Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum.

hat. Hierüber und bei den wirklichen Vorzügen des Mannes hat man alle
seine Seltsamkeiten, Schrullen, ja schreienden Ungerechtigkeiten übersehen. Wer
vorurteilslos die Entstehung seiner Stiftung verfolgt, wird gestehen müssen, wie
es der große Arzt Heim, der den Stifter noch im Stiftshanse gesehen und ge¬
sprochen, längst ausgesprochen, daß nicht reine Liebe zur Sache und zu seiner
Vaterstadt, sondern Eitelkeit ihn zur Gründung einer seinen Namen tragenden
medizinischen Akademie in Frankfurt trieb, die ihn im Grunde nichts kostete, da
er bis zu seinem Tode im Besitz und in der Leitung der ganzen Anstalt blieb.
Kriegks Behauptung, Senckcnbcrg sei eine streng sittliche Natur gewesen, können
wir nicht zugeben. Leider nistet sich bei den Frommen, trotz ihrer peinlichen
Herzenserforschung, zu viel Ehrsucht, Selbstbespiegelung, Überhebung und phari¬
säische Verachtung andrer ein. Kriegk selbst muß gestehen, daß Senckenberg in
seinen Urteilen über Personen fast immer leidenschaftlich verfahren sei. Das Sitten¬
gesetz verlangt, daß man nur nach genauester Prüfung und voller Kenntnis ein
Urteil über den Nächsten fälle, ein abfälliges nur da, wo es nötig ist, und mit
möglichster Schonung, nicht mit verletzender Schadenfreude. Aber Senckenberg
war durch seine traurigen Jugenderlebnisse und durch den ihn verfolgenden
Spott über das Abstoßende seines äußern Wesens ungemein reizbar und ver¬
bittert und nicht imstande, solchen, die andre Wege gingen, gerecht zu werden.
Die Welt war ihm ein Narrenhaus, aus welcher sich der Geist des Weisen,
für den er sich hielt, zurückziehe, seine Amtsgenossen Sklaven der Habgier, alle
Natsmitglieder Esel oder Schurken, die Geistlichen herrschsüctige Pfaffen, die
Juristen Rabulisten; seine Vaterstadt, glaubte er, hasse die Guten, beschütze die
Bösen, wogegen er auf seiner selbstgemachten Grabschrift sich als guten Bürger
und treuen Arzt bezeichnete. Ohne Ahnung der Schwierigkeiten einer großen
Verwaltung, wozu er selbst unfähig war, ohne Verständnis für echte Diensttreue
brach er den Stab über Textor und sah ihn im Hohlspiegel feines Hasses.
Dieser Haß war dadurch gesteigert worden, daß Textor ihm zuweilen entgegen¬
getreten war, wie bei dem Vorschlage, Ärzte als solche in den Rat zu wählen, was
dessen Bestimmung durchaus widersprach und die gleiche Vergünstigung für die
Geistlichkeit und die Lehrer der Schulen gefordert hätte, die eben, wie die Arzte,
schon ihre eignen Vertreter hatten. In seiner Verblendung schrieb er Textor
alles Böse zu, und er freute sich, wenn die Gegner, die seine Abneigung gegen
den verdienten Mann kannten, ihr loses Gcklatsch ihm zutrugen, das er mit
wahrer Wollust, auch wohl mit unwillkürlichen Zusätzen in seine Tagebuchblätter
eintrug. Manches mag auf Erzählungen oder Äußerungen seines vor keiner
Lüge zurückschreckenden Bruders Erasmus beruhen, obgleich er dessen Nichts¬
würdigkeit kannte, ja einzelne Vorwürfe gegen Textor gehen nachweislich auf
diesen zurück.

Halten wir uns zunächst an den Vorwurf, Textor, die Bürgermeister und
andre Magistratsmitglieder hätten sich zum Verrat der Stadt an die Frau-


Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum.

hat. Hierüber und bei den wirklichen Vorzügen des Mannes hat man alle
seine Seltsamkeiten, Schrullen, ja schreienden Ungerechtigkeiten übersehen. Wer
vorurteilslos die Entstehung seiner Stiftung verfolgt, wird gestehen müssen, wie
es der große Arzt Heim, der den Stifter noch im Stiftshanse gesehen und ge¬
sprochen, längst ausgesprochen, daß nicht reine Liebe zur Sache und zu seiner
Vaterstadt, sondern Eitelkeit ihn zur Gründung einer seinen Namen tragenden
medizinischen Akademie in Frankfurt trieb, die ihn im Grunde nichts kostete, da
er bis zu seinem Tode im Besitz und in der Leitung der ganzen Anstalt blieb.
Kriegks Behauptung, Senckcnbcrg sei eine streng sittliche Natur gewesen, können
wir nicht zugeben. Leider nistet sich bei den Frommen, trotz ihrer peinlichen
Herzenserforschung, zu viel Ehrsucht, Selbstbespiegelung, Überhebung und phari¬
säische Verachtung andrer ein. Kriegk selbst muß gestehen, daß Senckenberg in
seinen Urteilen über Personen fast immer leidenschaftlich verfahren sei. Das Sitten¬
gesetz verlangt, daß man nur nach genauester Prüfung und voller Kenntnis ein
Urteil über den Nächsten fälle, ein abfälliges nur da, wo es nötig ist, und mit
möglichster Schonung, nicht mit verletzender Schadenfreude. Aber Senckenberg
war durch seine traurigen Jugenderlebnisse und durch den ihn verfolgenden
Spott über das Abstoßende seines äußern Wesens ungemein reizbar und ver¬
bittert und nicht imstande, solchen, die andre Wege gingen, gerecht zu werden.
Die Welt war ihm ein Narrenhaus, aus welcher sich der Geist des Weisen,
für den er sich hielt, zurückziehe, seine Amtsgenossen Sklaven der Habgier, alle
Natsmitglieder Esel oder Schurken, die Geistlichen herrschsüctige Pfaffen, die
Juristen Rabulisten; seine Vaterstadt, glaubte er, hasse die Guten, beschütze die
Bösen, wogegen er auf seiner selbstgemachten Grabschrift sich als guten Bürger
und treuen Arzt bezeichnete. Ohne Ahnung der Schwierigkeiten einer großen
Verwaltung, wozu er selbst unfähig war, ohne Verständnis für echte Diensttreue
brach er den Stab über Textor und sah ihn im Hohlspiegel feines Hasses.
Dieser Haß war dadurch gesteigert worden, daß Textor ihm zuweilen entgegen¬
getreten war, wie bei dem Vorschlage, Ärzte als solche in den Rat zu wählen, was
dessen Bestimmung durchaus widersprach und die gleiche Vergünstigung für die
Geistlichkeit und die Lehrer der Schulen gefordert hätte, die eben, wie die Arzte,
schon ihre eignen Vertreter hatten. In seiner Verblendung schrieb er Textor
alles Böse zu, und er freute sich, wenn die Gegner, die seine Abneigung gegen
den verdienten Mann kannten, ihr loses Gcklatsch ihm zutrugen, das er mit
wahrer Wollust, auch wohl mit unwillkürlichen Zusätzen in seine Tagebuchblätter
eintrug. Manches mag auf Erzählungen oder Äußerungen seines vor keiner
Lüge zurückschreckenden Bruders Erasmus beruhen, obgleich er dessen Nichts¬
würdigkeit kannte, ja einzelne Vorwürfe gegen Textor gehen nachweislich auf
diesen zurück.

Halten wir uns zunächst an den Vorwurf, Textor, die Bürgermeister und
andre Magistratsmitglieder hätten sich zum Verrat der Stadt an die Frau-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0382" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203159"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1228" prev="#ID_1227"> hat. Hierüber und bei den wirklichen Vorzügen des Mannes hat man alle<lb/>
seine Seltsamkeiten, Schrullen, ja schreienden Ungerechtigkeiten übersehen. Wer<lb/>
vorurteilslos die Entstehung seiner Stiftung verfolgt, wird gestehen müssen, wie<lb/>
es der große Arzt Heim, der den Stifter noch im Stiftshanse gesehen und ge¬<lb/>
sprochen, längst ausgesprochen, daß nicht reine Liebe zur Sache und zu seiner<lb/>
Vaterstadt, sondern Eitelkeit ihn zur Gründung einer seinen Namen tragenden<lb/>
medizinischen Akademie in Frankfurt trieb, die ihn im Grunde nichts kostete, da<lb/>
er bis zu seinem Tode im Besitz und in der Leitung der ganzen Anstalt blieb.<lb/>
Kriegks Behauptung, Senckcnbcrg sei eine streng sittliche Natur gewesen, können<lb/>
wir nicht zugeben. Leider nistet sich bei den Frommen, trotz ihrer peinlichen<lb/>
Herzenserforschung, zu viel Ehrsucht, Selbstbespiegelung, Überhebung und phari¬<lb/>
säische Verachtung andrer ein. Kriegk selbst muß gestehen, daß Senckenberg in<lb/>
seinen Urteilen über Personen fast immer leidenschaftlich verfahren sei. Das Sitten¬<lb/>
gesetz verlangt, daß man nur nach genauester Prüfung und voller Kenntnis ein<lb/>
Urteil über den Nächsten fälle, ein abfälliges nur da, wo es nötig ist, und mit<lb/>
möglichster Schonung, nicht mit verletzender Schadenfreude. Aber Senckenberg<lb/>
war durch seine traurigen Jugenderlebnisse und durch den ihn verfolgenden<lb/>
Spott über das Abstoßende seines äußern Wesens ungemein reizbar und ver¬<lb/>
bittert und nicht imstande, solchen, die andre Wege gingen, gerecht zu werden.<lb/>
Die Welt war ihm ein Narrenhaus, aus welcher sich der Geist des Weisen,<lb/>
für den er sich hielt, zurückziehe, seine Amtsgenossen Sklaven der Habgier, alle<lb/>
Natsmitglieder Esel oder Schurken, die Geistlichen herrschsüctige Pfaffen, die<lb/>
Juristen Rabulisten; seine Vaterstadt, glaubte er, hasse die Guten, beschütze die<lb/>
Bösen, wogegen er auf seiner selbstgemachten Grabschrift sich als guten Bürger<lb/>
und treuen Arzt bezeichnete. Ohne Ahnung der Schwierigkeiten einer großen<lb/>
Verwaltung, wozu er selbst unfähig war, ohne Verständnis für echte Diensttreue<lb/>
brach er den Stab über Textor und sah ihn im Hohlspiegel feines Hasses.<lb/>
Dieser Haß war dadurch gesteigert worden, daß Textor ihm zuweilen entgegen¬<lb/>
getreten war, wie bei dem Vorschlage, Ärzte als solche in den Rat zu wählen, was<lb/>
dessen Bestimmung durchaus widersprach und die gleiche Vergünstigung für die<lb/>
Geistlichkeit und die Lehrer der Schulen gefordert hätte, die eben, wie die Arzte,<lb/>
schon ihre eignen Vertreter hatten. In seiner Verblendung schrieb er Textor<lb/>
alles Böse zu, und er freute sich, wenn die Gegner, die seine Abneigung gegen<lb/>
den verdienten Mann kannten, ihr loses Gcklatsch ihm zutrugen, das er mit<lb/>
wahrer Wollust, auch wohl mit unwillkürlichen Zusätzen in seine Tagebuchblätter<lb/>
eintrug. Manches mag auf Erzählungen oder Äußerungen seines vor keiner<lb/>
Lüge zurückschreckenden Bruders Erasmus beruhen, obgleich er dessen Nichts¬<lb/>
würdigkeit kannte, ja einzelne Vorwürfe gegen Textor gehen nachweislich auf<lb/>
diesen zurück.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1229" next="#ID_1230"> Halten wir uns zunächst an den Vorwurf, Textor, die Bürgermeister und<lb/>
andre Magistratsmitglieder hätten sich zum Verrat der Stadt an die Frau-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0382] Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum. hat. Hierüber und bei den wirklichen Vorzügen des Mannes hat man alle seine Seltsamkeiten, Schrullen, ja schreienden Ungerechtigkeiten übersehen. Wer vorurteilslos die Entstehung seiner Stiftung verfolgt, wird gestehen müssen, wie es der große Arzt Heim, der den Stifter noch im Stiftshanse gesehen und ge¬ sprochen, längst ausgesprochen, daß nicht reine Liebe zur Sache und zu seiner Vaterstadt, sondern Eitelkeit ihn zur Gründung einer seinen Namen tragenden medizinischen Akademie in Frankfurt trieb, die ihn im Grunde nichts kostete, da er bis zu seinem Tode im Besitz und in der Leitung der ganzen Anstalt blieb. Kriegks Behauptung, Senckcnbcrg sei eine streng sittliche Natur gewesen, können wir nicht zugeben. Leider nistet sich bei den Frommen, trotz ihrer peinlichen Herzenserforschung, zu viel Ehrsucht, Selbstbespiegelung, Überhebung und phari¬ säische Verachtung andrer ein. Kriegk selbst muß gestehen, daß Senckenberg in seinen Urteilen über Personen fast immer leidenschaftlich verfahren sei. Das Sitten¬ gesetz verlangt, daß man nur nach genauester Prüfung und voller Kenntnis ein Urteil über den Nächsten fälle, ein abfälliges nur da, wo es nötig ist, und mit möglichster Schonung, nicht mit verletzender Schadenfreude. Aber Senckenberg war durch seine traurigen Jugenderlebnisse und durch den ihn verfolgenden Spott über das Abstoßende seines äußern Wesens ungemein reizbar und ver¬ bittert und nicht imstande, solchen, die andre Wege gingen, gerecht zu werden. Die Welt war ihm ein Narrenhaus, aus welcher sich der Geist des Weisen, für den er sich hielt, zurückziehe, seine Amtsgenossen Sklaven der Habgier, alle Natsmitglieder Esel oder Schurken, die Geistlichen herrschsüctige Pfaffen, die Juristen Rabulisten; seine Vaterstadt, glaubte er, hasse die Guten, beschütze die Bösen, wogegen er auf seiner selbstgemachten Grabschrift sich als guten Bürger und treuen Arzt bezeichnete. Ohne Ahnung der Schwierigkeiten einer großen Verwaltung, wozu er selbst unfähig war, ohne Verständnis für echte Diensttreue brach er den Stab über Textor und sah ihn im Hohlspiegel feines Hasses. Dieser Haß war dadurch gesteigert worden, daß Textor ihm zuweilen entgegen¬ getreten war, wie bei dem Vorschlage, Ärzte als solche in den Rat zu wählen, was dessen Bestimmung durchaus widersprach und die gleiche Vergünstigung für die Geistlichkeit und die Lehrer der Schulen gefordert hätte, die eben, wie die Arzte, schon ihre eignen Vertreter hatten. In seiner Verblendung schrieb er Textor alles Böse zu, und er freute sich, wenn die Gegner, die seine Abneigung gegen den verdienten Mann kannten, ihr loses Gcklatsch ihm zutrugen, das er mit wahrer Wollust, auch wohl mit unwillkürlichen Zusätzen in seine Tagebuchblätter eintrug. Manches mag auf Erzählungen oder Äußerungen seines vor keiner Lüge zurückschreckenden Bruders Erasmus beruhen, obgleich er dessen Nichts¬ würdigkeit kannte, ja einzelne Vorwürfe gegen Textor gehen nachweislich auf diesen zurück. Halten wir uns zunächst an den Vorwurf, Textor, die Bürgermeister und andre Magistratsmitglieder hätten sich zum Verrat der Stadt an die Frau-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/382
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/382>, abgerufen am 01.09.2024.