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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Tolstoi und Ihering.

ankommt -- im Große" wie im Kleinen. Mag der andre ein einzelner Mensch
sein oder eine Gesamtheit, ein Volk, ein Staat, eine Glaubensgenossenschaft,
mag es materielle Güter betreffen oder sich um eine Idee handeln, in allen
Fällen kann ich nur für meine Person verzichten, dieser Verzicht aber muß mir
freistehen, und es kann kein richtiges Prinzip sein, welches mir den Kampf für
meine Person unter allen Umständen zur Pflicht macht; ich kann aber niemals
für den andern verzichten. Zorn und Entsagung -- beide sind berechtigt, und
eins wie das andre kann unter Umständen zur Pflicht werden.

Es ist ein sehr schöner Satz, wenn Jhering sagt: "Der Kampf ums Recht
ist die Poesie des Charakters." Läßt sich aber nicht ebenso gut die Behauptung
aufstellen: In dem Verzicht aufs Recht liegt die Poesie des Charakters? Ist
der Bischof in den Mön-Mos weniger poetisch als Michael Kohlhaas? Und
wenn auch Iherings Satz nicht bestritten werden soll, welcher Charakter erscheint
uns poetischer, der um sein eignes Recht oder der um das Recht eines andern
kämpft? Man stelle mir hundert Roman- und Theaterhelden vor, die im
Kampfe für ihr Recht mit dem Kopfe durch die Wand rennen, sie wiegen mir
den einen Don Quixote nicht ans, der für lauter Phantasmen und Chimären
in den Kampf geht, man zeige mir hundert reisende Engländer, die im Kampfe
mit Gastwirte" und Lohnkutscheru auf ihrem Rechte bestehen, ich weise hin auf
Lassalle, der für die Grüfi" Hatzfeld in ihrem Scheidungsprozesse mit aller ihm
eignen Energie eintrat und diesem Kampfe (siehe Brandes, Ferdinand Lassalle)
zehn Jahre seines Lebens widmete, und bin überzeugt, daß die Poesie dieses
Charakters den Vergleich mit der Poesie der reisenden Engländer nicht zu
scheuen hätte. Am größten ist derjenige, den sein Zorn treibt, für das gekränkte
Recht eines andern aufzutreten, und er ist unerreichbar, wenn dieser andre die
ganze Menschheit ist. Aller Kulturfortschritt ist durch Kämpfe solcher Art erzielt
worden, und ein Prinzip kann nicht richtig sein, welches auch in solchen Fällen
vorschreibt, dem Übel nicht zu widerstreben. Symbolisch ist in dieser Beziehung
die Gestalt des Prometheus, welcher für die Menschen das Feuer vom Himmel
herunterholt und aus Liebe zu ihnen sich in den großen Kampf mit Zeus
einläßt. Und Tolstoi selbst? Widerstrebt er mit der sittlichen Kraft, die seine
Schriften erfüllt, etwa nicht dem Übel? Und "och mehr: Hat etwa Christus
dem Übel nicht widerstrebt? Hat er das Pharisäertum ruhig gewähren lassen?
Hat er für seine Idee nicht gekämpft? Hat er sich für sie nicht geopfert?

Da hätten wir also die gesuchte Grenzlinie: Die Entsagung für mich, den
Zorn -- für die andern.

Freilich: auf allgemeine Giltigkeit kann diese Grenzlinie keinen Anspruch
machen, wenn sie auch mit unzweideutiger Bestimmtheit gezogen ist; sie braucht
durchaus nicht von jedermann anerkannt zu werden. Derjenige, der auf dem
strengen Rechtsstandpnukte steht, wird immer die Frage wiederholen: Warum
soll ich denn überhaupt verzichte"? Und beweisen läßt es sich durchaus nicht,


Tolstoi und Ihering.

ankommt — im Große» wie im Kleinen. Mag der andre ein einzelner Mensch
sein oder eine Gesamtheit, ein Volk, ein Staat, eine Glaubensgenossenschaft,
mag es materielle Güter betreffen oder sich um eine Idee handeln, in allen
Fällen kann ich nur für meine Person verzichten, dieser Verzicht aber muß mir
freistehen, und es kann kein richtiges Prinzip sein, welches mir den Kampf für
meine Person unter allen Umständen zur Pflicht macht; ich kann aber niemals
für den andern verzichten. Zorn und Entsagung — beide sind berechtigt, und
eins wie das andre kann unter Umständen zur Pflicht werden.

Es ist ein sehr schöner Satz, wenn Jhering sagt: „Der Kampf ums Recht
ist die Poesie des Charakters." Läßt sich aber nicht ebenso gut die Behauptung
aufstellen: In dem Verzicht aufs Recht liegt die Poesie des Charakters? Ist
der Bischof in den Mön-Mos weniger poetisch als Michael Kohlhaas? Und
wenn auch Iherings Satz nicht bestritten werden soll, welcher Charakter erscheint
uns poetischer, der um sein eignes Recht oder der um das Recht eines andern
kämpft? Man stelle mir hundert Roman- und Theaterhelden vor, die im
Kampfe für ihr Recht mit dem Kopfe durch die Wand rennen, sie wiegen mir
den einen Don Quixote nicht ans, der für lauter Phantasmen und Chimären
in den Kampf geht, man zeige mir hundert reisende Engländer, die im Kampfe
mit Gastwirte» und Lohnkutscheru auf ihrem Rechte bestehen, ich weise hin auf
Lassalle, der für die Grüfi» Hatzfeld in ihrem Scheidungsprozesse mit aller ihm
eignen Energie eintrat und diesem Kampfe (siehe Brandes, Ferdinand Lassalle)
zehn Jahre seines Lebens widmete, und bin überzeugt, daß die Poesie dieses
Charakters den Vergleich mit der Poesie der reisenden Engländer nicht zu
scheuen hätte. Am größten ist derjenige, den sein Zorn treibt, für das gekränkte
Recht eines andern aufzutreten, und er ist unerreichbar, wenn dieser andre die
ganze Menschheit ist. Aller Kulturfortschritt ist durch Kämpfe solcher Art erzielt
worden, und ein Prinzip kann nicht richtig sein, welches auch in solchen Fällen
vorschreibt, dem Übel nicht zu widerstreben. Symbolisch ist in dieser Beziehung
die Gestalt des Prometheus, welcher für die Menschen das Feuer vom Himmel
herunterholt und aus Liebe zu ihnen sich in den großen Kampf mit Zeus
einläßt. Und Tolstoi selbst? Widerstrebt er mit der sittlichen Kraft, die seine
Schriften erfüllt, etwa nicht dem Übel? Und »och mehr: Hat etwa Christus
dem Übel nicht widerstrebt? Hat er das Pharisäertum ruhig gewähren lassen?
Hat er für seine Idee nicht gekämpft? Hat er sich für sie nicht geopfert?

Da hätten wir also die gesuchte Grenzlinie: Die Entsagung für mich, den
Zorn — für die andern.

Freilich: auf allgemeine Giltigkeit kann diese Grenzlinie keinen Anspruch
machen, wenn sie auch mit unzweideutiger Bestimmtheit gezogen ist; sie braucht
durchaus nicht von jedermann anerkannt zu werden. Derjenige, der auf dem
strengen Rechtsstandpnukte steht, wird immer die Frage wiederholen: Warum
soll ich denn überhaupt verzichte»? Und beweisen läßt es sich durchaus nicht,


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[0418] Tolstoi und Ihering. ankommt — im Große» wie im Kleinen. Mag der andre ein einzelner Mensch sein oder eine Gesamtheit, ein Volk, ein Staat, eine Glaubensgenossenschaft, mag es materielle Güter betreffen oder sich um eine Idee handeln, in allen Fällen kann ich nur für meine Person verzichten, dieser Verzicht aber muß mir freistehen, und es kann kein richtiges Prinzip sein, welches mir den Kampf für meine Person unter allen Umständen zur Pflicht macht; ich kann aber niemals für den andern verzichten. Zorn und Entsagung — beide sind berechtigt, und eins wie das andre kann unter Umständen zur Pflicht werden. Es ist ein sehr schöner Satz, wenn Jhering sagt: „Der Kampf ums Recht ist die Poesie des Charakters." Läßt sich aber nicht ebenso gut die Behauptung aufstellen: In dem Verzicht aufs Recht liegt die Poesie des Charakters? Ist der Bischof in den Mön-Mos weniger poetisch als Michael Kohlhaas? Und wenn auch Iherings Satz nicht bestritten werden soll, welcher Charakter erscheint uns poetischer, der um sein eignes Recht oder der um das Recht eines andern kämpft? Man stelle mir hundert Roman- und Theaterhelden vor, die im Kampfe für ihr Recht mit dem Kopfe durch die Wand rennen, sie wiegen mir den einen Don Quixote nicht ans, der für lauter Phantasmen und Chimären in den Kampf geht, man zeige mir hundert reisende Engländer, die im Kampfe mit Gastwirte» und Lohnkutscheru auf ihrem Rechte bestehen, ich weise hin auf Lassalle, der für die Grüfi» Hatzfeld in ihrem Scheidungsprozesse mit aller ihm eignen Energie eintrat und diesem Kampfe (siehe Brandes, Ferdinand Lassalle) zehn Jahre seines Lebens widmete, und bin überzeugt, daß die Poesie dieses Charakters den Vergleich mit der Poesie der reisenden Engländer nicht zu scheuen hätte. Am größten ist derjenige, den sein Zorn treibt, für das gekränkte Recht eines andern aufzutreten, und er ist unerreichbar, wenn dieser andre die ganze Menschheit ist. Aller Kulturfortschritt ist durch Kämpfe solcher Art erzielt worden, und ein Prinzip kann nicht richtig sein, welches auch in solchen Fällen vorschreibt, dem Übel nicht zu widerstreben. Symbolisch ist in dieser Beziehung die Gestalt des Prometheus, welcher für die Menschen das Feuer vom Himmel herunterholt und aus Liebe zu ihnen sich in den großen Kampf mit Zeus einläßt. Und Tolstoi selbst? Widerstrebt er mit der sittlichen Kraft, die seine Schriften erfüllt, etwa nicht dem Übel? Und »och mehr: Hat etwa Christus dem Übel nicht widerstrebt? Hat er das Pharisäertum ruhig gewähren lassen? Hat er für seine Idee nicht gekämpft? Hat er sich für sie nicht geopfert? Da hätten wir also die gesuchte Grenzlinie: Die Entsagung für mich, den Zorn — für die andern. Freilich: auf allgemeine Giltigkeit kann diese Grenzlinie keinen Anspruch machen, wenn sie auch mit unzweideutiger Bestimmtheit gezogen ist; sie braucht durchaus nicht von jedermann anerkannt zu werden. Derjenige, der auf dem strengen Rechtsstandpnukte steht, wird immer die Frage wiederholen: Warum soll ich denn überhaupt verzichte»? Und beweisen läßt es sich durchaus nicht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/418>, abgerufen am 28.07.2024.