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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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und Gallien (die Bretagne und die baskischen Provinzen ausgenommen) verschwand
die keltische Sprache so vollständig vor der lateinischen, daß sogar die später
dort einwandernden Gothen, Alemannen und Franken die lateinische Sprache an¬
nahmen. In Deutschland blieb trotz der römischen Okkupation das Germanische
unangetastet. Für die ganze abendländische Christenheit aber wurde das La¬
teinische die Schriftsprache, weil Rom sich vom politischen Mittelpunkte der
Welt zum kirchlichen aufschwang. Es verfloß fast ein Jahrtausend, bis sich eine
italienische, französische, spanische, englische und deutsche Litteratur bildete. Auch
dann aber blieb das Lateinische die Sprache, in welcher die Welt sich ver¬
ständigte; noch heute schreibt der Papst lateinisch.

Nachdem in Deutschland die erste große Blüteperiode der Dichtkunst uuter
den Hohenstaufen vorübergegangen war, begann bei uns in Betreff der Sprache
ein entschiedener Rückschritt. Da kam Luther und schuf uns unsre deutsche Prosa.
Allerdings zerstörte der dreißigjährige Krieg wieder vieles; auch mit der deutschen
Sprache sah es trostlos aus; selbst der größte Mann des vorigen Jahrhunderts,
Friedrich der Große, stand ihr teilnahmlos, ja fast feindselig gegenüber. Dann
aber erhoben sie Lessing. Goethe und Schiller rasch zu der Höhe, welche sie jetzt
den Sprachen der gebildetsten andrer Nationen gleichstellt. Jedenfalls ist aber die
deutsche Sprache und Litteratur um zweihundert Jahre später zur Entwicklung
gelangt als die italienische, die spanische, die französische und die englische. Und
das war wieder der Grund, weshalb das Lateinische in Deutschland weit länger
üblich, ja notwendig blieb als anderswo, namentlich als Sprache der Behörden
und der Wissenschaft. Es hat bis tief in unser Jahrhundert hinein geragt; ich
selbst habe anfangs der vierziger Jahre noch mein erstes Staatsexamen in la¬
teinischer Sprache ablegen müssen. Das ist Gottlob nun vorüber!

Wozu dann aber jetzt noch Lateinisch lernen? Nun, lautet die Antwort,
zum Lesen und Verstehen der lateinischen Schriftsteller. Ist das richtig? Ist
die Kenntnis der lateinischen Litteratur wirklich so wichtig? Und ist zum Ein¬
dringen in diese Litteratur die Kenntnis der lateinischen Sprache so unerläßlich,
daß man die Jugend zwingen muß, sich neun Jahre hindurch angestrengt mit
ihr zu beschäftigen? Ich meinesteils trage kein Bedenken, beide Fragen ent¬
schieden mit Nein zu beantworten.

Das eine zuvörderst wird mir niemand abstreiten: jede geistige Errungen¬
schaft der Römer und derer, welche nach ihnen in lateinischer Sprache geschrieben
haben, ist längst von uns verarbeitet, in unsre Bildung übergegangen und in
deutschen Büchern vollständig und in leicht faßlicher Form vorhanden. Die
Kenntnis des römischen Wesens und der römischen Geschichte schöpft keiner von
uns aus den lateinischen Schriftstellern, sondern aus dem deutschen Schul¬
unterrichte und aus dem Lesen deutscher Bücher. Aber die lateinische Poesie?
Nun, so viel steht wohl fest: es giebt keine Sprache, welche in gleichem Maße
geeignet wäre, sich nach Form und Inhalt fremden Sprachen so anzuschmiegen,


und Gallien (die Bretagne und die baskischen Provinzen ausgenommen) verschwand
die keltische Sprache so vollständig vor der lateinischen, daß sogar die später
dort einwandernden Gothen, Alemannen und Franken die lateinische Sprache an¬
nahmen. In Deutschland blieb trotz der römischen Okkupation das Germanische
unangetastet. Für die ganze abendländische Christenheit aber wurde das La¬
teinische die Schriftsprache, weil Rom sich vom politischen Mittelpunkte der
Welt zum kirchlichen aufschwang. Es verfloß fast ein Jahrtausend, bis sich eine
italienische, französische, spanische, englische und deutsche Litteratur bildete. Auch
dann aber blieb das Lateinische die Sprache, in welcher die Welt sich ver¬
ständigte; noch heute schreibt der Papst lateinisch.

Nachdem in Deutschland die erste große Blüteperiode der Dichtkunst uuter
den Hohenstaufen vorübergegangen war, begann bei uns in Betreff der Sprache
ein entschiedener Rückschritt. Da kam Luther und schuf uns unsre deutsche Prosa.
Allerdings zerstörte der dreißigjährige Krieg wieder vieles; auch mit der deutschen
Sprache sah es trostlos aus; selbst der größte Mann des vorigen Jahrhunderts,
Friedrich der Große, stand ihr teilnahmlos, ja fast feindselig gegenüber. Dann
aber erhoben sie Lessing. Goethe und Schiller rasch zu der Höhe, welche sie jetzt
den Sprachen der gebildetsten andrer Nationen gleichstellt. Jedenfalls ist aber die
deutsche Sprache und Litteratur um zweihundert Jahre später zur Entwicklung
gelangt als die italienische, die spanische, die französische und die englische. Und
das war wieder der Grund, weshalb das Lateinische in Deutschland weit länger
üblich, ja notwendig blieb als anderswo, namentlich als Sprache der Behörden
und der Wissenschaft. Es hat bis tief in unser Jahrhundert hinein geragt; ich
selbst habe anfangs der vierziger Jahre noch mein erstes Staatsexamen in la¬
teinischer Sprache ablegen müssen. Das ist Gottlob nun vorüber!

Wozu dann aber jetzt noch Lateinisch lernen? Nun, lautet die Antwort,
zum Lesen und Verstehen der lateinischen Schriftsteller. Ist das richtig? Ist
die Kenntnis der lateinischen Litteratur wirklich so wichtig? Und ist zum Ein¬
dringen in diese Litteratur die Kenntnis der lateinischen Sprache so unerläßlich,
daß man die Jugend zwingen muß, sich neun Jahre hindurch angestrengt mit
ihr zu beschäftigen? Ich meinesteils trage kein Bedenken, beide Fragen ent¬
schieden mit Nein zu beantworten.

Das eine zuvörderst wird mir niemand abstreiten: jede geistige Errungen¬
schaft der Römer und derer, welche nach ihnen in lateinischer Sprache geschrieben
haben, ist längst von uns verarbeitet, in unsre Bildung übergegangen und in
deutschen Büchern vollständig und in leicht faßlicher Form vorhanden. Die
Kenntnis des römischen Wesens und der römischen Geschichte schöpft keiner von
uns aus den lateinischen Schriftstellern, sondern aus dem deutschen Schul¬
unterrichte und aus dem Lesen deutscher Bücher. Aber die lateinische Poesie?
Nun, so viel steht wohl fest: es giebt keine Sprache, welche in gleichem Maße
geeignet wäre, sich nach Form und Inhalt fremden Sprachen so anzuschmiegen,


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[0523] und Gallien (die Bretagne und die baskischen Provinzen ausgenommen) verschwand die keltische Sprache so vollständig vor der lateinischen, daß sogar die später dort einwandernden Gothen, Alemannen und Franken die lateinische Sprache an¬ nahmen. In Deutschland blieb trotz der römischen Okkupation das Germanische unangetastet. Für die ganze abendländische Christenheit aber wurde das La¬ teinische die Schriftsprache, weil Rom sich vom politischen Mittelpunkte der Welt zum kirchlichen aufschwang. Es verfloß fast ein Jahrtausend, bis sich eine italienische, französische, spanische, englische und deutsche Litteratur bildete. Auch dann aber blieb das Lateinische die Sprache, in welcher die Welt sich ver¬ ständigte; noch heute schreibt der Papst lateinisch. Nachdem in Deutschland die erste große Blüteperiode der Dichtkunst uuter den Hohenstaufen vorübergegangen war, begann bei uns in Betreff der Sprache ein entschiedener Rückschritt. Da kam Luther und schuf uns unsre deutsche Prosa. Allerdings zerstörte der dreißigjährige Krieg wieder vieles; auch mit der deutschen Sprache sah es trostlos aus; selbst der größte Mann des vorigen Jahrhunderts, Friedrich der Große, stand ihr teilnahmlos, ja fast feindselig gegenüber. Dann aber erhoben sie Lessing. Goethe und Schiller rasch zu der Höhe, welche sie jetzt den Sprachen der gebildetsten andrer Nationen gleichstellt. Jedenfalls ist aber die deutsche Sprache und Litteratur um zweihundert Jahre später zur Entwicklung gelangt als die italienische, die spanische, die französische und die englische. Und das war wieder der Grund, weshalb das Lateinische in Deutschland weit länger üblich, ja notwendig blieb als anderswo, namentlich als Sprache der Behörden und der Wissenschaft. Es hat bis tief in unser Jahrhundert hinein geragt; ich selbst habe anfangs der vierziger Jahre noch mein erstes Staatsexamen in la¬ teinischer Sprache ablegen müssen. Das ist Gottlob nun vorüber! Wozu dann aber jetzt noch Lateinisch lernen? Nun, lautet die Antwort, zum Lesen und Verstehen der lateinischen Schriftsteller. Ist das richtig? Ist die Kenntnis der lateinischen Litteratur wirklich so wichtig? Und ist zum Ein¬ dringen in diese Litteratur die Kenntnis der lateinischen Sprache so unerläßlich, daß man die Jugend zwingen muß, sich neun Jahre hindurch angestrengt mit ihr zu beschäftigen? Ich meinesteils trage kein Bedenken, beide Fragen ent¬ schieden mit Nein zu beantworten. Das eine zuvörderst wird mir niemand abstreiten: jede geistige Errungen¬ schaft der Römer und derer, welche nach ihnen in lateinischer Sprache geschrieben haben, ist längst von uns verarbeitet, in unsre Bildung übergegangen und in deutschen Büchern vollständig und in leicht faßlicher Form vorhanden. Die Kenntnis des römischen Wesens und der römischen Geschichte schöpft keiner von uns aus den lateinischen Schriftstellern, sondern aus dem deutschen Schul¬ unterrichte und aus dem Lesen deutscher Bücher. Aber die lateinische Poesie? Nun, so viel steht wohl fest: es giebt keine Sprache, welche in gleichem Maße geeignet wäre, sich nach Form und Inhalt fremden Sprachen so anzuschmiegen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/523>, abgerufen am 01.09.2024.