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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neuphilologie.

den Gymnasialschülern zumuten. Einzig die Lesefertigkeit soll das Ziel des
Unterrichtes sein; dies betont er, und er begründet es aus den mannichfachsten
Gesichtspunkten. Das Gymnasium ist ausschließlich Gelehrtenschule, es hat
keinen andern Zweck zu verfolgen, als die Jugend für den Universitätsuntcrricht
vorzubereiten. So unentbehrlich heutzutage die Kenntnis der neuern Sprachen
im wissenschaftlichen Leben ist, so wenig nötig ist eine Sprechfertigkeit und
Schreibfähigkeit in ihnen. Die fremde Sprache mühelos lesen, das muß der
moderne Gelehrte können, aber er hat es nicht nötig, dem Ausländer schmeich¬
lerisch entgegenzukommen, im Verkehr mit dem Auslande mag er sich nur seines
rechtschaffenen Deutsch bedienen. Für jene Jugend aber, die in Rücksicht auf
den einstigen Lebens berus es im Französischen oder Englischen bis zur Sprech¬
fertigkeit bringen muß, sind andre Lehranstalten offen; das Gymnasium muß
sich seinein Wesen nach mit der Lesefertigkeit begnügen. Diese soll allerdings
mit möglichster Vollkommenheit erreicht werden, und Körting giebt ausführliche
Anweisungen dazu.

Körting ist auch keineswegs für die Zurückschiebung oder gar Abschaffung
des Lateinischen in unsern Gymnasien. Ans vielen Gründen nicht. Ganz ab¬
gesehen davon, daß unsre Kultur noch immer auf der Renaissance begründet ist,
und daß daher das Gymnasium so lange die Jugend in das Altertum einführen
muß, bis nicht der gesamte Bildungszustand eine Umwälzung erfährt, was, wenn
auch denkbar, doch in absehbarer Zeit nicht wahrscheinlich ist, sprechen auch
pädagogisch-sprachphilosophische Gründe für die Festhaltung der Herrschaft des
Lateinischen im Ghmnasialuttterricht. Vor den neuern hat die lateinische Sprache
den Reichtum an Flexionsformen voraus, der sie der deutscheu Sprache weit
näher stellt, als es beim Französischen und Englischen der Fall ist. Das
Lateinische ist wie das Deutsche eine synthetische Sprache, die andern sind
analytische Sprachen. Die jüngern Sprachen haben viele grammatische
Formen abgeschliffen, verloren, welche die deutsche und die lateinische besitzen.
Nun soll aber der Sprachunterricht im Gymnasium zunächst keinen andern
Zweck verfolgen, als das logische Denken, den Sinn für die einzelnen Formen
zu bilden, zu wecken; da befördern den Unterricht die lautlich wahrnehmbaren
und dem Deutschen ähnlich erhaltenen mannichfaltigeren Flexionen des Latei¬
nischen, zumal da ja dieser Unterricht deutschen Kindern erteilt wird. Darum
tritt Körting, wenn auch Neuphilolog von Beruf, für die Herrschaft des Latei¬
nischen im Gymnasium ein, nur will er den Unterricht in den neuern Sprachen
mit keinem geringern Ernste und Respekte betrieben sehen; auf die Sprechfertig¬
keit verzichtet er.

Körting ist überhaupt gegen das dilettantische Parliren in fremden Sprachen.
"Grundverkehrt, sagt er (S. 130), ist die in Deutschland vielverbreitete und das
Unterrichtswesen beeinflussende Wertschätzung der Mehrsprachigkeit. Und nebenbei
schließt diese Wertschätzung eine Entwürdigung des deutschen Volkstums in sich.


Neuphilologie.

den Gymnasialschülern zumuten. Einzig die Lesefertigkeit soll das Ziel des
Unterrichtes sein; dies betont er, und er begründet es aus den mannichfachsten
Gesichtspunkten. Das Gymnasium ist ausschließlich Gelehrtenschule, es hat
keinen andern Zweck zu verfolgen, als die Jugend für den Universitätsuntcrricht
vorzubereiten. So unentbehrlich heutzutage die Kenntnis der neuern Sprachen
im wissenschaftlichen Leben ist, so wenig nötig ist eine Sprechfertigkeit und
Schreibfähigkeit in ihnen. Die fremde Sprache mühelos lesen, das muß der
moderne Gelehrte können, aber er hat es nicht nötig, dem Ausländer schmeich¬
lerisch entgegenzukommen, im Verkehr mit dem Auslande mag er sich nur seines
rechtschaffenen Deutsch bedienen. Für jene Jugend aber, die in Rücksicht auf
den einstigen Lebens berus es im Französischen oder Englischen bis zur Sprech¬
fertigkeit bringen muß, sind andre Lehranstalten offen; das Gymnasium muß
sich seinein Wesen nach mit der Lesefertigkeit begnügen. Diese soll allerdings
mit möglichster Vollkommenheit erreicht werden, und Körting giebt ausführliche
Anweisungen dazu.

Körting ist auch keineswegs für die Zurückschiebung oder gar Abschaffung
des Lateinischen in unsern Gymnasien. Ans vielen Gründen nicht. Ganz ab¬
gesehen davon, daß unsre Kultur noch immer auf der Renaissance begründet ist,
und daß daher das Gymnasium so lange die Jugend in das Altertum einführen
muß, bis nicht der gesamte Bildungszustand eine Umwälzung erfährt, was, wenn
auch denkbar, doch in absehbarer Zeit nicht wahrscheinlich ist, sprechen auch
pädagogisch-sprachphilosophische Gründe für die Festhaltung der Herrschaft des
Lateinischen im Ghmnasialuttterricht. Vor den neuern hat die lateinische Sprache
den Reichtum an Flexionsformen voraus, der sie der deutscheu Sprache weit
näher stellt, als es beim Französischen und Englischen der Fall ist. Das
Lateinische ist wie das Deutsche eine synthetische Sprache, die andern sind
analytische Sprachen. Die jüngern Sprachen haben viele grammatische
Formen abgeschliffen, verloren, welche die deutsche und die lateinische besitzen.
Nun soll aber der Sprachunterricht im Gymnasium zunächst keinen andern
Zweck verfolgen, als das logische Denken, den Sinn für die einzelnen Formen
zu bilden, zu wecken; da befördern den Unterricht die lautlich wahrnehmbaren
und dem Deutschen ähnlich erhaltenen mannichfaltigeren Flexionen des Latei¬
nischen, zumal da ja dieser Unterricht deutschen Kindern erteilt wird. Darum
tritt Körting, wenn auch Neuphilolog von Beruf, für die Herrschaft des Latei¬
nischen im Gymnasium ein, nur will er den Unterricht in den neuern Sprachen
mit keinem geringern Ernste und Respekte betrieben sehen; auf die Sprechfertig¬
keit verzichtet er.

Körting ist überhaupt gegen das dilettantische Parliren in fremden Sprachen.
„Grundverkehrt, sagt er (S. 130), ist die in Deutschland vielverbreitete und das
Unterrichtswesen beeinflussende Wertschätzung der Mehrsprachigkeit. Und nebenbei
schließt diese Wertschätzung eine Entwürdigung des deutschen Volkstums in sich.


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[0372] Neuphilologie. den Gymnasialschülern zumuten. Einzig die Lesefertigkeit soll das Ziel des Unterrichtes sein; dies betont er, und er begründet es aus den mannichfachsten Gesichtspunkten. Das Gymnasium ist ausschließlich Gelehrtenschule, es hat keinen andern Zweck zu verfolgen, als die Jugend für den Universitätsuntcrricht vorzubereiten. So unentbehrlich heutzutage die Kenntnis der neuern Sprachen im wissenschaftlichen Leben ist, so wenig nötig ist eine Sprechfertigkeit und Schreibfähigkeit in ihnen. Die fremde Sprache mühelos lesen, das muß der moderne Gelehrte können, aber er hat es nicht nötig, dem Ausländer schmeich¬ lerisch entgegenzukommen, im Verkehr mit dem Auslande mag er sich nur seines rechtschaffenen Deutsch bedienen. Für jene Jugend aber, die in Rücksicht auf den einstigen Lebens berus es im Französischen oder Englischen bis zur Sprech¬ fertigkeit bringen muß, sind andre Lehranstalten offen; das Gymnasium muß sich seinein Wesen nach mit der Lesefertigkeit begnügen. Diese soll allerdings mit möglichster Vollkommenheit erreicht werden, und Körting giebt ausführliche Anweisungen dazu. Körting ist auch keineswegs für die Zurückschiebung oder gar Abschaffung des Lateinischen in unsern Gymnasien. Ans vielen Gründen nicht. Ganz ab¬ gesehen davon, daß unsre Kultur noch immer auf der Renaissance begründet ist, und daß daher das Gymnasium so lange die Jugend in das Altertum einführen muß, bis nicht der gesamte Bildungszustand eine Umwälzung erfährt, was, wenn auch denkbar, doch in absehbarer Zeit nicht wahrscheinlich ist, sprechen auch pädagogisch-sprachphilosophische Gründe für die Festhaltung der Herrschaft des Lateinischen im Ghmnasialuttterricht. Vor den neuern hat die lateinische Sprache den Reichtum an Flexionsformen voraus, der sie der deutscheu Sprache weit näher stellt, als es beim Französischen und Englischen der Fall ist. Das Lateinische ist wie das Deutsche eine synthetische Sprache, die andern sind analytische Sprachen. Die jüngern Sprachen haben viele grammatische Formen abgeschliffen, verloren, welche die deutsche und die lateinische besitzen. Nun soll aber der Sprachunterricht im Gymnasium zunächst keinen andern Zweck verfolgen, als das logische Denken, den Sinn für die einzelnen Formen zu bilden, zu wecken; da befördern den Unterricht die lautlich wahrnehmbaren und dem Deutschen ähnlich erhaltenen mannichfaltigeren Flexionen des Latei¬ nischen, zumal da ja dieser Unterricht deutschen Kindern erteilt wird. Darum tritt Körting, wenn auch Neuphilolog von Beruf, für die Herrschaft des Latei¬ nischen im Gymnasium ein, nur will er den Unterricht in den neuern Sprachen mit keinem geringern Ernste und Respekte betrieben sehen; auf die Sprechfertig¬ keit verzichtet er. Körting ist überhaupt gegen das dilettantische Parliren in fremden Sprachen. „Grundverkehrt, sagt er (S. 130), ist die in Deutschland vielverbreitete und das Unterrichtswesen beeinflussende Wertschätzung der Mehrsprachigkeit. Und nebenbei schließt diese Wertschätzung eine Entwürdigung des deutschen Volkstums in sich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/372>, abgerufen am 01.09.2024.