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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

besaß; jetzt aber sing er mit der Leidenschaft eines Forschers an, sein eignes
Ich aus Kindheitserinnerungen und Kindheitseindrücken, aus den wirklich ge-
lebten Augenblicken seines Lebens herauszusammeln, und mit frohem Staunen
sah er, wie das alles zu einander Paßte, Stück für Stück, und er fügte alles
zusammen zu einer ungleich sympathischeren Persönlichkeit, als die war, der er
im Traume nachgelaufen, ungleich wahrer, kräftiger, willensstärker. Dies war
nicht mehr der tote Klotz eines Ideals; das wirkliche Leben mit seinen wunder¬
lichen, unergründlichen Thätigkeiten spielte in tausendfarbigem Wechsel mit hinein.
Du lieber Himmel, er hatte ja Kräfte, die er brauchen konnte, so wie sie waren,
er war ja Aladdin; es gab ja nichts, wonach er die Hände ausgestreckt hatte,
ohne daß es aus den Wolken herab ihm in den Turban gefallen war.

Und jetzt kam eine glückliche Zeit für Ricks. Die glückliche Zeit, in der
die mächtige Schwungkraft der Entwicklung uns jubelnd hinwegführt über die
toten Punkte in unsrer Natur, wo alles in uus wächst und vollkommner wird,
sodaß wir im Übermaß unsrer Kraft die Schultern, wenn es sein muß, selbst
gegen Berge stemmen und mutig den Bau des babylonischen Turmes beginnen,
der bis an den Himmel reichen soll, der freilich nur das armselige Bruchstück
eines Kolosses wird, an dem man den ganzen Rest des Lebens mit zaghaften
Türmchen und sonderbaren Erkern weiterbaut.

Alles war wie verändert; Natur, Fähigkeiten und Arbeit griffen in
einander wie ein Triebrad in das andre, da war keine Rede von einem Inne¬
halten, von einer Freude über das Gelungene, denn das Fertige wurde sofort
verworfen, er war ja unter der Arbeit gewachsen, es wurde nur die Stufe, auf
der er emporklomm zu dem stets zurückweichenden Ziel, Stufe auf Stufe zurück¬
gelegte Wege, die schon wieder vergessen waren, während noch sein Fußtritt
auf ihnen wiederhallte.

Aber während er so von neuen Kräften und neuen Gedanken einer größern
Reife, einem weitern Gesichtskreise entgegengetragen wurde, fühlte er sich auch
allmählich immer einsamer, denn seine Bekannten und Parteigenossen blieben
einer nach dem andern zurück und verloren sich in demselben Maße, wie er
ihnen sein Interesse nicht mehr bewahren konnte. Wurde es ihm doch von
Tag zu Tag schwerer, irgend welchen Unterschied zu finden zwischen diesen
Oppositionsmännern und der Mehrheit, gegen welche sie opponirten. Es ver¬
schwamm für ihn alles zu einer großen feindlichen Masse, die nur Langeweile
bedeutete. Was schrieben sie denn auch, wenn sie mit ihren Liedern zum An¬
griff aufforderten? Nichts als pessimistische Gedichte, deren Inhalt war, daß
Hunde treuer seien als Menschen, und Zuchthäusler oft ehrlicher als diejenigen,
die frei einher gingen; wohlredende Phrasen über den Vorzug des grünen
Waldes und der braunen Haide vor den staubigen Städten; Erzählungen von
der Tugendhaftigkeit des Bauernstandes und den Lastern der Reichen, von dem
Blute der Natur und der Bleichsucht der Bildung; Schauspiele, die von dem


Ricks Lyhne.

besaß; jetzt aber sing er mit der Leidenschaft eines Forschers an, sein eignes
Ich aus Kindheitserinnerungen und Kindheitseindrücken, aus den wirklich ge-
lebten Augenblicken seines Lebens herauszusammeln, und mit frohem Staunen
sah er, wie das alles zu einander Paßte, Stück für Stück, und er fügte alles
zusammen zu einer ungleich sympathischeren Persönlichkeit, als die war, der er
im Traume nachgelaufen, ungleich wahrer, kräftiger, willensstärker. Dies war
nicht mehr der tote Klotz eines Ideals; das wirkliche Leben mit seinen wunder¬
lichen, unergründlichen Thätigkeiten spielte in tausendfarbigem Wechsel mit hinein.
Du lieber Himmel, er hatte ja Kräfte, die er brauchen konnte, so wie sie waren,
er war ja Aladdin; es gab ja nichts, wonach er die Hände ausgestreckt hatte,
ohne daß es aus den Wolken herab ihm in den Turban gefallen war.

Und jetzt kam eine glückliche Zeit für Ricks. Die glückliche Zeit, in der
die mächtige Schwungkraft der Entwicklung uns jubelnd hinwegführt über die
toten Punkte in unsrer Natur, wo alles in uus wächst und vollkommner wird,
sodaß wir im Übermaß unsrer Kraft die Schultern, wenn es sein muß, selbst
gegen Berge stemmen und mutig den Bau des babylonischen Turmes beginnen,
der bis an den Himmel reichen soll, der freilich nur das armselige Bruchstück
eines Kolosses wird, an dem man den ganzen Rest des Lebens mit zaghaften
Türmchen und sonderbaren Erkern weiterbaut.

Alles war wie verändert; Natur, Fähigkeiten und Arbeit griffen in
einander wie ein Triebrad in das andre, da war keine Rede von einem Inne¬
halten, von einer Freude über das Gelungene, denn das Fertige wurde sofort
verworfen, er war ja unter der Arbeit gewachsen, es wurde nur die Stufe, auf
der er emporklomm zu dem stets zurückweichenden Ziel, Stufe auf Stufe zurück¬
gelegte Wege, die schon wieder vergessen waren, während noch sein Fußtritt
auf ihnen wiederhallte.

Aber während er so von neuen Kräften und neuen Gedanken einer größern
Reife, einem weitern Gesichtskreise entgegengetragen wurde, fühlte er sich auch
allmählich immer einsamer, denn seine Bekannten und Parteigenossen blieben
einer nach dem andern zurück und verloren sich in demselben Maße, wie er
ihnen sein Interesse nicht mehr bewahren konnte. Wurde es ihm doch von
Tag zu Tag schwerer, irgend welchen Unterschied zu finden zwischen diesen
Oppositionsmännern und der Mehrheit, gegen welche sie opponirten. Es ver¬
schwamm für ihn alles zu einer großen feindlichen Masse, die nur Langeweile
bedeutete. Was schrieben sie denn auch, wenn sie mit ihren Liedern zum An¬
griff aufforderten? Nichts als pessimistische Gedichte, deren Inhalt war, daß
Hunde treuer seien als Menschen, und Zuchthäusler oft ehrlicher als diejenigen,
die frei einher gingen; wohlredende Phrasen über den Vorzug des grünen
Waldes und der braunen Haide vor den staubigen Städten; Erzählungen von
der Tugendhaftigkeit des Bauernstandes und den Lastern der Reichen, von dem
Blute der Natur und der Bleichsucht der Bildung; Schauspiele, die von dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/500>, abgerufen am 01.09.2024.