Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Ästhetik des hässlichen.

brennt. Alle diese Scheußlichkeiten werden mit der kalten Ruhe eines Mathe¬
matikers aufgezählt, und alles verläuft für die Übelthätcr so erwünscht, als ob
es in Frankreich gar keine strafende Gerechtigkeit mehr gäbe.

Zola will uns echte Typen aus dem Leben vorführen, und wir sehen nichts
als Karikaturen, die uns mit ihren Ungeheuerlichkeiten nicht ergreifen und er¬
schüttern, sondern höchstens den Eindruck der Lächerlichkeit auf uns machen.

Wenn das französische Landvolk in Sprache, Sitte und Gewohnheit so
verkommen ist, wie Zola es schildert, dann geht Frankreich mit rasenden Schrittet!
seiner Selbstauflösung entgegen. Lagen aber diese Übertreibungen in Zolas Ab¬
sicht, so mußte der ganze Roman auch von einem satirischen Grundgedanken ge¬
tragen sein. Allein er will gar keine Satire schreiben, sondern nur allgemeine
bestehende Thatsachen berichten, für die er Beweisstücke -- natürlich aus Zei¬
tungsberichten gesammelt -- aufzuzeigen vermag. Unter der Flagge der Wahr¬
heit sind jedoch derartige Fälschungen umso verwerflicher.

Keine Entschuldigung, nnr eine Erklärung dafür kann in Zolas beharrlich
durchgeführten Versuch liegen, mit seinem großen Romanzyklus: Niswirs na.-
wrgllk "ze sooiiüe ä'rav karnills sous 1s sseonä snixiro eine Frage zu beantworten,
vor der sonst die Franzosen ratlos dastehen, die Frage nämlich, wie es möglich
gewesen ist, daß der alten xloirc; Frankreichs im Kriege von 1870/71 ein so kläg¬
liches Ende bereitet wurde. Zola ist ehrlich genug, nicht den Mangel an Mit¬
teln, nicht die Überlegenheit des Feindes, nicht den Verrat der Führer für die
furchtbare Katastrophe als Erklärung herbeizuziehen, er findet den alleinigen
Grund in der sittlichen und physischen Verkommenheit des französischen Volkes,
wie sie durch allmähliche Vererbung entstanden ist, in dem bodenlosen Leichtsinn
der Aristokratie, in dem Egoismus der Bourgeoisie, in der Entsittlichung und
Verrohung der Arbeiter und des Landvolkes. Es gehört gewiß Mut dazu,
dem französischen Chauvinismus so ins Gesicht zu schlagen, wie es Zola an
einer Stelle in 1.3. ?eir<z gethan hat. Der deutsch-französische Krieg ist aus-
gebrochen; im Dorfe Beauce wird uns eine Mobilmachung im Kleinen vorge¬
führt, und Zola hat hier die Kühnheit, zu erzählen, wie sich ein Bauerbursche
beim Trommelwirbel wegschleicht und sich den Zeigefinger abhackt, um nicht dem
Rufe des Vaterlandes folgen zu müssen.

Zola hat Schopenhauer studirt und sich aus dem Arsenal des Pessimis¬
mus manche Leuchtraketen angeeignet. So spricht er im <Förmwa1 von der
imMM as Wut, 1'6tMnsI1ö änulsur as l'sxistsnos, und auch durch l'srrv
weht in dem vergeblichen Ringen der Menschheit mit der Mutter Erde ein
schwüler pessimistischer Hauch. Aber Schopenhauer hatte im Humor ein
Palliativ gefunden gegen das tragische Wertgesetz, gegen das Häßliche des Daseins.
Zola kennt dieses Göttergeschenk nicht und gelangt nicht dahin, das konkrete
Häßliche zu überwinden und aus ihm den "dummen Teufel" zu machen, der
im Kampfe gegen das Schöne in jämmerlicher Weise unterliegt. Er bleibt in


Zur Ästhetik des hässlichen.

brennt. Alle diese Scheußlichkeiten werden mit der kalten Ruhe eines Mathe¬
matikers aufgezählt, und alles verläuft für die Übelthätcr so erwünscht, als ob
es in Frankreich gar keine strafende Gerechtigkeit mehr gäbe.

Zola will uns echte Typen aus dem Leben vorführen, und wir sehen nichts
als Karikaturen, die uns mit ihren Ungeheuerlichkeiten nicht ergreifen und er¬
schüttern, sondern höchstens den Eindruck der Lächerlichkeit auf uns machen.

Wenn das französische Landvolk in Sprache, Sitte und Gewohnheit so
verkommen ist, wie Zola es schildert, dann geht Frankreich mit rasenden Schrittet!
seiner Selbstauflösung entgegen. Lagen aber diese Übertreibungen in Zolas Ab¬
sicht, so mußte der ganze Roman auch von einem satirischen Grundgedanken ge¬
tragen sein. Allein er will gar keine Satire schreiben, sondern nur allgemeine
bestehende Thatsachen berichten, für die er Beweisstücke — natürlich aus Zei¬
tungsberichten gesammelt — aufzuzeigen vermag. Unter der Flagge der Wahr¬
heit sind jedoch derartige Fälschungen umso verwerflicher.

Keine Entschuldigung, nnr eine Erklärung dafür kann in Zolas beharrlich
durchgeführten Versuch liegen, mit seinem großen Romanzyklus: Niswirs na.-
wrgllk «ze sooiiüe ä'rav karnills sous 1s sseonä snixiro eine Frage zu beantworten,
vor der sonst die Franzosen ratlos dastehen, die Frage nämlich, wie es möglich
gewesen ist, daß der alten xloirc; Frankreichs im Kriege von 1870/71 ein so kläg¬
liches Ende bereitet wurde. Zola ist ehrlich genug, nicht den Mangel an Mit¬
teln, nicht die Überlegenheit des Feindes, nicht den Verrat der Führer für die
furchtbare Katastrophe als Erklärung herbeizuziehen, er findet den alleinigen
Grund in der sittlichen und physischen Verkommenheit des französischen Volkes,
wie sie durch allmähliche Vererbung entstanden ist, in dem bodenlosen Leichtsinn
der Aristokratie, in dem Egoismus der Bourgeoisie, in der Entsittlichung und
Verrohung der Arbeiter und des Landvolkes. Es gehört gewiß Mut dazu,
dem französischen Chauvinismus so ins Gesicht zu schlagen, wie es Zola an
einer Stelle in 1.3. ?eir<z gethan hat. Der deutsch-französische Krieg ist aus-
gebrochen; im Dorfe Beauce wird uns eine Mobilmachung im Kleinen vorge¬
führt, und Zola hat hier die Kühnheit, zu erzählen, wie sich ein Bauerbursche
beim Trommelwirbel wegschleicht und sich den Zeigefinger abhackt, um nicht dem
Rufe des Vaterlandes folgen zu müssen.

Zola hat Schopenhauer studirt und sich aus dem Arsenal des Pessimis¬
mus manche Leuchtraketen angeeignet. So spricht er im <Förmwa1 von der
imMM as Wut, 1'6tMnsI1ö änulsur as l'sxistsnos, und auch durch l'srrv
weht in dem vergeblichen Ringen der Menschheit mit der Mutter Erde ein
schwüler pessimistischer Hauch. Aber Schopenhauer hatte im Humor ein
Palliativ gefunden gegen das tragische Wertgesetz, gegen das Häßliche des Daseins.
Zola kennt dieses Göttergeschenk nicht und gelangt nicht dahin, das konkrete
Häßliche zu überwinden und aus ihm den „dummen Teufel" zu machen, der
im Kampfe gegen das Schöne in jämmerlicher Weise unterliegt. Er bleibt in


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0541" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203318"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur Ästhetik des hässlichen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1683" prev="#ID_1682"> brennt. Alle diese Scheußlichkeiten werden mit der kalten Ruhe eines Mathe¬<lb/>
matikers aufgezählt, und alles verläuft für die Übelthätcr so erwünscht, als ob<lb/>
es in Frankreich gar keine strafende Gerechtigkeit mehr gäbe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1684"> Zola will uns echte Typen aus dem Leben vorführen, und wir sehen nichts<lb/>
als Karikaturen, die uns mit ihren Ungeheuerlichkeiten nicht ergreifen und er¬<lb/>
schüttern, sondern höchstens den Eindruck der Lächerlichkeit auf uns machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1685"> Wenn das französische Landvolk in Sprache, Sitte und Gewohnheit so<lb/>
verkommen ist, wie Zola es schildert, dann geht Frankreich mit rasenden Schrittet!<lb/>
seiner Selbstauflösung entgegen. Lagen aber diese Übertreibungen in Zolas Ab¬<lb/>
sicht, so mußte der ganze Roman auch von einem satirischen Grundgedanken ge¬<lb/>
tragen sein. Allein er will gar keine Satire schreiben, sondern nur allgemeine<lb/>
bestehende Thatsachen berichten, für die er Beweisstücke &#x2014; natürlich aus Zei¬<lb/>
tungsberichten gesammelt &#x2014; aufzuzeigen vermag. Unter der Flagge der Wahr¬<lb/>
heit sind jedoch derartige Fälschungen umso verwerflicher.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1686"> Keine Entschuldigung, nnr eine Erklärung dafür kann in Zolas beharrlich<lb/>
durchgeführten Versuch liegen, mit seinem großen Romanzyklus: Niswirs na.-<lb/>
wrgllk «ze sooiiüe ä'rav karnills sous 1s sseonä snixiro eine Frage zu beantworten,<lb/>
vor der sonst die Franzosen ratlos dastehen, die Frage nämlich, wie es möglich<lb/>
gewesen ist, daß der alten xloirc; Frankreichs im Kriege von 1870/71 ein so kläg¬<lb/>
liches Ende bereitet wurde. Zola ist ehrlich genug, nicht den Mangel an Mit¬<lb/>
teln, nicht die Überlegenheit des Feindes, nicht den Verrat der Führer für die<lb/>
furchtbare Katastrophe als Erklärung herbeizuziehen, er findet den alleinigen<lb/>
Grund in der sittlichen und physischen Verkommenheit des französischen Volkes,<lb/>
wie sie durch allmähliche Vererbung entstanden ist, in dem bodenlosen Leichtsinn<lb/>
der Aristokratie, in dem Egoismus der Bourgeoisie, in der Entsittlichung und<lb/>
Verrohung der Arbeiter und des Landvolkes. Es gehört gewiß Mut dazu,<lb/>
dem französischen Chauvinismus so ins Gesicht zu schlagen, wie es Zola an<lb/>
einer Stelle in 1.3. ?eir&lt;z gethan hat. Der deutsch-französische Krieg ist aus-<lb/>
gebrochen; im Dorfe Beauce wird uns eine Mobilmachung im Kleinen vorge¬<lb/>
führt, und Zola hat hier die Kühnheit, zu erzählen, wie sich ein Bauerbursche<lb/>
beim Trommelwirbel wegschleicht und sich den Zeigefinger abhackt, um nicht dem<lb/>
Rufe des Vaterlandes folgen zu müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1687" next="#ID_1688"> Zola hat Schopenhauer studirt und sich aus dem Arsenal des Pessimis¬<lb/>
mus manche Leuchtraketen angeeignet. So spricht er im &lt;Förmwa1 von der<lb/>
imMM as Wut, 1'6tMnsI1ö änulsur as l'sxistsnos, und auch durch l'srrv<lb/>
weht in dem vergeblichen Ringen der Menschheit mit der Mutter Erde ein<lb/>
schwüler pessimistischer Hauch. Aber Schopenhauer hatte im Humor ein<lb/>
Palliativ gefunden gegen das tragische Wertgesetz, gegen das Häßliche des Daseins.<lb/>
Zola kennt dieses Göttergeschenk nicht und gelangt nicht dahin, das konkrete<lb/>
Häßliche zu überwinden und aus ihm den &#x201E;dummen Teufel" zu machen, der<lb/>
im Kampfe gegen das Schöne in jämmerlicher Weise unterliegt. Er bleibt in</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0541] Zur Ästhetik des hässlichen. brennt. Alle diese Scheußlichkeiten werden mit der kalten Ruhe eines Mathe¬ matikers aufgezählt, und alles verläuft für die Übelthätcr so erwünscht, als ob es in Frankreich gar keine strafende Gerechtigkeit mehr gäbe. Zola will uns echte Typen aus dem Leben vorführen, und wir sehen nichts als Karikaturen, die uns mit ihren Ungeheuerlichkeiten nicht ergreifen und er¬ schüttern, sondern höchstens den Eindruck der Lächerlichkeit auf uns machen. Wenn das französische Landvolk in Sprache, Sitte und Gewohnheit so verkommen ist, wie Zola es schildert, dann geht Frankreich mit rasenden Schrittet! seiner Selbstauflösung entgegen. Lagen aber diese Übertreibungen in Zolas Ab¬ sicht, so mußte der ganze Roman auch von einem satirischen Grundgedanken ge¬ tragen sein. Allein er will gar keine Satire schreiben, sondern nur allgemeine bestehende Thatsachen berichten, für die er Beweisstücke — natürlich aus Zei¬ tungsberichten gesammelt — aufzuzeigen vermag. Unter der Flagge der Wahr¬ heit sind jedoch derartige Fälschungen umso verwerflicher. Keine Entschuldigung, nnr eine Erklärung dafür kann in Zolas beharrlich durchgeführten Versuch liegen, mit seinem großen Romanzyklus: Niswirs na.- wrgllk «ze sooiiüe ä'rav karnills sous 1s sseonä snixiro eine Frage zu beantworten, vor der sonst die Franzosen ratlos dastehen, die Frage nämlich, wie es möglich gewesen ist, daß der alten xloirc; Frankreichs im Kriege von 1870/71 ein so kläg¬ liches Ende bereitet wurde. Zola ist ehrlich genug, nicht den Mangel an Mit¬ teln, nicht die Überlegenheit des Feindes, nicht den Verrat der Führer für die furchtbare Katastrophe als Erklärung herbeizuziehen, er findet den alleinigen Grund in der sittlichen und physischen Verkommenheit des französischen Volkes, wie sie durch allmähliche Vererbung entstanden ist, in dem bodenlosen Leichtsinn der Aristokratie, in dem Egoismus der Bourgeoisie, in der Entsittlichung und Verrohung der Arbeiter und des Landvolkes. Es gehört gewiß Mut dazu, dem französischen Chauvinismus so ins Gesicht zu schlagen, wie es Zola an einer Stelle in 1.3. ?eir<z gethan hat. Der deutsch-französische Krieg ist aus- gebrochen; im Dorfe Beauce wird uns eine Mobilmachung im Kleinen vorge¬ führt, und Zola hat hier die Kühnheit, zu erzählen, wie sich ein Bauerbursche beim Trommelwirbel wegschleicht und sich den Zeigefinger abhackt, um nicht dem Rufe des Vaterlandes folgen zu müssen. Zola hat Schopenhauer studirt und sich aus dem Arsenal des Pessimis¬ mus manche Leuchtraketen angeeignet. So spricht er im <Förmwa1 von der imMM as Wut, 1'6tMnsI1ö änulsur as l'sxistsnos, und auch durch l'srrv weht in dem vergeblichen Ringen der Menschheit mit der Mutter Erde ein schwüler pessimistischer Hauch. Aber Schopenhauer hatte im Humor ein Palliativ gefunden gegen das tragische Wertgesetz, gegen das Häßliche des Daseins. Zola kennt dieses Göttergeschenk nicht und gelangt nicht dahin, das konkrete Häßliche zu überwinden und aus ihm den „dummen Teufel" zu machen, der im Kampfe gegen das Schöne in jämmerlicher Weise unterliegt. Er bleibt in

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/541
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/541>, abgerufen am 27.07.2024.