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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

Ich erzähle von ihr, wie sie in einem Alter von siebzehn Jahren war;
wenige Jahre später, nachdem sie sich verheiratet hatte, gewann ihre Stimme
an Fülle, die Farbe ihrer Wangen war frischer, das Auge aber matter ge¬
worden, doch erschien es fast noch größer und dunkler als vormals.

Mit siebzehn Jahren war sie sehr verschieden von ihren Geschwistern, auch
bestand kein innigeres Verhältnis zwischen ihr und ihren Eltern. Die Vliders
waren nämlich ein praktisches Geschlecht, die das Leben hinnahmen, so wie es
min einmal war; sie verrichteten ihre Arbeiten, schliefen ihren Schlaf, und nie
fiel es ihnen ein, mehr oder andre Zerstreuungen zu beanspruchen als das
Erntefest und drei bis vier Festlichkeiten in der Weihnachtszeit. Eigentlich
religiös waren sie nicht, aber sie hätten ebenso leicht auf den Gedanken kommen
können, ihre Steuern nicht zu bezahlen, als Gott vorzuenthalten, was Gottes
war, darum beteten sie ihr Abendgebet, besuchten an den Festtagen die Kirche,
sangen am heiligen Abend ihre Weihnachtslieder und gingen zweimal im Jahre
zum Tisch des Herrn. Sie waren nicht sonderlich wißbegierig, und was ihren
Schönheitssinn betraf, so waren sie keineswegs unempfänglich für kleine empfind¬
same Gesänge, und wenn der Sommer kam, wenn das Gras auf den Wiesen
dicht und üppig wurde und die Saat auf den breiten Ackern Ähren ansetzte,
dann sagten sie wohl zu einander, daß es eine schöne Zeit sei, über Land zu
gehen. Aber besonders poetisch angelegte Naturen waren sie nicht; die Schön¬
heit berauschte sie nicht, sie kannten ebenso wenig ein unbestimmtes Sehnen als
wache Träume.

Mit Bartholine jedoch war es etwas andres; sie hatte kein Interesse für
das, was sich in den Ställen und auf den Feldern zutrug, kein Interesse für
Meierei und Wirtschaft -- auch nicht das allergeringste. Sie liebte Verse.

In Versen lebte sie, in ihnen träumte sie, an Verse glaubte sie wie an
nichts weiter auf der ganzen Welt.

Die Eltern und Geschwister, die Nachbarn und Bekannten sagten selten
ein Wort, das sie tiefer berührte, denn deren Gedanken schwangen sich fast nie von
der Erde auf oder von den Geschäften, die sie gerade unter den Händen hatten,
ebensowenig wie ihre Blicke jemals von den Verhältnissen und Ereignissen, die
vor ihren Augen lagen, fortschweiften. Dagegen die Verse! Die waren für
sie voll neuer Gedanken und tiefsinniger Lehren über das Leben da draußen
in der Welt, wo die Sorge schwarz ist und die Freude rot; sie strahlten von
Bildern, sie perlten und schäumten in Rhythmen und Reimen; alle handelten
sie von jungen Mädchen, und die jungen Mädchen waren so edel und schon,
sie wußten selber nicht wie sehr; ihre Herzen und ihre Liebe waren mehr als
aller Reichtum der Welt, und die Männer trugen sie auf den Händen, hoben
sie hoch empor, empor zu dem Sonnenglanze des Glücks, ehrten sie und beteten
sie an, waren glücklich, ihre Gedanken und Pläne, ihre Siege, ihren Ruhm mit
ihnen teilen zu können.


Ricks Lyhne.

Ich erzähle von ihr, wie sie in einem Alter von siebzehn Jahren war;
wenige Jahre später, nachdem sie sich verheiratet hatte, gewann ihre Stimme
an Fülle, die Farbe ihrer Wangen war frischer, das Auge aber matter ge¬
worden, doch erschien es fast noch größer und dunkler als vormals.

Mit siebzehn Jahren war sie sehr verschieden von ihren Geschwistern, auch
bestand kein innigeres Verhältnis zwischen ihr und ihren Eltern. Die Vliders
waren nämlich ein praktisches Geschlecht, die das Leben hinnahmen, so wie es
min einmal war; sie verrichteten ihre Arbeiten, schliefen ihren Schlaf, und nie
fiel es ihnen ein, mehr oder andre Zerstreuungen zu beanspruchen als das
Erntefest und drei bis vier Festlichkeiten in der Weihnachtszeit. Eigentlich
religiös waren sie nicht, aber sie hätten ebenso leicht auf den Gedanken kommen
können, ihre Steuern nicht zu bezahlen, als Gott vorzuenthalten, was Gottes
war, darum beteten sie ihr Abendgebet, besuchten an den Festtagen die Kirche,
sangen am heiligen Abend ihre Weihnachtslieder und gingen zweimal im Jahre
zum Tisch des Herrn. Sie waren nicht sonderlich wißbegierig, und was ihren
Schönheitssinn betraf, so waren sie keineswegs unempfänglich für kleine empfind¬
same Gesänge, und wenn der Sommer kam, wenn das Gras auf den Wiesen
dicht und üppig wurde und die Saat auf den breiten Ackern Ähren ansetzte,
dann sagten sie wohl zu einander, daß es eine schöne Zeit sei, über Land zu
gehen. Aber besonders poetisch angelegte Naturen waren sie nicht; die Schön¬
heit berauschte sie nicht, sie kannten ebenso wenig ein unbestimmtes Sehnen als
wache Träume.

Mit Bartholine jedoch war es etwas andres; sie hatte kein Interesse für
das, was sich in den Ställen und auf den Feldern zutrug, kein Interesse für
Meierei und Wirtschaft — auch nicht das allergeringste. Sie liebte Verse.

In Versen lebte sie, in ihnen träumte sie, an Verse glaubte sie wie an
nichts weiter auf der ganzen Welt.

Die Eltern und Geschwister, die Nachbarn und Bekannten sagten selten
ein Wort, das sie tiefer berührte, denn deren Gedanken schwangen sich fast nie von
der Erde auf oder von den Geschäften, die sie gerade unter den Händen hatten,
ebensowenig wie ihre Blicke jemals von den Verhältnissen und Ereignissen, die
vor ihren Augen lagen, fortschweiften. Dagegen die Verse! Die waren für
sie voll neuer Gedanken und tiefsinniger Lehren über das Leben da draußen
in der Welt, wo die Sorge schwarz ist und die Freude rot; sie strahlten von
Bildern, sie perlten und schäumten in Rhythmen und Reimen; alle handelten
sie von jungen Mädchen, und die jungen Mädchen waren so edel und schon,
sie wußten selber nicht wie sehr; ihre Herzen und ihre Liebe waren mehr als
aller Reichtum der Welt, und die Männer trugen sie auf den Händen, hoben
sie hoch empor, empor zu dem Sonnenglanze des Glücks, ehrten sie und beteten
sie an, waren glücklich, ihre Gedanken und Pläne, ihre Siege, ihren Ruhm mit
ihnen teilen zu können.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/51>, abgerufen am 28.07.2024.