Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.Wiener Litteratur. gruber, der zu herb für die Wiener ist. Die neue Schicht der Geldaristokratie Moritz Necker. Wiener Litteratur. gruber, der zu herb für die Wiener ist. Die neue Schicht der Geldaristokratie Moritz Necker. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0496" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203273"/> <fw type="header" place="top"> Wiener Litteratur.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1541" prev="#ID_1540"> gruber, der zu herb für die Wiener ist. Die neue Schicht der Geldaristokratie<lb/> hat die Entwicklung Chicwaccis weder im Guten noch im Übeln berührt, er ist<lb/> ein volkstümlicher Mensch bis in seine reifen Mannesjahre geblieben, die ihn<lb/> endlich zum Schriftsteller machten. Er hat sich die schönste Tugend des Dich¬<lb/> ters bewahrt: Pietät gegen alles Hergebrachte, gegen Sitte und Gesinnung,<lb/> gegen Natur und Menschen. Und Pietät allein ist ja schon Poesie. In seinem<lb/> Büchlein Wiener vom Grund. Bilder aus dem Kleinleben der Großstadt<lb/> (Wien und Teschen, Karl Prochaska, 1888) spricht sich dieser liebenswürdige<lb/> Geist gemütlich im besten Sinne aus. Er bringt hier Skizzen „aus der Kinder¬<lb/> zeit," welche die Wiener Jugend in ihren Spielen und in ihren Leiden<lb/> porträttrcu vor Augen führen. In dieser Riesenstadt hat jeder „Grund," das<lb/> heißt jeder Stadtteil, jede Vorstadt ihr altererbtes Lokalkolorit, fast so scharf<lb/> ausgeprägt wie ein Alpenthal mit seinen von dem Strome der Welt ausge¬<lb/> schlossenen Bewohnern. Das Studium dieser Lokalfarbcn hat sich Chiavacci<lb/> angelegen sein lassen. Er schildert die gering begüterten Volksklassen, wie sie<lb/> ihr Tagewerk üben, wie sie früh aufstehen, wie sie sich in ihren schönern Hälften<lb/> für den Fasching vorbereiten, wie sie die Steuer des Sperrsechserl humorvoll<lb/> beklagen, wie sie sich bei dem gestrengen Hausherrn am Zinstage benehmen u. s. w.<lb/> Chiavacei hat einen ungewöhnlich starken Sinn fürs Typische, seine Bilder sind<lb/> nichts weniger als musivisch angeordnete Beobachtungen, sondern voller über¬<lb/> zeugender, lebendiger Wahrheit. Jeder Wiener gesteht zu, die Originale irgendwo<lb/> schon getroffen zu haben. Man könnte ihn den Wiener Chodowiecki nennen,<lb/> denn auf dem engen Raume eines Lokalfenilletons bringt er in säuberlicher<lb/> Zeichnung, in zierlich sorgfältiger Ausführung Porträts von sprechender Lebens¬<lb/> treue. Ihn hat der Realismus nicht verhindert, sowohl satirisch wie poetisch<lb/> zu wirken, ohne sich und andre zu verbittern. Wer die Geschichte von den<lb/> Schicksalen eines Kätzchens, das böse Buben ertränken wollten und das halb<lb/> lahm und einäugig der Liebling einer armen Greisin wurde, der schließlich die<lb/> böse Welt dennoch das Tier raubte, und die nur „aus Religion" sich nicht dem<lb/> gequälten Tiere nach ins Wasser wirft, so zu erzählen weiß wie Chiavacci in<lb/> der Erzählung „Ihr Haust," der hat das Herz am rechten Flecke, der ist ein<lb/> echter Dichter, mögen ihn die kleine Form und der heimatliche Dialekt, den er<lb/> übrigens mit Meisterschaft beherrscht, immerhin nur auf das Publikum Wiens<lb/> beschränken. Wenn er nur nicht, wie es Talenten seiner Art zu gehen Pflegt,<lb/> zu viel schreibt, anstatt seine Kraft zu größern Leistungen zu sammeln, zu denen<lb/> er ohne Zweifel das Zeug hat. Denn einer Phantasie, die allwöchentlich mehrere<lb/> solcher Skizzen und noch eine politische Sonntagspredigt der Frau Svpherl zu<lb/> schaffen vermag, kann es auch an Erfindungsgabe für den großen Wiener<lb/> Roman, der immer noch nicht geschrieben ist, nicht fehlen.</p><lb/> <note type="byline"> Moritz Necker.</note><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0496]
Wiener Litteratur.
gruber, der zu herb für die Wiener ist. Die neue Schicht der Geldaristokratie
hat die Entwicklung Chicwaccis weder im Guten noch im Übeln berührt, er ist
ein volkstümlicher Mensch bis in seine reifen Mannesjahre geblieben, die ihn
endlich zum Schriftsteller machten. Er hat sich die schönste Tugend des Dich¬
ters bewahrt: Pietät gegen alles Hergebrachte, gegen Sitte und Gesinnung,
gegen Natur und Menschen. Und Pietät allein ist ja schon Poesie. In seinem
Büchlein Wiener vom Grund. Bilder aus dem Kleinleben der Großstadt
(Wien und Teschen, Karl Prochaska, 1888) spricht sich dieser liebenswürdige
Geist gemütlich im besten Sinne aus. Er bringt hier Skizzen „aus der Kinder¬
zeit," welche die Wiener Jugend in ihren Spielen und in ihren Leiden
porträttrcu vor Augen führen. In dieser Riesenstadt hat jeder „Grund," das
heißt jeder Stadtteil, jede Vorstadt ihr altererbtes Lokalkolorit, fast so scharf
ausgeprägt wie ein Alpenthal mit seinen von dem Strome der Welt ausge¬
schlossenen Bewohnern. Das Studium dieser Lokalfarbcn hat sich Chiavacci
angelegen sein lassen. Er schildert die gering begüterten Volksklassen, wie sie
ihr Tagewerk üben, wie sie früh aufstehen, wie sie sich in ihren schönern Hälften
für den Fasching vorbereiten, wie sie die Steuer des Sperrsechserl humorvoll
beklagen, wie sie sich bei dem gestrengen Hausherrn am Zinstage benehmen u. s. w.
Chiavacei hat einen ungewöhnlich starken Sinn fürs Typische, seine Bilder sind
nichts weniger als musivisch angeordnete Beobachtungen, sondern voller über¬
zeugender, lebendiger Wahrheit. Jeder Wiener gesteht zu, die Originale irgendwo
schon getroffen zu haben. Man könnte ihn den Wiener Chodowiecki nennen,
denn auf dem engen Raume eines Lokalfenilletons bringt er in säuberlicher
Zeichnung, in zierlich sorgfältiger Ausführung Porträts von sprechender Lebens¬
treue. Ihn hat der Realismus nicht verhindert, sowohl satirisch wie poetisch
zu wirken, ohne sich und andre zu verbittern. Wer die Geschichte von den
Schicksalen eines Kätzchens, das böse Buben ertränken wollten und das halb
lahm und einäugig der Liebling einer armen Greisin wurde, der schließlich die
böse Welt dennoch das Tier raubte, und die nur „aus Religion" sich nicht dem
gequälten Tiere nach ins Wasser wirft, so zu erzählen weiß wie Chiavacci in
der Erzählung „Ihr Haust," der hat das Herz am rechten Flecke, der ist ein
echter Dichter, mögen ihn die kleine Form und der heimatliche Dialekt, den er
übrigens mit Meisterschaft beherrscht, immerhin nur auf das Publikum Wiens
beschränken. Wenn er nur nicht, wie es Talenten seiner Art zu gehen Pflegt,
zu viel schreibt, anstatt seine Kraft zu größern Leistungen zu sammeln, zu denen
er ohne Zweifel das Zeug hat. Denn einer Phantasie, die allwöchentlich mehrere
solcher Skizzen und noch eine politische Sonntagspredigt der Frau Svpherl zu
schaffen vermag, kann es auch an Erfindungsgabe für den großen Wiener
Roman, der immer noch nicht geschrieben ist, nicht fehlen.
Moritz Necker.
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