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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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lieber Weise den berechtigten Zorn des Dmitri Nechludoff. wie die Kellner
des Hotels einen armen Bänkelsänger, den er mit Champagner traktirt, ver¬
spotten. Dmitri Nechlndoff könnte ja wohl much schweigen und die groben
Kellner und den Flegel von Portier gewähren lassen, er würde dann dem
Übel nicht widerstreben. Dmitri Nechlndoff widerstrebt aber dem Übel und
fährt heraus in seinem Zorne wie ein Blitz aus finsterer Wolke. An diese er¬
greifende Szene möchte ich den Verfasser des Buches: "Worin mein Glaube
besteht" erinnern, wenn er den Grundsatz, dein Übel nicht zu widerstreben,
ausnahmslos zur Grundlage aller Moral und aller Politik macht. Das
Prinzip ist erhaben und seine Befolgung in vielen Fällen nicht nur möglich,
sondern in Wahrheit auch förderlich; allein es giebt Ausnahmefälle, ein solcher
Ausnahmefall ist eben der in der Erzählung "Luzern" von ihm vorgeführte
Fall, und er liegt überall da vor. wo ich nicht einem mir persönlich zugefügten
Übel widerstrebe, sondern dem Übel, das einer andern Person zugefügt wird,
für die ich in die Schranken trete, wie Don Quixote (in seiner Idee) für die
verfolgte Unschuld aller Welt. Man versetze sich in die Lage der Antigone.
Wie hätte Antigone es anstellen sollen, dem Übel nicht zu widerstreben?
Hering seinerseits führt allerdings in dem Michael Kohlhaas von Kleist ein
ausgezeichnetes Beispiel vor, wie ein Mann das verletzte Recht verteidigt bis
5"in letzten Atemzuge, und in diesem Falle ist allerdings nur ein persönliches
Necht verletzt. Doch wird man wohl auch die Behauptung, daß in diesem
Falle die Verletzung des Privatrechts für Kohlhaas nur der äußere Anlaß sei,
der ihn treibt, gegen das allgemeine Unrecht aufzutreten, zu beachten haben,
"ut überdies stellen wir diesem wohlgelungenen Charakter das schöne Bild des
Bischofs aus Viktor Hugos ni^rMes entgegen, der mit echt Tolstoischem
Nichtwiderstreben den Dieb, der ihn bestiehlt, das Silberzeug forttragen läßt.
Auch Cordelia, die von dem alten kurzsichtigen Könige in so ungerechter Weise
verstoßen wird, ist ein edles und holdes Bild Tolstvischen Nichtwiderstrebens.
Würde sie in unsern Augen nicht alles einbüßen, wenn sie auch nur eine Miene
wachte, welche die Absicht einer Abwehr des Übels verriete, und liegt nicht die
ganze Schönheit dieses Charakters gerade darin, daß sie das Unrecht schwei¬
gend über sich ergehen läßt und Böses mit Gutem vergilt?

Denken wir aber anderseits (um von den erdichteten Figuren zum wirk¬
liche" Lebe" überzugehen) etwa an Martin Luther. Wenn Luther sich um Tetzel
und dessen Ablaßkrämerei nicht gekümmert, wenn er dem Übel nicht widerstrebt
hatte, so würde er sich für seine Person viel Ungemach erspart haben; allein
das allgemeine Übel wäre nicht beseitigt worden. Gerade daß er in so mann¬
hafter Weise dem Übel widerstrebte, macht ihn zu einem der erhabensten Cha¬
raktere in der Menschheitsgeschichte. Diese ganze Erhabenheit würde sofort ver¬
schwinden, wenn er für ein gekränktes Recht seiner Person den gewaltigen
Kampf aufgenommen hätte. Und dies ist der entscheidende Punkt, auf den eS


Ärmjboten II. 1888. 5"

lieber Weise den berechtigten Zorn des Dmitri Nechludoff. wie die Kellner
des Hotels einen armen Bänkelsänger, den er mit Champagner traktirt, ver¬
spotten. Dmitri Nechlndoff könnte ja wohl much schweigen und die groben
Kellner und den Flegel von Portier gewähren lassen, er würde dann dem
Übel nicht widerstreben. Dmitri Nechlndoff widerstrebt aber dem Übel und
fährt heraus in seinem Zorne wie ein Blitz aus finsterer Wolke. An diese er¬
greifende Szene möchte ich den Verfasser des Buches: „Worin mein Glaube
besteht" erinnern, wenn er den Grundsatz, dein Übel nicht zu widerstreben,
ausnahmslos zur Grundlage aller Moral und aller Politik macht. Das
Prinzip ist erhaben und seine Befolgung in vielen Fällen nicht nur möglich,
sondern in Wahrheit auch förderlich; allein es giebt Ausnahmefälle, ein solcher
Ausnahmefall ist eben der in der Erzählung „Luzern" von ihm vorgeführte
Fall, und er liegt überall da vor. wo ich nicht einem mir persönlich zugefügten
Übel widerstrebe, sondern dem Übel, das einer andern Person zugefügt wird,
für die ich in die Schranken trete, wie Don Quixote (in seiner Idee) für die
verfolgte Unschuld aller Welt. Man versetze sich in die Lage der Antigone.
Wie hätte Antigone es anstellen sollen, dem Übel nicht zu widerstreben?
Hering seinerseits führt allerdings in dem Michael Kohlhaas von Kleist ein
ausgezeichnetes Beispiel vor, wie ein Mann das verletzte Recht verteidigt bis
5»in letzten Atemzuge, und in diesem Falle ist allerdings nur ein persönliches
Necht verletzt. Doch wird man wohl auch die Behauptung, daß in diesem
Falle die Verletzung des Privatrechts für Kohlhaas nur der äußere Anlaß sei,
der ihn treibt, gegen das allgemeine Unrecht aufzutreten, zu beachten haben,
»ut überdies stellen wir diesem wohlgelungenen Charakter das schöne Bild des
Bischofs aus Viktor Hugos ni^rMes entgegen, der mit echt Tolstoischem
Nichtwiderstreben den Dieb, der ihn bestiehlt, das Silberzeug forttragen läßt.
Auch Cordelia, die von dem alten kurzsichtigen Könige in so ungerechter Weise
verstoßen wird, ist ein edles und holdes Bild Tolstvischen Nichtwiderstrebens.
Würde sie in unsern Augen nicht alles einbüßen, wenn sie auch nur eine Miene
wachte, welche die Absicht einer Abwehr des Übels verriete, und liegt nicht die
ganze Schönheit dieses Charakters gerade darin, daß sie das Unrecht schwei¬
gend über sich ergehen läßt und Böses mit Gutem vergilt?

Denken wir aber anderseits (um von den erdichteten Figuren zum wirk¬
liche» Lebe» überzugehen) etwa an Martin Luther. Wenn Luther sich um Tetzel
und dessen Ablaßkrämerei nicht gekümmert, wenn er dem Übel nicht widerstrebt
hatte, so würde er sich für seine Person viel Ungemach erspart haben; allein
das allgemeine Übel wäre nicht beseitigt worden. Gerade daß er in so mann¬
hafter Weise dem Übel widerstrebte, macht ihn zu einem der erhabensten Cha¬
raktere in der Menschheitsgeschichte. Diese ganze Erhabenheit würde sofort ver¬
schwinden, wenn er für ein gekränktes Recht seiner Person den gewaltigen
Kampf aufgenommen hätte. Und dies ist der entscheidende Punkt, auf den eS


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[0417] lieber Weise den berechtigten Zorn des Dmitri Nechludoff. wie die Kellner des Hotels einen armen Bänkelsänger, den er mit Champagner traktirt, ver¬ spotten. Dmitri Nechlndoff könnte ja wohl much schweigen und die groben Kellner und den Flegel von Portier gewähren lassen, er würde dann dem Übel nicht widerstreben. Dmitri Nechlndoff widerstrebt aber dem Übel und fährt heraus in seinem Zorne wie ein Blitz aus finsterer Wolke. An diese er¬ greifende Szene möchte ich den Verfasser des Buches: „Worin mein Glaube besteht" erinnern, wenn er den Grundsatz, dein Übel nicht zu widerstreben, ausnahmslos zur Grundlage aller Moral und aller Politik macht. Das Prinzip ist erhaben und seine Befolgung in vielen Fällen nicht nur möglich, sondern in Wahrheit auch förderlich; allein es giebt Ausnahmefälle, ein solcher Ausnahmefall ist eben der in der Erzählung „Luzern" von ihm vorgeführte Fall, und er liegt überall da vor. wo ich nicht einem mir persönlich zugefügten Übel widerstrebe, sondern dem Übel, das einer andern Person zugefügt wird, für die ich in die Schranken trete, wie Don Quixote (in seiner Idee) für die verfolgte Unschuld aller Welt. Man versetze sich in die Lage der Antigone. Wie hätte Antigone es anstellen sollen, dem Übel nicht zu widerstreben? Hering seinerseits führt allerdings in dem Michael Kohlhaas von Kleist ein ausgezeichnetes Beispiel vor, wie ein Mann das verletzte Recht verteidigt bis 5»in letzten Atemzuge, und in diesem Falle ist allerdings nur ein persönliches Necht verletzt. Doch wird man wohl auch die Behauptung, daß in diesem Falle die Verletzung des Privatrechts für Kohlhaas nur der äußere Anlaß sei, der ihn treibt, gegen das allgemeine Unrecht aufzutreten, zu beachten haben, »ut überdies stellen wir diesem wohlgelungenen Charakter das schöne Bild des Bischofs aus Viktor Hugos ni^rMes entgegen, der mit echt Tolstoischem Nichtwiderstreben den Dieb, der ihn bestiehlt, das Silberzeug forttragen läßt. Auch Cordelia, die von dem alten kurzsichtigen Könige in so ungerechter Weise verstoßen wird, ist ein edles und holdes Bild Tolstvischen Nichtwiderstrebens. Würde sie in unsern Augen nicht alles einbüßen, wenn sie auch nur eine Miene wachte, welche die Absicht einer Abwehr des Übels verriete, und liegt nicht die ganze Schönheit dieses Charakters gerade darin, daß sie das Unrecht schwei¬ gend über sich ergehen läßt und Böses mit Gutem vergilt? Denken wir aber anderseits (um von den erdichteten Figuren zum wirk¬ liche» Lebe» überzugehen) etwa an Martin Luther. Wenn Luther sich um Tetzel und dessen Ablaßkrämerei nicht gekümmert, wenn er dem Übel nicht widerstrebt hatte, so würde er sich für seine Person viel Ungemach erspart haben; allein das allgemeine Übel wäre nicht beseitigt worden. Gerade daß er in so mann¬ hafter Weise dem Übel widerstrebte, macht ihn zu einem der erhabensten Cha¬ raktere in der Menschheitsgeschichte. Diese ganze Erhabenheit würde sofort ver¬ schwinden, wenn er für ein gekränktes Recht seiner Person den gewaltigen Kampf aufgenommen hätte. Und dies ist der entscheidende Punkt, auf den eS Ärmjboten II. 1888. 5»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/417>, abgerufen am 28.07.2024.