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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Wiener Litteratur.

dirre, sein erbärmliches Alter u. s. f., das ist eine Reihe von nicht gerade or¬
ganisch zusammengefaßten Bildern, denen man aber nachsagen muß, daß sie
meistenteils nach dem Leben mit peinlicher Treue geschaffen sind. Wer Wien
kennt, wird die Modelle überall erkennen. Hat sich Hamerling mit seiner
farbenberauschten Phantasie lieber bei dem Glänze dieser Gesellschaft aufge¬
halten, so hat Schwarzkopf die Ergänzung geliefert, indem er in die Niede¬
rungen herabstieg. Dort die Schilderung August Zangs, hier die Charakteristik
eines andern Wiener Tageblattes. So wenig indes der Homunculus persönlich,
individuell lebendig werden wollte, so wenig vermag es, trotz der peinlichen
Psychologischen Analyse, der Streber Schwarzkopfs. Er ist doch auch nur das
idealistisch abstrakte Zentrum für die Wandelbilder. Es fehlt die einheitliche
Handlung beiden Werken zu ihrem Nachteile. Und auch Schwarzkopf mangelt
die Begabung, mit einigen wenigen Strichen einen Charakter lebenswahr hin¬
zustellen, er häuft Bemerkung auf Bemerkung; Mosaik, aber keine Plastik. Er
stellt überhaupt nicht Handlungen dar, sondern kritisirt die Gestalten; sie be¬
wegen sich daher auch nicht frei, reden nicht die eigne Sprache, der Erzähler
bemüht sich auch gar nicht, seine Souffleurarbeit zu verbergen. Am meisten
hinter Hamerling steht Schwarzkopf mit seiner unschönen Prosa zurück; es ist,
als ob er nie die erste Skizze überarbeitete; sie wimmelt von Unbeholfenheiten,
überlangen Sätzen, unnötigen Partizipialbildungen u. dergl. in. Doch genug
davon. Wir wollen nicht in den Ton des schwarzseherischen Autors selbst ver¬
fallen und lieber seinen männlichen Mut, seine Energie bei aller Schwäche noch
einmal betonen, in der Hoffnung, daß es ihm gelingen werde, ohne seinen
Grundüberzeugungen zu entsagen, zur Welt wie zur Menschheit doch endlich
in ein erfreulicheres Verhältnis zu kommen.

Man kann sich keinen größern Gegensatz zu diesem nihilistischen Satiriker
der Unsitten der Wiener Gesellschaft denken, als Vincenz Chiavacei, einen
echten Volksschriftsteller, der sich in den weitesten Kreisen der Wiener Bevölkerung
infolge seiner poetischen Entdeckung der "Frau Sopherl vom Naschmarkt" der
größten Beliebtheit erfreut. Wie Salon und "gute Stube," wie Parvenü und
ehrwürdige Tradition, wie die neueste Pariser Mode vom altbürgerlich be¬
quemen Hausrock, wie das von technischen Neubildungen gespickte Deutsch des
sogenannten Weltmannes von dem urwüchsigen, bilderreichen, mit ererbten
Formeln sich begnügenden Dialekt: so unterscheiden sich diese beiden Schrift¬
steller. Die strenge Moral mildert sich bei Chiavacei zum teilnehmenden Humor,
Herzensgüte verrät sich in jedem seiner Bildchen, und er fürchtet sich auch nicht
in falscher Scham vor der Sentimentalität, und zwar deswegen nicht, weil er
künstlerisch ihrer Herr werden kann. Wie jeder echte Dichter verliert sich
Chiavacei gern in Träumereien aus den Knabenjahren, und da sehen wir, wie
sehr es ihm zu gute kommt, aus den untern Volksschichten herausgewachsen zu
sein, deren Gemüt er kennt, wie kein zweiter in Wien, bester sogar als Unzen-


Wiener Litteratur.

dirre, sein erbärmliches Alter u. s. f., das ist eine Reihe von nicht gerade or¬
ganisch zusammengefaßten Bildern, denen man aber nachsagen muß, daß sie
meistenteils nach dem Leben mit peinlicher Treue geschaffen sind. Wer Wien
kennt, wird die Modelle überall erkennen. Hat sich Hamerling mit seiner
farbenberauschten Phantasie lieber bei dem Glänze dieser Gesellschaft aufge¬
halten, so hat Schwarzkopf die Ergänzung geliefert, indem er in die Niede¬
rungen herabstieg. Dort die Schilderung August Zangs, hier die Charakteristik
eines andern Wiener Tageblattes. So wenig indes der Homunculus persönlich,
individuell lebendig werden wollte, so wenig vermag es, trotz der peinlichen
Psychologischen Analyse, der Streber Schwarzkopfs. Er ist doch auch nur das
idealistisch abstrakte Zentrum für die Wandelbilder. Es fehlt die einheitliche
Handlung beiden Werken zu ihrem Nachteile. Und auch Schwarzkopf mangelt
die Begabung, mit einigen wenigen Strichen einen Charakter lebenswahr hin¬
zustellen, er häuft Bemerkung auf Bemerkung; Mosaik, aber keine Plastik. Er
stellt überhaupt nicht Handlungen dar, sondern kritisirt die Gestalten; sie be¬
wegen sich daher auch nicht frei, reden nicht die eigne Sprache, der Erzähler
bemüht sich auch gar nicht, seine Souffleurarbeit zu verbergen. Am meisten
hinter Hamerling steht Schwarzkopf mit seiner unschönen Prosa zurück; es ist,
als ob er nie die erste Skizze überarbeitete; sie wimmelt von Unbeholfenheiten,
überlangen Sätzen, unnötigen Partizipialbildungen u. dergl. in. Doch genug
davon. Wir wollen nicht in den Ton des schwarzseherischen Autors selbst ver¬
fallen und lieber seinen männlichen Mut, seine Energie bei aller Schwäche noch
einmal betonen, in der Hoffnung, daß es ihm gelingen werde, ohne seinen
Grundüberzeugungen zu entsagen, zur Welt wie zur Menschheit doch endlich
in ein erfreulicheres Verhältnis zu kommen.

Man kann sich keinen größern Gegensatz zu diesem nihilistischen Satiriker
der Unsitten der Wiener Gesellschaft denken, als Vincenz Chiavacei, einen
echten Volksschriftsteller, der sich in den weitesten Kreisen der Wiener Bevölkerung
infolge seiner poetischen Entdeckung der „Frau Sopherl vom Naschmarkt" der
größten Beliebtheit erfreut. Wie Salon und „gute Stube," wie Parvenü und
ehrwürdige Tradition, wie die neueste Pariser Mode vom altbürgerlich be¬
quemen Hausrock, wie das von technischen Neubildungen gespickte Deutsch des
sogenannten Weltmannes von dem urwüchsigen, bilderreichen, mit ererbten
Formeln sich begnügenden Dialekt: so unterscheiden sich diese beiden Schrift¬
steller. Die strenge Moral mildert sich bei Chiavacei zum teilnehmenden Humor,
Herzensgüte verrät sich in jedem seiner Bildchen, und er fürchtet sich auch nicht
in falscher Scham vor der Sentimentalität, und zwar deswegen nicht, weil er
künstlerisch ihrer Herr werden kann. Wie jeder echte Dichter verliert sich
Chiavacei gern in Träumereien aus den Knabenjahren, und da sehen wir, wie
sehr es ihm zu gute kommt, aus den untern Volksschichten herausgewachsen zu
sein, deren Gemüt er kennt, wie kein zweiter in Wien, bester sogar als Unzen-


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[0495] Wiener Litteratur. dirre, sein erbärmliches Alter u. s. f., das ist eine Reihe von nicht gerade or¬ ganisch zusammengefaßten Bildern, denen man aber nachsagen muß, daß sie meistenteils nach dem Leben mit peinlicher Treue geschaffen sind. Wer Wien kennt, wird die Modelle überall erkennen. Hat sich Hamerling mit seiner farbenberauschten Phantasie lieber bei dem Glänze dieser Gesellschaft aufge¬ halten, so hat Schwarzkopf die Ergänzung geliefert, indem er in die Niede¬ rungen herabstieg. Dort die Schilderung August Zangs, hier die Charakteristik eines andern Wiener Tageblattes. So wenig indes der Homunculus persönlich, individuell lebendig werden wollte, so wenig vermag es, trotz der peinlichen Psychologischen Analyse, der Streber Schwarzkopfs. Er ist doch auch nur das idealistisch abstrakte Zentrum für die Wandelbilder. Es fehlt die einheitliche Handlung beiden Werken zu ihrem Nachteile. Und auch Schwarzkopf mangelt die Begabung, mit einigen wenigen Strichen einen Charakter lebenswahr hin¬ zustellen, er häuft Bemerkung auf Bemerkung; Mosaik, aber keine Plastik. Er stellt überhaupt nicht Handlungen dar, sondern kritisirt die Gestalten; sie be¬ wegen sich daher auch nicht frei, reden nicht die eigne Sprache, der Erzähler bemüht sich auch gar nicht, seine Souffleurarbeit zu verbergen. Am meisten hinter Hamerling steht Schwarzkopf mit seiner unschönen Prosa zurück; es ist, als ob er nie die erste Skizze überarbeitete; sie wimmelt von Unbeholfenheiten, überlangen Sätzen, unnötigen Partizipialbildungen u. dergl. in. Doch genug davon. Wir wollen nicht in den Ton des schwarzseherischen Autors selbst ver¬ fallen und lieber seinen männlichen Mut, seine Energie bei aller Schwäche noch einmal betonen, in der Hoffnung, daß es ihm gelingen werde, ohne seinen Grundüberzeugungen zu entsagen, zur Welt wie zur Menschheit doch endlich in ein erfreulicheres Verhältnis zu kommen. Man kann sich keinen größern Gegensatz zu diesem nihilistischen Satiriker der Unsitten der Wiener Gesellschaft denken, als Vincenz Chiavacei, einen echten Volksschriftsteller, der sich in den weitesten Kreisen der Wiener Bevölkerung infolge seiner poetischen Entdeckung der „Frau Sopherl vom Naschmarkt" der größten Beliebtheit erfreut. Wie Salon und „gute Stube," wie Parvenü und ehrwürdige Tradition, wie die neueste Pariser Mode vom altbürgerlich be¬ quemen Hausrock, wie das von technischen Neubildungen gespickte Deutsch des sogenannten Weltmannes von dem urwüchsigen, bilderreichen, mit ererbten Formeln sich begnügenden Dialekt: so unterscheiden sich diese beiden Schrift¬ steller. Die strenge Moral mildert sich bei Chiavacei zum teilnehmenden Humor, Herzensgüte verrät sich in jedem seiner Bildchen, und er fürchtet sich auch nicht in falscher Scham vor der Sentimentalität, und zwar deswegen nicht, weil er künstlerisch ihrer Herr werden kann. Wie jeder echte Dichter verliert sich Chiavacei gern in Träumereien aus den Knabenjahren, und da sehen wir, wie sehr es ihm zu gute kommt, aus den untern Volksschichten herausgewachsen zu sein, deren Gemüt er kennt, wie kein zweiter in Wien, bester sogar als Unzen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/495>, abgerufen am 01.09.2024.