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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Hamerlings Homunculus.

Romanlitteratur, pessimistisch oder naturalistisch wie sie ist, muß doch wohl auch
unter den Begriff der Satire gefaßt werden. Die Unzufriedenheit mit den so¬
zialen Zuständen, die Unbefriedigung an der Skepsis in religiöse" und philo¬
sophischen Fragen steckt uns allen in den Gliedern. Auch der Pessimismus
hat schon seine Autorität verloren; man konnte es durch alle Feuilletons am
Schopenhauertage hören, daß der Pessimismus nicht mehr die rechte Welt¬
anschauung sei. Aber keiner unter allen, die da geschrieben haben, hat einen
positiven Gedanken zum Ersatz ausgesprochen, wenige haben den Mut gehabt,
auch nur irgend ein idealistisches Bekenntnis abzulegen. Also auch darum
"Werdens alle lesen," was ein Hamerling seiner Zeit zu sagen hat. Sie werden
es mit derselben Gier lesen, wie man die täglich erscheinende Zeitung zur Hand
nimmt, ja diese Neugier ist geadelt und gesteigert, weil die Zeitung, selbst die
allerbeste, doch nicht täglich interessant sein kann, und ein guter Schriftsteller
auch nicht alle Tage schreibt, vielmehr gar selten seine Feder eintaucht. Nichts
lesen da die Menschen lieber, als was gerade das allerneueste in der Welt be¬
spricht. Hamerlings Muse hat bisher fast ausschließlich historische Stoffe ge¬
wählt, Nero, Jan von Leyden, Danton, Aspasia, Teut, Romantik u. s. w. Sie
ist allerdings nicht in den Dienst der Kulturgeschichte getreten, ihr war die Ge¬
schichte nur das Kunstmittel der idealen Form, sie war ganz erfüllt von der
Gegenwart, nur Symbole derselben, ein Spiegelbild und sonst nichts waren ihr
die geschichtlichen Gestalten. Und nur dieses "aktuellen" Gehaltes wegen hatten
die geschichtlichen Dichtungen -- soweit sie beliebt wurden -- den großen Er¬
folg bei der Menge. Aber der Menge ist es noch lieber, wenn ihr selbst die
Anstrengung der Deutung von Symbolen erspart wird und ihr das Spiegel¬
bild ohne Vermittlung gereicht wird. Im "Homunculus" hat Hamerling dies
zum ersten male versucht -- er hätte es schon längst thun sollen --, und darum
konnte er mit Berechtigung erwarten: "Alle Werdens lesen."

Mit welchem Erfolge, mit welcher Stimmung, welchem Verständnis,
welchem Urteil sich lesen werden -- das freilich ist eine andre Sache. Denn
auch der "Homunculus" ist symbolisch, er ist es im ganz eigentlichen Sinne,
und seine Symbolik, welche unwirkliche Gestalten vor Augen führt, die nur von
denen werden recht verstanden werden, welche das Original derselben, die ge¬
schichtliche Wirklichkeit der Gegenwart, selbst kennen, deren Gleichnis sie bilden,
ist der großen Menge vollends schwer begreiflich. Wie wenige giebt es, welche
die Wirklichkeit überschauen? Lebt die Menge nicht im Halbdunkel über die
eigne Zeit dahin? Darum ist Hamerlings "modernes Epos" ebenso aktuell ge¬
meint als unvolkstümlich geraten, und mehr noch als ein andres dichterisches
Werk bedarf es jener vom Dichter vielgeschmähten Mitwirkung der Rezensenten:


Esel sind nicht alle -- nein!
Hörner freilich haben alle!

um ins rechte Licht gerückt zu werdeu.


Hamerlings Homunculus.

Romanlitteratur, pessimistisch oder naturalistisch wie sie ist, muß doch wohl auch
unter den Begriff der Satire gefaßt werden. Die Unzufriedenheit mit den so¬
zialen Zuständen, die Unbefriedigung an der Skepsis in religiöse» und philo¬
sophischen Fragen steckt uns allen in den Gliedern. Auch der Pessimismus
hat schon seine Autorität verloren; man konnte es durch alle Feuilletons am
Schopenhauertage hören, daß der Pessimismus nicht mehr die rechte Welt¬
anschauung sei. Aber keiner unter allen, die da geschrieben haben, hat einen
positiven Gedanken zum Ersatz ausgesprochen, wenige haben den Mut gehabt,
auch nur irgend ein idealistisches Bekenntnis abzulegen. Also auch darum
„Werdens alle lesen," was ein Hamerling seiner Zeit zu sagen hat. Sie werden
es mit derselben Gier lesen, wie man die täglich erscheinende Zeitung zur Hand
nimmt, ja diese Neugier ist geadelt und gesteigert, weil die Zeitung, selbst die
allerbeste, doch nicht täglich interessant sein kann, und ein guter Schriftsteller
auch nicht alle Tage schreibt, vielmehr gar selten seine Feder eintaucht. Nichts
lesen da die Menschen lieber, als was gerade das allerneueste in der Welt be¬
spricht. Hamerlings Muse hat bisher fast ausschließlich historische Stoffe ge¬
wählt, Nero, Jan von Leyden, Danton, Aspasia, Teut, Romantik u. s. w. Sie
ist allerdings nicht in den Dienst der Kulturgeschichte getreten, ihr war die Ge¬
schichte nur das Kunstmittel der idealen Form, sie war ganz erfüllt von der
Gegenwart, nur Symbole derselben, ein Spiegelbild und sonst nichts waren ihr
die geschichtlichen Gestalten. Und nur dieses „aktuellen" Gehaltes wegen hatten
die geschichtlichen Dichtungen — soweit sie beliebt wurden — den großen Er¬
folg bei der Menge. Aber der Menge ist es noch lieber, wenn ihr selbst die
Anstrengung der Deutung von Symbolen erspart wird und ihr das Spiegel¬
bild ohne Vermittlung gereicht wird. Im „Homunculus" hat Hamerling dies
zum ersten male versucht — er hätte es schon längst thun sollen —, und darum
konnte er mit Berechtigung erwarten: „Alle Werdens lesen."

Mit welchem Erfolge, mit welcher Stimmung, welchem Verständnis,
welchem Urteil sich lesen werden — das freilich ist eine andre Sache. Denn
auch der „Homunculus" ist symbolisch, er ist es im ganz eigentlichen Sinne,
und seine Symbolik, welche unwirkliche Gestalten vor Augen führt, die nur von
denen werden recht verstanden werden, welche das Original derselben, die ge¬
schichtliche Wirklichkeit der Gegenwart, selbst kennen, deren Gleichnis sie bilden,
ist der großen Menge vollends schwer begreiflich. Wie wenige giebt es, welche
die Wirklichkeit überschauen? Lebt die Menge nicht im Halbdunkel über die
eigne Zeit dahin? Darum ist Hamerlings „modernes Epos" ebenso aktuell ge¬
meint als unvolkstümlich geraten, und mehr noch als ein andres dichterisches
Werk bedarf es jener vom Dichter vielgeschmähten Mitwirkung der Rezensenten:


Esel sind nicht alle — nein!
Hörner freilich haben alle!

um ins rechte Licht gerückt zu werdeu.


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[0035] Hamerlings Homunculus. Romanlitteratur, pessimistisch oder naturalistisch wie sie ist, muß doch wohl auch unter den Begriff der Satire gefaßt werden. Die Unzufriedenheit mit den so¬ zialen Zuständen, die Unbefriedigung an der Skepsis in religiöse» und philo¬ sophischen Fragen steckt uns allen in den Gliedern. Auch der Pessimismus hat schon seine Autorität verloren; man konnte es durch alle Feuilletons am Schopenhauertage hören, daß der Pessimismus nicht mehr die rechte Welt¬ anschauung sei. Aber keiner unter allen, die da geschrieben haben, hat einen positiven Gedanken zum Ersatz ausgesprochen, wenige haben den Mut gehabt, auch nur irgend ein idealistisches Bekenntnis abzulegen. Also auch darum „Werdens alle lesen," was ein Hamerling seiner Zeit zu sagen hat. Sie werden es mit derselben Gier lesen, wie man die täglich erscheinende Zeitung zur Hand nimmt, ja diese Neugier ist geadelt und gesteigert, weil die Zeitung, selbst die allerbeste, doch nicht täglich interessant sein kann, und ein guter Schriftsteller auch nicht alle Tage schreibt, vielmehr gar selten seine Feder eintaucht. Nichts lesen da die Menschen lieber, als was gerade das allerneueste in der Welt be¬ spricht. Hamerlings Muse hat bisher fast ausschließlich historische Stoffe ge¬ wählt, Nero, Jan von Leyden, Danton, Aspasia, Teut, Romantik u. s. w. Sie ist allerdings nicht in den Dienst der Kulturgeschichte getreten, ihr war die Ge¬ schichte nur das Kunstmittel der idealen Form, sie war ganz erfüllt von der Gegenwart, nur Symbole derselben, ein Spiegelbild und sonst nichts waren ihr die geschichtlichen Gestalten. Und nur dieses „aktuellen" Gehaltes wegen hatten die geschichtlichen Dichtungen — soweit sie beliebt wurden — den großen Er¬ folg bei der Menge. Aber der Menge ist es noch lieber, wenn ihr selbst die Anstrengung der Deutung von Symbolen erspart wird und ihr das Spiegel¬ bild ohne Vermittlung gereicht wird. Im „Homunculus" hat Hamerling dies zum ersten male versucht — er hätte es schon längst thun sollen —, und darum konnte er mit Berechtigung erwarten: „Alle Werdens lesen." Mit welchem Erfolge, mit welcher Stimmung, welchem Verständnis, welchem Urteil sich lesen werden — das freilich ist eine andre Sache. Denn auch der „Homunculus" ist symbolisch, er ist es im ganz eigentlichen Sinne, und seine Symbolik, welche unwirkliche Gestalten vor Augen führt, die nur von denen werden recht verstanden werden, welche das Original derselben, die ge¬ schichtliche Wirklichkeit der Gegenwart, selbst kennen, deren Gleichnis sie bilden, ist der großen Menge vollends schwer begreiflich. Wie wenige giebt es, welche die Wirklichkeit überschauen? Lebt die Menge nicht im Halbdunkel über die eigne Zeit dahin? Darum ist Hamerlings „modernes Epos" ebenso aktuell ge¬ meint als unvolkstümlich geraten, und mehr noch als ein andres dichterisches Werk bedarf es jener vom Dichter vielgeschmähten Mitwirkung der Rezensenten: Esel sind nicht alle — nein! Hörner freilich haben alle! um ins rechte Licht gerückt zu werdeu.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/35>, abgerufen am 01.09.2024.