch auf Lönborggaard wanden sie Kränze, auch zu ihnen kamen die
bittern Erinnerungen an Stunden, in denen die Liebe von rauheren Stimmen
übertönt worden war, auch für sie lag in den strengen Linien, die den ge¬
schlossenen Mund des Grabes umgaben, so manches, was ihre Reue erwecken
konnte.

Es war eine schwere, trübe Zeit, aber sie hatte einen Lichtpunkt: sie
brachte Mutter und Sohn einander näher, als sie es seit vielen Jahren ge¬
wesen waren, denn obwohl sie große Liebe zu einander hegten, hatten sie sich
doch stets ängstlich vor einander bewacht, und es war in ihrem Nehmen und
Geben eine Zurückhaltung gewesen, die sich schon von der Zeit her schrieb, als
Ricks zu groß geworden war, um auf den Knieen der Mutter zu sitzen. Er
fürchtete sich vor dem Heftigen, Überspannten in ihrer Natur, während sie sich
durch das Zaghafte, Unschlüssige in ihm fremdartig berührt fühlte. Jetzt aber
hatte das Leben ihre Herzen vorbereitet, und bald sollten sie sich ganz und
gar finden.

Kaum zwei Monate nach der Beerdigung erkrankte Frau Lyhne heftig, und
eine Zeit lang fürchtete man für ihr Leben. Die Angst, die über diesen Wochen
lag, drängte jenen frühern Schmerz in den Hintergrund, und als Frau Lyhne
anfing, sich zu erholen, war es sowohl für sie wie für Ricks, als lägen Jahre
zwischen ihnen und dem frischen Grabe.

Frau Lyhne war während ihrer ganzen Krankheit überzeugt gewesen, daß
sie sterben müsse, und selbst jetzt, wo der Arzt sie außer aller Gefahr erklärt
hatte, konnte sie sich von diesen düstern Gedanken nicht frei machen.


Ricks Lyhne.

wie das Plätschern der an den Strand rollenden Wellen zu seiner Seele
sprachen.

Der ist glücklich in seinem Kummer, der, wenn einer seiner Lieben heim¬
gegangen ist, alle seine Thränen über die Leere, die Verlassenheit und den Ver¬
lust weinen kann; aber schwere, herbe Thränen sind es, die sühnen sollen, was
entschwundne Tage von Mangel an Liebe zu dem gesehen, der jetzt gestorben
ist, und dem gegenüber nichts Geschehenes wieder gut gemacht werden kann.
Denn jetzt kehren sie alle wieder, nicht nur harte, sorgfältig vergiftete Ant¬
worten, schonungsloser Tadel, gedankenloser Zorn, sondern auch lieblose Ge¬
danken, denen keine Worte verliehen wurden, hastige Träume, die dnrch den
Sinn zogen, einsames Achselzucken, ungesehenes Lächeln voller Hohn und Un¬
geduld; sie kommen alle wieder wie giftige Pfeile und senken ihren Stachel tief
in deine eigne Brust, ihren stumpfen Stachel, denn die Spitze ist ja abgebrochen
in dem Herzen, das jetzt nicht mehr schlägt. Ja, es schlägt nicht mehr, du kannst
nichts wieder gut machen, nicht das geringste. Jetzt hegt dein Herz Liebe genug,
aber nun ist es zu spät. Tritt an das kalte Grab mit deinem vollen Herzen —
kannst du dem Abgeschiednen näher kommen? Pflanze Blumen und flicht
Kränze — bist du ihm damit um einen Finger breit näher gekommen?

Auch auf Lönborggaard wanden sie Kränze, auch zu ihnen kamen die
bittern Erinnerungen an Stunden, in denen die Liebe von rauheren Stimmen
übertönt worden war, auch für sie lag in den strengen Linien, die den ge¬
schlossenen Mund des Grabes umgaben, so manches, was ihre Reue erwecken
konnte.

Es war eine schwere, trübe Zeit, aber sie hatte einen Lichtpunkt: sie
brachte Mutter und Sohn einander näher, als sie es seit vielen Jahren ge¬
wesen waren, denn obwohl sie große Liebe zu einander hegten, hatten sie sich
doch stets ängstlich vor einander bewacht, und es war in ihrem Nehmen und
Geben eine Zurückhaltung gewesen, die sich schon von der Zeit her schrieb, als
Ricks zu groß geworden war, um auf den Knieen der Mutter zu sitzen. Er
fürchtete sich vor dem Heftigen, Überspannten in ihrer Natur, während sie sich
durch das Zaghafte, Unschlüssige in ihm fremdartig berührt fühlte. Jetzt aber
hatte das Leben ihre Herzen vorbereitet, und bald sollten sie sich ganz und
gar finden.

Kaum zwei Monate nach der Beerdigung erkrankte Frau Lyhne heftig, und
eine Zeit lang fürchtete man für ihr Leben. Die Angst, die über diesen Wochen
lag, drängte jenen frühern Schmerz in den Hintergrund, und als Frau Lyhne
anfing, sich zu erholen, war es sowohl für sie wie für Ricks, als lägen Jahre
zwischen ihnen und dem frischen Grabe.

Frau Lyhne war während ihrer ganzen Krankheit überzeugt gewesen, daß
sie sterben müsse, und selbst jetzt, wo der Arzt sie außer aller Gefahr erklärt
hatte, konnte sie sich von diesen düstern Gedanken nicht frei machen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0550" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203327"/>
          <fw type="header" place="top"> Ricks Lyhne.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1702" prev="#ID_1701"> wie das Plätschern der an den Strand rollenden Wellen zu seiner Seele<lb/>
sprachen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1703"> Der ist glücklich in seinem Kummer, der, wenn einer seiner Lieben heim¬<lb/>
gegangen ist, alle seine Thränen über die Leere, die Verlassenheit und den Ver¬<lb/>
lust weinen kann; aber schwere, herbe Thränen sind es, die sühnen sollen, was<lb/>
entschwundne Tage von Mangel an Liebe zu dem gesehen, der jetzt gestorben<lb/>
ist, und dem gegenüber nichts Geschehenes wieder gut gemacht werden kann.<lb/>
Denn jetzt kehren sie alle wieder, nicht nur harte, sorgfältig vergiftete Ant¬<lb/>
worten, schonungsloser Tadel, gedankenloser Zorn, sondern auch lieblose Ge¬<lb/>
danken, denen keine Worte verliehen wurden, hastige Träume, die dnrch den<lb/>
Sinn zogen, einsames Achselzucken, ungesehenes Lächeln voller Hohn und Un¬<lb/>
geduld; sie kommen alle wieder wie giftige Pfeile und senken ihren Stachel tief<lb/>
in deine eigne Brust, ihren stumpfen Stachel, denn die Spitze ist ja abgebrochen<lb/>
in dem Herzen, das jetzt nicht mehr schlägt. Ja, es schlägt nicht mehr, du kannst<lb/>
nichts wieder gut machen, nicht das geringste. Jetzt hegt dein Herz Liebe genug,<lb/>
aber nun ist es zu spät. Tritt an das kalte Grab mit deinem vollen Herzen &#x2014;<lb/>
kannst du dem Abgeschiednen näher kommen? Pflanze Blumen und flicht<lb/>
Kränze &#x2014; bist du ihm damit um einen Finger breit näher gekommen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1704"> Auch auf Lönborggaard wanden sie Kränze, auch zu ihnen kamen die<lb/>
bittern Erinnerungen an Stunden, in denen die Liebe von rauheren Stimmen<lb/>
übertönt worden war, auch für sie lag in den strengen Linien, die den ge¬<lb/>
schlossenen Mund des Grabes umgaben, so manches, was ihre Reue erwecken<lb/>
konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1705"> Es war eine schwere, trübe Zeit, aber sie hatte einen Lichtpunkt: sie<lb/>
brachte Mutter und Sohn einander näher, als sie es seit vielen Jahren ge¬<lb/>
wesen waren, denn obwohl sie große Liebe zu einander hegten, hatten sie sich<lb/>
doch stets ängstlich vor einander bewacht, und es war in ihrem Nehmen und<lb/>
Geben eine Zurückhaltung gewesen, die sich schon von der Zeit her schrieb, als<lb/>
Ricks zu groß geworden war, um auf den Knieen der Mutter zu sitzen. Er<lb/>
fürchtete sich vor dem Heftigen, Überspannten in ihrer Natur, während sie sich<lb/>
durch das Zaghafte, Unschlüssige in ihm fremdartig berührt fühlte. Jetzt aber<lb/>
hatte das Leben ihre Herzen vorbereitet, und bald sollten sie sich ganz und<lb/>
gar finden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1706"> Kaum zwei Monate nach der Beerdigung erkrankte Frau Lyhne heftig, und<lb/>
eine Zeit lang fürchtete man für ihr Leben. Die Angst, die über diesen Wochen<lb/>
lag, drängte jenen frühern Schmerz in den Hintergrund, und als Frau Lyhne<lb/>
anfing, sich zu erholen, war es sowohl für sie wie für Ricks, als lägen Jahre<lb/>
zwischen ihnen und dem frischen Grabe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1707"> Frau Lyhne war während ihrer ganzen Krankheit überzeugt gewesen, daß<lb/>
sie sterben müsse, und selbst jetzt, wo der Arzt sie außer aller Gefahr erklärt<lb/>
hatte, konnte sie sich von diesen düstern Gedanken nicht frei machen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0550] Ricks Lyhne. wie das Plätschern der an den Strand rollenden Wellen zu seiner Seele sprachen. Der ist glücklich in seinem Kummer, der, wenn einer seiner Lieben heim¬ gegangen ist, alle seine Thränen über die Leere, die Verlassenheit und den Ver¬ lust weinen kann; aber schwere, herbe Thränen sind es, die sühnen sollen, was entschwundne Tage von Mangel an Liebe zu dem gesehen, der jetzt gestorben ist, und dem gegenüber nichts Geschehenes wieder gut gemacht werden kann. Denn jetzt kehren sie alle wieder, nicht nur harte, sorgfältig vergiftete Ant¬ worten, schonungsloser Tadel, gedankenloser Zorn, sondern auch lieblose Ge¬ danken, denen keine Worte verliehen wurden, hastige Träume, die dnrch den Sinn zogen, einsames Achselzucken, ungesehenes Lächeln voller Hohn und Un¬ geduld; sie kommen alle wieder wie giftige Pfeile und senken ihren Stachel tief in deine eigne Brust, ihren stumpfen Stachel, denn die Spitze ist ja abgebrochen in dem Herzen, das jetzt nicht mehr schlägt. Ja, es schlägt nicht mehr, du kannst nichts wieder gut machen, nicht das geringste. Jetzt hegt dein Herz Liebe genug, aber nun ist es zu spät. Tritt an das kalte Grab mit deinem vollen Herzen — kannst du dem Abgeschiednen näher kommen? Pflanze Blumen und flicht Kränze — bist du ihm damit um einen Finger breit näher gekommen? Auch auf Lönborggaard wanden sie Kränze, auch zu ihnen kamen die bittern Erinnerungen an Stunden, in denen die Liebe von rauheren Stimmen übertönt worden war, auch für sie lag in den strengen Linien, die den ge¬ schlossenen Mund des Grabes umgaben, so manches, was ihre Reue erwecken konnte. Es war eine schwere, trübe Zeit, aber sie hatte einen Lichtpunkt: sie brachte Mutter und Sohn einander näher, als sie es seit vielen Jahren ge¬ wesen waren, denn obwohl sie große Liebe zu einander hegten, hatten sie sich doch stets ängstlich vor einander bewacht, und es war in ihrem Nehmen und Geben eine Zurückhaltung gewesen, die sich schon von der Zeit her schrieb, als Ricks zu groß geworden war, um auf den Knieen der Mutter zu sitzen. Er fürchtete sich vor dem Heftigen, Überspannten in ihrer Natur, während sie sich durch das Zaghafte, Unschlüssige in ihm fremdartig berührt fühlte. Jetzt aber hatte das Leben ihre Herzen vorbereitet, und bald sollten sie sich ganz und gar finden. Kaum zwei Monate nach der Beerdigung erkrankte Frau Lyhne heftig, und eine Zeit lang fürchtete man für ihr Leben. Die Angst, die über diesen Wochen lag, drängte jenen frühern Schmerz in den Hintergrund, und als Frau Lyhne anfing, sich zu erholen, war es sowohl für sie wie für Ricks, als lägen Jahre zwischen ihnen und dem frischen Grabe. Frau Lyhne war während ihrer ganzen Krankheit überzeugt gewesen, daß sie sterben müsse, und selbst jetzt, wo der Arzt sie außer aller Gefahr erklärt hatte, konnte sie sich von diesen düstern Gedanken nicht frei machen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/550
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/550>, abgerufen am 28.07.2024.