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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Amerikanisches Eisenbahnwesen,

und ohne besondre Bekanntmachung einfach eingestellt werden, sobald der fernere
Betrieb nicht mehr lohnend genug erscheint. So war es wohl auch in diesem
Falle, da die "Saison" schon auf die Neige ging. Die Rücksichten auf das
Reisepublikum bestimmen sich einfach nach dem Barometer der Einnahmen, ge¬
langen auf den Gefrierpunkt, sobald diese sich dem Nullpunkte nähern, und
der Reisende, welcher seine Reisepläne auf die Zuverlässigkeit amerikanischer
Fahrpläne baut, wird bald gewahr, daß er auf Sand gebaut hat. Um nun
nicht den Verlust eines ganzen Tages zu beklagen, stellte ich mir durch Aus¬
wahl verschiedner Lvkalzüge selbst eine notdürftige Verbindung zusammen und
erreichte so allerdings nach dreimaligem und in: ganzen achtstündigem Liegen¬
bleiben schließlich noch des Mittags mein Ziel sowie den Anschluß nach Sara-
togci. Welches Mißgeschick mich dabei betraf, hat der Leser schon vernommen.
Aus solchen Erfahrungen zieht man bald die Lehre, die Hauptlinien grund¬
sätzlich nicht zu verlassen; denn alle Mängel der amerikanischen Eisenbahnen zeigen
sich auf den Zweiglinien in verdoppelten, Maße, und man kann froh sein, wenn
man schließlich nichts andres als bloßen Zeit- und Geldverlust zu beklagen hat.

Die Unsicherheit der amerikanischen Eisenbahnen ist zur Genüge bekannt
und findet sogar ihre amtliche Bestätigung, denn an jedem Schalter hängt
sozusagen eine Warnungstafel für den Reisenden. Es ist dies ein Anschlag,
welcher in großer Schrift zur Versicherung gegen Unfälle einladet und die ein¬
zelnen Körperteile mit einer festen Taxe in Dollars belegt. Beim ersten Blick
auf eine solche Sezirtafel greift man unwillkürlich nach seinen Gliedmaßen,
um sich zu überzeugen, ob man auch noch alle beisammen hat, und nur
zögernd zieht man den Beutel, mit einem scheuen Seitenblick auf die unheim¬
liche Ankündigung, welche das Vertrauen des Reisenden zu erwecken nicht
sonderlich geeignet ist. Im allgemeinen ist diese Unsicherheit im Betriebe auf
die mangelhafte Anlegung und Bewachung der Bahnstränge zurückzuführen.
So giebt es nirgends Bahnwärter wie bei uns, sondern über die Sicherheit
des Zuges wacht einzig und allein das Auge des Lokomotivenführers und in
der Dunkelheit auch nicht einmal dieses, da die große Blendlaterne der Loko¬
motive den Bahnkörper doch nur auf wenige Meter beleuchtet. Zur Beseitigung
etwaiger Hindernisse ist jede Lokomotive vorn mit einem starken, eisernen Schutz¬
bock versehen, welcher etwa handhoch über den Geleisen hinstreift und fast einen
Meter lang spitzwinklig vorspringt. Von der Lokomotive aus wird auch die
Luftdruckbremse gehandhabt, welche in vorzüglicher Weise wirkt und den schnellsten
Zug in wenigen Sekunden zum Stehen bringt. Die gewöhnlichen Bremsen
dienen nur als Reserven für etwaige Notfalle. Außerdem hat jede Lokomotive
eine Glocke, welche beim Verlassen der Stationen und bei Fahrten auf be¬
lebten Strecken unaufhörlich als Warnungssignal geläutet wird, um die Fu߬
gänger, Fuhrwerke u. s. w. zur Freigebung der Geleise zu veranlassen; denn
diese werden nirgends wie bei uns abgesperrt, sodaß man selbst belebte Straßen


Amerikanisches Eisenbahnwesen,

und ohne besondre Bekanntmachung einfach eingestellt werden, sobald der fernere
Betrieb nicht mehr lohnend genug erscheint. So war es wohl auch in diesem
Falle, da die „Saison" schon auf die Neige ging. Die Rücksichten auf das
Reisepublikum bestimmen sich einfach nach dem Barometer der Einnahmen, ge¬
langen auf den Gefrierpunkt, sobald diese sich dem Nullpunkte nähern, und
der Reisende, welcher seine Reisepläne auf die Zuverlässigkeit amerikanischer
Fahrpläne baut, wird bald gewahr, daß er auf Sand gebaut hat. Um nun
nicht den Verlust eines ganzen Tages zu beklagen, stellte ich mir durch Aus¬
wahl verschiedner Lvkalzüge selbst eine notdürftige Verbindung zusammen und
erreichte so allerdings nach dreimaligem und in: ganzen achtstündigem Liegen¬
bleiben schließlich noch des Mittags mein Ziel sowie den Anschluß nach Sara-
togci. Welches Mißgeschick mich dabei betraf, hat der Leser schon vernommen.
Aus solchen Erfahrungen zieht man bald die Lehre, die Hauptlinien grund¬
sätzlich nicht zu verlassen; denn alle Mängel der amerikanischen Eisenbahnen zeigen
sich auf den Zweiglinien in verdoppelten, Maße, und man kann froh sein, wenn
man schließlich nichts andres als bloßen Zeit- und Geldverlust zu beklagen hat.

Die Unsicherheit der amerikanischen Eisenbahnen ist zur Genüge bekannt
und findet sogar ihre amtliche Bestätigung, denn an jedem Schalter hängt
sozusagen eine Warnungstafel für den Reisenden. Es ist dies ein Anschlag,
welcher in großer Schrift zur Versicherung gegen Unfälle einladet und die ein¬
zelnen Körperteile mit einer festen Taxe in Dollars belegt. Beim ersten Blick
auf eine solche Sezirtafel greift man unwillkürlich nach seinen Gliedmaßen,
um sich zu überzeugen, ob man auch noch alle beisammen hat, und nur
zögernd zieht man den Beutel, mit einem scheuen Seitenblick auf die unheim¬
liche Ankündigung, welche das Vertrauen des Reisenden zu erwecken nicht
sonderlich geeignet ist. Im allgemeinen ist diese Unsicherheit im Betriebe auf
die mangelhafte Anlegung und Bewachung der Bahnstränge zurückzuführen.
So giebt es nirgends Bahnwärter wie bei uns, sondern über die Sicherheit
des Zuges wacht einzig und allein das Auge des Lokomotivenführers und in
der Dunkelheit auch nicht einmal dieses, da die große Blendlaterne der Loko¬
motive den Bahnkörper doch nur auf wenige Meter beleuchtet. Zur Beseitigung
etwaiger Hindernisse ist jede Lokomotive vorn mit einem starken, eisernen Schutz¬
bock versehen, welcher etwa handhoch über den Geleisen hinstreift und fast einen
Meter lang spitzwinklig vorspringt. Von der Lokomotive aus wird auch die
Luftdruckbremse gehandhabt, welche in vorzüglicher Weise wirkt und den schnellsten
Zug in wenigen Sekunden zum Stehen bringt. Die gewöhnlichen Bremsen
dienen nur als Reserven für etwaige Notfalle. Außerdem hat jede Lokomotive
eine Glocke, welche beim Verlassen der Stationen und bei Fahrten auf be¬
lebten Strecken unaufhörlich als Warnungssignal geläutet wird, um die Fu߬
gänger, Fuhrwerke u. s. w. zur Freigebung der Geleise zu veranlassen; denn
diese werden nirgends wie bei uns abgesperrt, sodaß man selbst belebte Straßen


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[0472] Amerikanisches Eisenbahnwesen, und ohne besondre Bekanntmachung einfach eingestellt werden, sobald der fernere Betrieb nicht mehr lohnend genug erscheint. So war es wohl auch in diesem Falle, da die „Saison" schon auf die Neige ging. Die Rücksichten auf das Reisepublikum bestimmen sich einfach nach dem Barometer der Einnahmen, ge¬ langen auf den Gefrierpunkt, sobald diese sich dem Nullpunkte nähern, und der Reisende, welcher seine Reisepläne auf die Zuverlässigkeit amerikanischer Fahrpläne baut, wird bald gewahr, daß er auf Sand gebaut hat. Um nun nicht den Verlust eines ganzen Tages zu beklagen, stellte ich mir durch Aus¬ wahl verschiedner Lvkalzüge selbst eine notdürftige Verbindung zusammen und erreichte so allerdings nach dreimaligem und in: ganzen achtstündigem Liegen¬ bleiben schließlich noch des Mittags mein Ziel sowie den Anschluß nach Sara- togci. Welches Mißgeschick mich dabei betraf, hat der Leser schon vernommen. Aus solchen Erfahrungen zieht man bald die Lehre, die Hauptlinien grund¬ sätzlich nicht zu verlassen; denn alle Mängel der amerikanischen Eisenbahnen zeigen sich auf den Zweiglinien in verdoppelten, Maße, und man kann froh sein, wenn man schließlich nichts andres als bloßen Zeit- und Geldverlust zu beklagen hat. Die Unsicherheit der amerikanischen Eisenbahnen ist zur Genüge bekannt und findet sogar ihre amtliche Bestätigung, denn an jedem Schalter hängt sozusagen eine Warnungstafel für den Reisenden. Es ist dies ein Anschlag, welcher in großer Schrift zur Versicherung gegen Unfälle einladet und die ein¬ zelnen Körperteile mit einer festen Taxe in Dollars belegt. Beim ersten Blick auf eine solche Sezirtafel greift man unwillkürlich nach seinen Gliedmaßen, um sich zu überzeugen, ob man auch noch alle beisammen hat, und nur zögernd zieht man den Beutel, mit einem scheuen Seitenblick auf die unheim¬ liche Ankündigung, welche das Vertrauen des Reisenden zu erwecken nicht sonderlich geeignet ist. Im allgemeinen ist diese Unsicherheit im Betriebe auf die mangelhafte Anlegung und Bewachung der Bahnstränge zurückzuführen. So giebt es nirgends Bahnwärter wie bei uns, sondern über die Sicherheit des Zuges wacht einzig und allein das Auge des Lokomotivenführers und in der Dunkelheit auch nicht einmal dieses, da die große Blendlaterne der Loko¬ motive den Bahnkörper doch nur auf wenige Meter beleuchtet. Zur Beseitigung etwaiger Hindernisse ist jede Lokomotive vorn mit einem starken, eisernen Schutz¬ bock versehen, welcher etwa handhoch über den Geleisen hinstreift und fast einen Meter lang spitzwinklig vorspringt. Von der Lokomotive aus wird auch die Luftdruckbremse gehandhabt, welche in vorzüglicher Weise wirkt und den schnellsten Zug in wenigen Sekunden zum Stehen bringt. Die gewöhnlichen Bremsen dienen nur als Reserven für etwaige Notfalle. Außerdem hat jede Lokomotive eine Glocke, welche beim Verlassen der Stationen und bei Fahrten auf be¬ lebten Strecken unaufhörlich als Warnungssignal geläutet wird, um die Fu߬ gänger, Fuhrwerke u. s. w. zur Freigebung der Geleise zu veranlassen; denn diese werden nirgends wie bei uns abgesperrt, sodaß man selbst belebte Straßen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/472>, abgerufen am 28.07.2024.