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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien,

und Bereinigungen erwogen. Der Vortrag, den Professor Preyer am 19. Sep¬
tember v. I. zu Wiesbaden auf der Versammlung der deutschen Ärzte und
Naturforscher hielt, hat in vielen Kreisen gezündet. Eine Petition des allgemeinen
Ausschusses für deutsche Schulreform an deu preußischen Kultusminister hat
Tausende von Unterschriften aus allen Teilen Deutschlands gefunden. Un¬
zweifelhaft werden die Regierungen es nicht unterlassen, in dieser so wichtigen
Angelegenheit das deutsche Volk um seine Meinung zu befragen, sei es in den
Sälen der Abgeordneten, sei es auf andre Weise. Darum ist es dringend er¬
forderlich, daß das Volk, d. h. wir, die Gebildeten und Besitzenden, jetzt den
Standpunkt dumpfer Unzufriedenheit auf diesem Gebiete verlassen, daß wir uns
klar machen: Was ist denn an unsrer Schule verwerflich? was muß als Besseres
an die Stelle treten?

Es ist deutlich zu erkennen, daß in dieser Angelegenheit zwei völlig ent¬
gegengesetzte Strömungen mit einander kämpfen. Die eine will die alte, wesentlich
philologische Richtung unsrer Schulen beibehalten, höchstens der neuen Zeit
einige Zugeständnisse machen; die andre will gründlich mit dieser aufräumen
und an die Stelle der bisherigen "klassischen" Bildung die naturwissenschaftliche
setzen. Beide werden in Wort und Schrift eifrig und mit Überzeugung ver¬
fochten. Aus einer möglichst ruhigen und sachlichen Erörterung der Frage wird
und muß sich schließlich das ergeben, was für unsre Zeit mit dem Worte
Wahrheit zu bezeichnen ist. Das Nachfolgende will ein Beitrag dazu sein.

Wie soll unsre Jugend erzogen werden, um den Anforderungen zu genügen,
die das neunzehnte Jahrhundert an uns stellt und die in erhöhtem Maße das
zwanzigste an sie stellen wird? und was sollen die Schulen dazu thun? So
lautet unsre Frage.

Kaum werfe ich die Frage auf, so höre ich schon den Chorus der Schul¬
männer mir einstimmig und dräuend zurufen: Zurück! du kommst vor einen
falschen Areopag! Über die Angelegenheiten der Schule zu urteilen, ist nicht
das Volk berufen, das sind allein wir Männer vom Fach!

Grundfalsch, ihr Herren. Es handelt sich gar nicht darum, was die
Schule wünscht, sondern was das Leben als Mitgabe von der Schule fordert,
damit man in den Stand gesetzt werde, den Kampf ums Dasein zu kämpfen
und den Platz auszufüllen, auf den man gestellt ist. Hierüber ein richtiges
Urteil zu fällen, ist nicht der Schulmann fähig, der meist in sein Museum ge¬
bannt ist und die Welt kaum einen Feiertag sieht, der nie erfährt, welche Frucht
die Saat trägt, die er ausgestreut hat; nein, das sind wir, wir gereiften Männer,
die das Leben nach allen Richtungen hin kennen gelernt, die wir selbst erfahren
haben, was wir brauchten und -- was uns fehlte. Darum muß der Schule
das Ziel, welches sie erreichen soll, von uns vorgezeichnet werden; über den
Weg, auf dem dieses Ziel zu erreichen ist, werden wir stets vor allem den
Rat und die Ansicht der Männer vom Fach zu hören haben.


Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien,

und Bereinigungen erwogen. Der Vortrag, den Professor Preyer am 19. Sep¬
tember v. I. zu Wiesbaden auf der Versammlung der deutschen Ärzte und
Naturforscher hielt, hat in vielen Kreisen gezündet. Eine Petition des allgemeinen
Ausschusses für deutsche Schulreform an deu preußischen Kultusminister hat
Tausende von Unterschriften aus allen Teilen Deutschlands gefunden. Un¬
zweifelhaft werden die Regierungen es nicht unterlassen, in dieser so wichtigen
Angelegenheit das deutsche Volk um seine Meinung zu befragen, sei es in den
Sälen der Abgeordneten, sei es auf andre Weise. Darum ist es dringend er¬
forderlich, daß das Volk, d. h. wir, die Gebildeten und Besitzenden, jetzt den
Standpunkt dumpfer Unzufriedenheit auf diesem Gebiete verlassen, daß wir uns
klar machen: Was ist denn an unsrer Schule verwerflich? was muß als Besseres
an die Stelle treten?

Es ist deutlich zu erkennen, daß in dieser Angelegenheit zwei völlig ent¬
gegengesetzte Strömungen mit einander kämpfen. Die eine will die alte, wesentlich
philologische Richtung unsrer Schulen beibehalten, höchstens der neuen Zeit
einige Zugeständnisse machen; die andre will gründlich mit dieser aufräumen
und an die Stelle der bisherigen „klassischen" Bildung die naturwissenschaftliche
setzen. Beide werden in Wort und Schrift eifrig und mit Überzeugung ver¬
fochten. Aus einer möglichst ruhigen und sachlichen Erörterung der Frage wird
und muß sich schließlich das ergeben, was für unsre Zeit mit dem Worte
Wahrheit zu bezeichnen ist. Das Nachfolgende will ein Beitrag dazu sein.

Wie soll unsre Jugend erzogen werden, um den Anforderungen zu genügen,
die das neunzehnte Jahrhundert an uns stellt und die in erhöhtem Maße das
zwanzigste an sie stellen wird? und was sollen die Schulen dazu thun? So
lautet unsre Frage.

Kaum werfe ich die Frage auf, so höre ich schon den Chorus der Schul¬
männer mir einstimmig und dräuend zurufen: Zurück! du kommst vor einen
falschen Areopag! Über die Angelegenheiten der Schule zu urteilen, ist nicht
das Volk berufen, das sind allein wir Männer vom Fach!

Grundfalsch, ihr Herren. Es handelt sich gar nicht darum, was die
Schule wünscht, sondern was das Leben als Mitgabe von der Schule fordert,
damit man in den Stand gesetzt werde, den Kampf ums Dasein zu kämpfen
und den Platz auszufüllen, auf den man gestellt ist. Hierüber ein richtiges
Urteil zu fällen, ist nicht der Schulmann fähig, der meist in sein Museum ge¬
bannt ist und die Welt kaum einen Feiertag sieht, der nie erfährt, welche Frucht
die Saat trägt, die er ausgestreut hat; nein, das sind wir, wir gereiften Männer,
die das Leben nach allen Richtungen hin kennen gelernt, die wir selbst erfahren
haben, was wir brauchten und — was uns fehlte. Darum muß der Schule
das Ziel, welches sie erreichen soll, von uns vorgezeichnet werden; über den
Weg, auf dem dieses Ziel zu erreichen ist, werden wir stets vor allem den
Rat und die Ansicht der Männer vom Fach zu hören haben.


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[0520] Das Studium der alten Sprachen auf den Gymnasien, und Bereinigungen erwogen. Der Vortrag, den Professor Preyer am 19. Sep¬ tember v. I. zu Wiesbaden auf der Versammlung der deutschen Ärzte und Naturforscher hielt, hat in vielen Kreisen gezündet. Eine Petition des allgemeinen Ausschusses für deutsche Schulreform an deu preußischen Kultusminister hat Tausende von Unterschriften aus allen Teilen Deutschlands gefunden. Un¬ zweifelhaft werden die Regierungen es nicht unterlassen, in dieser so wichtigen Angelegenheit das deutsche Volk um seine Meinung zu befragen, sei es in den Sälen der Abgeordneten, sei es auf andre Weise. Darum ist es dringend er¬ forderlich, daß das Volk, d. h. wir, die Gebildeten und Besitzenden, jetzt den Standpunkt dumpfer Unzufriedenheit auf diesem Gebiete verlassen, daß wir uns klar machen: Was ist denn an unsrer Schule verwerflich? was muß als Besseres an die Stelle treten? Es ist deutlich zu erkennen, daß in dieser Angelegenheit zwei völlig ent¬ gegengesetzte Strömungen mit einander kämpfen. Die eine will die alte, wesentlich philologische Richtung unsrer Schulen beibehalten, höchstens der neuen Zeit einige Zugeständnisse machen; die andre will gründlich mit dieser aufräumen und an die Stelle der bisherigen „klassischen" Bildung die naturwissenschaftliche setzen. Beide werden in Wort und Schrift eifrig und mit Überzeugung ver¬ fochten. Aus einer möglichst ruhigen und sachlichen Erörterung der Frage wird und muß sich schließlich das ergeben, was für unsre Zeit mit dem Worte Wahrheit zu bezeichnen ist. Das Nachfolgende will ein Beitrag dazu sein. Wie soll unsre Jugend erzogen werden, um den Anforderungen zu genügen, die das neunzehnte Jahrhundert an uns stellt und die in erhöhtem Maße das zwanzigste an sie stellen wird? und was sollen die Schulen dazu thun? So lautet unsre Frage. Kaum werfe ich die Frage auf, so höre ich schon den Chorus der Schul¬ männer mir einstimmig und dräuend zurufen: Zurück! du kommst vor einen falschen Areopag! Über die Angelegenheiten der Schule zu urteilen, ist nicht das Volk berufen, das sind allein wir Männer vom Fach! Grundfalsch, ihr Herren. Es handelt sich gar nicht darum, was die Schule wünscht, sondern was das Leben als Mitgabe von der Schule fordert, damit man in den Stand gesetzt werde, den Kampf ums Dasein zu kämpfen und den Platz auszufüllen, auf den man gestellt ist. Hierüber ein richtiges Urteil zu fällen, ist nicht der Schulmann fähig, der meist in sein Museum ge¬ bannt ist und die Welt kaum einen Feiertag sieht, der nie erfährt, welche Frucht die Saat trägt, die er ausgestreut hat; nein, das sind wir, wir gereiften Männer, die das Leben nach allen Richtungen hin kennen gelernt, die wir selbst erfahren haben, was wir brauchten und — was uns fehlte. Darum muß der Schule das Ziel, welches sie erreichen soll, von uns vorgezeichnet werden; über den Weg, auf dem dieses Ziel zu erreichen ist, werden wir stets vor allem den Rat und die Ansicht der Männer vom Fach zu hören haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/520>, abgerufen am 01.09.2024.