Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ricks Lyhne.

Und warum sollte man nicht selber solch ein Mädchen sein? Sie sind
so -- sie sind so -- und sie wissen es nicht; weiß ich denn etwa, wie ich
bin? und die Dichter sagten doch ausdrücklich, das heiße leben! darin bestehe
das Lebe" nicht, daß man nähe, Stricke, die Wirtschaft besorge und langweilige
Besuche mache. Bei Licht betrachtet waren die Selbstgespräche Bartholinens
nichts andres als der etwas krankhafte Drang, sich selber zu fühlen, das Sehnen,
sich selber zu finden, das so häufig bei einem mehr als durchschnittlich begabten
jungen Mädchen erwacht; das Schlimme dabei war nur, daß sich in ihrem
ganzen Umgangskreise auch nicht eine einzige überlegene Natur fand, an der
ihre Begabung sich hätte messen können; da war ja nicht einmal eine verwandte
Natur, und so kam Bartholine dazu, sich als etwas Merkwürdiges, einzig Da¬
stehendes zu betrachten, als eine Art tropischen Gewächses, das, unter rauhem
Himmel entsprossen, seine Blätter mir kümmerlich entfalten könne, während
es in einer wärmern Luft, unter einer glutcnvvllern Sonne schlanke Stengel
mit wunderbarem Blütenschmuck würde treiben können. Das meinte sie, sei ihr
eigentliches Wesen, dasjenige, wozu die richtige Umgebung sie machen würde, und
sie träumte tausend Träume von jenen sonnigen Gefilden und verzehrte sich vor
Sehnsucht nach ihrem eignen reichen Ich, und darüber vergaß sie, was man so
leicht vergißt, daß selbst die schönsten Träume, selbst die heißeste Sehnsucht den
Wuchs des Menschengeistes auch nicht um einen Zoll zu erhöhen vermögen.

Da geschah es denn eines Tages, daß ein Freier für sie erschien.

Es war der junge Lyhne von Lönborggacird, der letzte männliche Sproß
eines Geschlechts, das drei Generationen hindurch zu den begabtesten der
Provinz gezählt hatte. Als Bürgermeister, Amtsverwalter oder königliche
Kommissarien, oft mit dem Justizratstitel begnadigt, dienten sie in reiferen
Jahren ihrem König und Vaterland in pflichtgetrcuer Wirksamkeit. In der
Jugend hatten sie auf vernünftig geregelten und gewissenhaft ausgeführten
Studienreisen in Frankreich und Deutschland ihren empfänglichen Geist mit den
Kenntnissen, Schönheitsgenüssen und Lebenseindrücken bereichert, welche die
fremden Länder in so reichem Maße darboten, und wenn sie dann heimkehrten,
wurden jene im Auslande verlebten Jahre nicht beiseite gelegt, zu den alten
Erinnerungen, gleich dem Andenken an ein Fest, dessen letzte Kerze und letzter Ton
erloschen und verklungen war, nein, das Leben in der Heimat wurde auf diesen
Wanderjahren aufgebaut; was sie an Interessen geweckt und gezeitigt hatten,
durfte unter keinen Umständen verloren gehen, sondern wurde mit allen Mitteln
genährt uut weiter entwickelt; auserlesene Kupferstiche, kostbare Bronzen, deutsche
Dichterwerke, französische Rechtsverhandlungen und französische Philosophie waren
alltägliche Dinge und alltägliche Unterhaltungsstoffe im Hause der Lhhnes.

Was ihre Art und Weise betraf, so bewegten sie sich mit einer altvciterischcn
Leichtigkeit und einer stilvollen Liebenswürdigkeit, die zu der plumpen Majestät
put unbehilflichen Förmlichkeit ihrer Standesgenossen oft einen eigentümlichen


Ricks Lyhne.

Und warum sollte man nicht selber solch ein Mädchen sein? Sie sind
so — sie sind so — und sie wissen es nicht; weiß ich denn etwa, wie ich
bin? und die Dichter sagten doch ausdrücklich, das heiße leben! darin bestehe
das Lebe» nicht, daß man nähe, Stricke, die Wirtschaft besorge und langweilige
Besuche mache. Bei Licht betrachtet waren die Selbstgespräche Bartholinens
nichts andres als der etwas krankhafte Drang, sich selber zu fühlen, das Sehnen,
sich selber zu finden, das so häufig bei einem mehr als durchschnittlich begabten
jungen Mädchen erwacht; das Schlimme dabei war nur, daß sich in ihrem
ganzen Umgangskreise auch nicht eine einzige überlegene Natur fand, an der
ihre Begabung sich hätte messen können; da war ja nicht einmal eine verwandte
Natur, und so kam Bartholine dazu, sich als etwas Merkwürdiges, einzig Da¬
stehendes zu betrachten, als eine Art tropischen Gewächses, das, unter rauhem
Himmel entsprossen, seine Blätter mir kümmerlich entfalten könne, während
es in einer wärmern Luft, unter einer glutcnvvllern Sonne schlanke Stengel
mit wunderbarem Blütenschmuck würde treiben können. Das meinte sie, sei ihr
eigentliches Wesen, dasjenige, wozu die richtige Umgebung sie machen würde, und
sie träumte tausend Träume von jenen sonnigen Gefilden und verzehrte sich vor
Sehnsucht nach ihrem eignen reichen Ich, und darüber vergaß sie, was man so
leicht vergißt, daß selbst die schönsten Träume, selbst die heißeste Sehnsucht den
Wuchs des Menschengeistes auch nicht um einen Zoll zu erhöhen vermögen.

Da geschah es denn eines Tages, daß ein Freier für sie erschien.

Es war der junge Lyhne von Lönborggacird, der letzte männliche Sproß
eines Geschlechts, das drei Generationen hindurch zu den begabtesten der
Provinz gezählt hatte. Als Bürgermeister, Amtsverwalter oder königliche
Kommissarien, oft mit dem Justizratstitel begnadigt, dienten sie in reiferen
Jahren ihrem König und Vaterland in pflichtgetrcuer Wirksamkeit. In der
Jugend hatten sie auf vernünftig geregelten und gewissenhaft ausgeführten
Studienreisen in Frankreich und Deutschland ihren empfänglichen Geist mit den
Kenntnissen, Schönheitsgenüssen und Lebenseindrücken bereichert, welche die
fremden Länder in so reichem Maße darboten, und wenn sie dann heimkehrten,
wurden jene im Auslande verlebten Jahre nicht beiseite gelegt, zu den alten
Erinnerungen, gleich dem Andenken an ein Fest, dessen letzte Kerze und letzter Ton
erloschen und verklungen war, nein, das Leben in der Heimat wurde auf diesen
Wanderjahren aufgebaut; was sie an Interessen geweckt und gezeitigt hatten,
durfte unter keinen Umständen verloren gehen, sondern wurde mit allen Mitteln
genährt uut weiter entwickelt; auserlesene Kupferstiche, kostbare Bronzen, deutsche
Dichterwerke, französische Rechtsverhandlungen und französische Philosophie waren
alltägliche Dinge und alltägliche Unterhaltungsstoffe im Hause der Lhhnes.

Was ihre Art und Weise betraf, so bewegten sie sich mit einer altvciterischcn
Leichtigkeit und einer stilvollen Liebenswürdigkeit, die zu der plumpen Majestät
put unbehilflichen Förmlichkeit ihrer Standesgenossen oft einen eigentümlichen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0052" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202829"/>
            <fw type="header" place="top"> Ricks Lyhne.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_133"> Und warum sollte man nicht selber solch ein Mädchen sein? Sie sind<lb/>
so &#x2014; sie sind so &#x2014; und sie wissen es nicht; weiß ich denn etwa, wie ich<lb/>
bin? und die Dichter sagten doch ausdrücklich, das heiße leben! darin bestehe<lb/>
das Lebe» nicht, daß man nähe, Stricke, die Wirtschaft besorge und langweilige<lb/>
Besuche mache. Bei Licht betrachtet waren die Selbstgespräche Bartholinens<lb/>
nichts andres als der etwas krankhafte Drang, sich selber zu fühlen, das Sehnen,<lb/>
sich selber zu finden, das so häufig bei einem mehr als durchschnittlich begabten<lb/>
jungen Mädchen erwacht; das Schlimme dabei war nur, daß sich in ihrem<lb/>
ganzen Umgangskreise auch nicht eine einzige überlegene Natur fand, an der<lb/>
ihre Begabung sich hätte messen können; da war ja nicht einmal eine verwandte<lb/>
Natur, und so kam Bartholine dazu, sich als etwas Merkwürdiges, einzig Da¬<lb/>
stehendes zu betrachten, als eine Art tropischen Gewächses, das, unter rauhem<lb/>
Himmel entsprossen, seine Blätter mir kümmerlich entfalten könne, während<lb/>
es in einer wärmern Luft, unter einer glutcnvvllern Sonne schlanke Stengel<lb/>
mit wunderbarem Blütenschmuck würde treiben können. Das meinte sie, sei ihr<lb/>
eigentliches Wesen, dasjenige, wozu die richtige Umgebung sie machen würde, und<lb/>
sie träumte tausend Träume von jenen sonnigen Gefilden und verzehrte sich vor<lb/>
Sehnsucht nach ihrem eignen reichen Ich, und darüber vergaß sie, was man so<lb/>
leicht vergißt, daß selbst die schönsten Träume, selbst die heißeste Sehnsucht den<lb/>
Wuchs des Menschengeistes auch nicht um einen Zoll zu erhöhen vermögen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_134"> Da geschah es denn eines Tages, daß ein Freier für sie erschien.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_135"> Es war der junge Lyhne von Lönborggacird, der letzte männliche Sproß<lb/>
eines Geschlechts, das drei Generationen hindurch zu den begabtesten der<lb/>
Provinz gezählt hatte. Als Bürgermeister, Amtsverwalter oder königliche<lb/>
Kommissarien, oft mit dem Justizratstitel begnadigt, dienten sie in reiferen<lb/>
Jahren ihrem König und Vaterland in pflichtgetrcuer Wirksamkeit. In der<lb/>
Jugend hatten sie auf vernünftig geregelten und gewissenhaft ausgeführten<lb/>
Studienreisen in Frankreich und Deutschland ihren empfänglichen Geist mit den<lb/>
Kenntnissen, Schönheitsgenüssen und Lebenseindrücken bereichert, welche die<lb/>
fremden Länder in so reichem Maße darboten, und wenn sie dann heimkehrten,<lb/>
wurden jene im Auslande verlebten Jahre nicht beiseite gelegt, zu den alten<lb/>
Erinnerungen, gleich dem Andenken an ein Fest, dessen letzte Kerze und letzter Ton<lb/>
erloschen und verklungen war, nein, das Leben in der Heimat wurde auf diesen<lb/>
Wanderjahren aufgebaut; was sie an Interessen geweckt und gezeitigt hatten,<lb/>
durfte unter keinen Umständen verloren gehen, sondern wurde mit allen Mitteln<lb/>
genährt uut weiter entwickelt; auserlesene Kupferstiche, kostbare Bronzen, deutsche<lb/>
Dichterwerke, französische Rechtsverhandlungen und französische Philosophie waren<lb/>
alltägliche Dinge und alltägliche Unterhaltungsstoffe im Hause der Lhhnes.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_136" next="#ID_137"> Was ihre Art und Weise betraf, so bewegten sie sich mit einer altvciterischcn<lb/>
Leichtigkeit und einer stilvollen Liebenswürdigkeit, die zu der plumpen Majestät<lb/>
put unbehilflichen Förmlichkeit ihrer Standesgenossen oft einen eigentümlichen</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0052] Ricks Lyhne. Und warum sollte man nicht selber solch ein Mädchen sein? Sie sind so — sie sind so — und sie wissen es nicht; weiß ich denn etwa, wie ich bin? und die Dichter sagten doch ausdrücklich, das heiße leben! darin bestehe das Lebe» nicht, daß man nähe, Stricke, die Wirtschaft besorge und langweilige Besuche mache. Bei Licht betrachtet waren die Selbstgespräche Bartholinens nichts andres als der etwas krankhafte Drang, sich selber zu fühlen, das Sehnen, sich selber zu finden, das so häufig bei einem mehr als durchschnittlich begabten jungen Mädchen erwacht; das Schlimme dabei war nur, daß sich in ihrem ganzen Umgangskreise auch nicht eine einzige überlegene Natur fand, an der ihre Begabung sich hätte messen können; da war ja nicht einmal eine verwandte Natur, und so kam Bartholine dazu, sich als etwas Merkwürdiges, einzig Da¬ stehendes zu betrachten, als eine Art tropischen Gewächses, das, unter rauhem Himmel entsprossen, seine Blätter mir kümmerlich entfalten könne, während es in einer wärmern Luft, unter einer glutcnvvllern Sonne schlanke Stengel mit wunderbarem Blütenschmuck würde treiben können. Das meinte sie, sei ihr eigentliches Wesen, dasjenige, wozu die richtige Umgebung sie machen würde, und sie träumte tausend Träume von jenen sonnigen Gefilden und verzehrte sich vor Sehnsucht nach ihrem eignen reichen Ich, und darüber vergaß sie, was man so leicht vergißt, daß selbst die schönsten Träume, selbst die heißeste Sehnsucht den Wuchs des Menschengeistes auch nicht um einen Zoll zu erhöhen vermögen. Da geschah es denn eines Tages, daß ein Freier für sie erschien. Es war der junge Lyhne von Lönborggacird, der letzte männliche Sproß eines Geschlechts, das drei Generationen hindurch zu den begabtesten der Provinz gezählt hatte. Als Bürgermeister, Amtsverwalter oder königliche Kommissarien, oft mit dem Justizratstitel begnadigt, dienten sie in reiferen Jahren ihrem König und Vaterland in pflichtgetrcuer Wirksamkeit. In der Jugend hatten sie auf vernünftig geregelten und gewissenhaft ausgeführten Studienreisen in Frankreich und Deutschland ihren empfänglichen Geist mit den Kenntnissen, Schönheitsgenüssen und Lebenseindrücken bereichert, welche die fremden Länder in so reichem Maße darboten, und wenn sie dann heimkehrten, wurden jene im Auslande verlebten Jahre nicht beiseite gelegt, zu den alten Erinnerungen, gleich dem Andenken an ein Fest, dessen letzte Kerze und letzter Ton erloschen und verklungen war, nein, das Leben in der Heimat wurde auf diesen Wanderjahren aufgebaut; was sie an Interessen geweckt und gezeitigt hatten, durfte unter keinen Umständen verloren gehen, sondern wurde mit allen Mitteln genährt uut weiter entwickelt; auserlesene Kupferstiche, kostbare Bronzen, deutsche Dichterwerke, französische Rechtsverhandlungen und französische Philosophie waren alltägliche Dinge und alltägliche Unterhaltungsstoffe im Hause der Lhhnes. Was ihre Art und Weise betraf, so bewegten sie sich mit einer altvciterischcn Leichtigkeit und einer stilvollen Liebenswürdigkeit, die zu der plumpen Majestät put unbehilflichen Förmlichkeit ihrer Standesgenossen oft einen eigentümlichen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/52
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/52>, abgerufen am 28.07.2024.