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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum.

Sie glauben, ob und auf was Art für gedachten Juden etwas Günstiges zu
thun sein möchte. Haben Sie die Gefälligkeit, mich einer baldigen Antwort zu
beehren, mich der Frau Großmutter, der Frau Tante und allen werten An¬
gehörigen zu empfehlen, und sich überzeugt zu halten, daß ich mit der voll¬
kommensten Hochachtung sei Ew. ?c. ergebenster Diener I. W. v. Goethe." Der
gute Oheim meinte, die Sache habe keine Schwierigkeit, da noch kürzlich andern
Juden solche Sonn- und Festtagspüsse bewilligt worden waren, und so stand
er nicht ub, das Privatschreiben ohne weiteres dem Schöffenrat zu übergeben.
Aber er hatte sich stark verrechnet. Daß ein Frankfurter Bürger, der noch
unter den Advokaten aufgeführt wurde, in fremde Dienste getreten war, bei seinem
Besuche den Herzog dem regierenden Herrn nicht vorgestellt, sich jetzt gar hatte
adeln lassen, vielleicht auch andres, bestimmte die Mehrheit der Schöffen zu dem
Vorschlage, das Schreibe" nach genommener Abschrift dem Senator Textor wieder
zustellen zu lassen. Demgemäß ward denn auch vom Senate verfügt. Die
einfache Zurückstellung des Briefes war schon auffallend, noch merkwürdiger, daß
man den Brief einschließlich der Grüße an die Verwandten abschreiben ließ,
da doch eine einfache Angabe des Gesuchs in den Alten genügte. Der Senat
ahnte nicht, daß er dadurch gleichsam den Botendienst für den sonst wohl unbe¬
kannt gebliebenen Brief an die unzähligen Verehrer seines größten Landsmnnnes
übernahm; denn Kriegk hat ihn aus den Akten mitgeteilt.

Im Herbste hatte die Frau Rat die Freude, ihre beiden Enkelinnen in
Begleitung der Eltern bei sich zu sehen. Der älteste Sohn Starcks, das Paten-
kind des Stadtschultheißen, wurde nach seiner Rückkehr als or. M'is am 8. No¬
vember desselben Jahres unter die Advokaten aufgenommen. Auf das folgende
Jahr wählte man den Oheim zum jüngern Bürgermeister. Doch schon am
18. April wurde der Familie das Haupt entrissen; die würdige Frau Stadt-
schultheißin verschied. Ihr Bildnis zeigt eine auffallende Ähnlichkeit mit ihrem
Enkel, dem Dichter, große, bedeutende Augen, strengen Herrscherblick und eine
hohe, mächtige Stirn. Der zweite Sohn Starcks wurde in diesem Jahre vom
Herzog von Weimar zum Kommerzienrate ernannt; wir wissen nicht, auf welche
Veranlassung, vielleicht infolge eines für den Herzog betriebenen Geschäftes;
kaum dürfte eine persönliche Verwendung Goethes stattgefunden haben. Resident
des Herzogs war in Frankfurt der nassau-usingische Legationsrat Johann Karl
Philipp Riese. Die Geburt eines Sohnes Schlossers aus zweiter Ehe am
29. Januar 1784 (er erhielt deu beliebten Namen Ednard) ward von der Frau
Rat mit jubelnder Freude begrüßt. Am 14. März 1786 wurde dein Rats-
schöffcn noch eine Tochter geboren. Der Schwiegersohn der Frau Rat kam
endlich 1787 als Hofrat nach Karlsruhe. Starcks zweiter Sohn ward in dem¬
selben Jahre Weimarischer Hofrat. Oheim Textor rückte am 14. April 1783
auf die Schöffenbank. Das Geschäft der Frau Mekher war indessen immer
mehr zurückgegangen, diese in solche Geldnot geraten, daß sie von ihrer Schwester,


Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum.

Sie glauben, ob und auf was Art für gedachten Juden etwas Günstiges zu
thun sein möchte. Haben Sie die Gefälligkeit, mich einer baldigen Antwort zu
beehren, mich der Frau Großmutter, der Frau Tante und allen werten An¬
gehörigen zu empfehlen, und sich überzeugt zu halten, daß ich mit der voll¬
kommensten Hochachtung sei Ew. ?c. ergebenster Diener I. W. v. Goethe." Der
gute Oheim meinte, die Sache habe keine Schwierigkeit, da noch kürzlich andern
Juden solche Sonn- und Festtagspüsse bewilligt worden waren, und so stand
er nicht ub, das Privatschreiben ohne weiteres dem Schöffenrat zu übergeben.
Aber er hatte sich stark verrechnet. Daß ein Frankfurter Bürger, der noch
unter den Advokaten aufgeführt wurde, in fremde Dienste getreten war, bei seinem
Besuche den Herzog dem regierenden Herrn nicht vorgestellt, sich jetzt gar hatte
adeln lassen, vielleicht auch andres, bestimmte die Mehrheit der Schöffen zu dem
Vorschlage, das Schreibe» nach genommener Abschrift dem Senator Textor wieder
zustellen zu lassen. Demgemäß ward denn auch vom Senate verfügt. Die
einfache Zurückstellung des Briefes war schon auffallend, noch merkwürdiger, daß
man den Brief einschließlich der Grüße an die Verwandten abschreiben ließ,
da doch eine einfache Angabe des Gesuchs in den Alten genügte. Der Senat
ahnte nicht, daß er dadurch gleichsam den Botendienst für den sonst wohl unbe¬
kannt gebliebenen Brief an die unzähligen Verehrer seines größten Landsmnnnes
übernahm; denn Kriegk hat ihn aus den Akten mitgeteilt.

Im Herbste hatte die Frau Rat die Freude, ihre beiden Enkelinnen in
Begleitung der Eltern bei sich zu sehen. Der älteste Sohn Starcks, das Paten-
kind des Stadtschultheißen, wurde nach seiner Rückkehr als or. M'is am 8. No¬
vember desselben Jahres unter die Advokaten aufgenommen. Auf das folgende
Jahr wählte man den Oheim zum jüngern Bürgermeister. Doch schon am
18. April wurde der Familie das Haupt entrissen; die würdige Frau Stadt-
schultheißin verschied. Ihr Bildnis zeigt eine auffallende Ähnlichkeit mit ihrem
Enkel, dem Dichter, große, bedeutende Augen, strengen Herrscherblick und eine
hohe, mächtige Stirn. Der zweite Sohn Starcks wurde in diesem Jahre vom
Herzog von Weimar zum Kommerzienrate ernannt; wir wissen nicht, auf welche
Veranlassung, vielleicht infolge eines für den Herzog betriebenen Geschäftes;
kaum dürfte eine persönliche Verwendung Goethes stattgefunden haben. Resident
des Herzogs war in Frankfurt der nassau-usingische Legationsrat Johann Karl
Philipp Riese. Die Geburt eines Sohnes Schlossers aus zweiter Ehe am
29. Januar 1784 (er erhielt deu beliebten Namen Ednard) ward von der Frau
Rat mit jubelnder Freude begrüßt. Am 14. März 1786 wurde dein Rats-
schöffcn noch eine Tochter geboren. Der Schwiegersohn der Frau Rat kam
endlich 1787 als Hofrat nach Karlsruhe. Starcks zweiter Sohn ward in dem¬
selben Jahre Weimarischer Hofrat. Oheim Textor rückte am 14. April 1783
auf die Schöffenbank. Das Geschäft der Frau Mekher war indessen immer
mehr zurückgegangen, diese in solche Geldnot geraten, daß sie von ihrer Schwester,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/424>, abgerufen am 29.07.2024.