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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Unpopularität der Jurisprudenz.

Auf jener niedern Kulturstufe, in welcher die Geschichte lediglich aus einigen
Mythen bestand, welche weder Handel noch Gewerbe, weder Kunst noch Wissen¬
schaft kannte, da bedürfte es der besondern Fachbildung nicht. Aus diesem
Paradiese wird aber jedes Volk vertrieben, sobald es vom Baume der Er¬
kenntnis gegessen hat, und nur durch freudige Erfüllung der unvermeidlichen
Berufspflicht kann es jenen innern Frieden wiedergewinnen, auf den es sehn¬
suchtsvoll zurückblickt.

Hiernach will es beinahe scheinen, als müsse man ein Gegner der Mit¬
wirkung wissenschaftlich nichtgebildeter Richter an unsrer Urteilssprechung, also
der Handelsrichter, Schöffen und Geschworenen sein. Es ist dies jedoch nicht
der Fall. Diese Einrichtungen sind vielmehr ein unvermeidliches Zugeständnis
an eine unüberwindliche Volksströmung, durch welches diese letztere in erträg¬
liche Bahnen eingedämmt worden ist. Diese Strömung entsprang aus einem
handgreiflichen Irrtum. Man glaubte, daß das Rechtsbewußtsein angeboren
sei, während es in Wahrheit anerzogen ist; man hielt es nicht für das Er¬
gebnis geschichtlicher Erfahrung, sondern für ein Naturgeschenk. Nach dieser
Lehre war allerdings jeder, selbst der unwissendste Mensch, von Gottes Gnaden
auch ein unfehlbarer Jurist und alles Studiren eigentlich überflüssig. Diesen
Irrtum ließ man bald fallen, aber ein andrer nicht minder verhängnisvoller
schlich sich ein. Man glaubte, Gesetze hinstellen zu können, die so deutlich
wären, daß jeder Mensch mit Volksschulbildung sie verstehen müßte. Damit
wollte man die Juristen überflüssig machen. In diesem Sinne bedauert z. B.
Friedrich Wilhelm der Erste die armen Juristen, "die armen Teufel," welche
bald "so innen" sein würden wie das fünfte Rad am Wagen. Daß eine solche
Gesetzesherrschaft vorübergehend möglich ist, ist nicht zu bestreiten. Natürlich
muß die Volksbildung dann bereits so groß sein, daß jeder mindestens lesen
und schreiben kann. Allein auch dies ist, wenn auch nicht für die niedrigste,
so doch nur für eine niedrige Kulturstufe möglich. Es paßt dies System nur
für eine Zeit, in der zwar die Landwirtschaft schon entwickelt ist, Handel und
Gewerbe aber noch in den Kinderschuhen stecken. Wie unter solchen Verhält¬
nissen gar mancher sein eigner Schuster, Schmied, Arzt und Apotheker ist, so
kann er auch sein eigner Jurist sein. Da sind die Verhältnisse immer noch
einfach genug, um sie allenfalls gemeinverständlich zu machen. Sobald aber
der Reichtum wächst und mit ihm die Mannichfaltigkeit der Geschäftsverbin¬
dungen und der Lebensbeziehungen, verwickeln sich die Rechtshändel zu gordischen
Knoten, die ein Laie nur zu durchhauen, nicht aber zu lösen vermag. Hier
verschlingen sich fast in jedem Prozeß die verschiedensten Rechtssätze, deren
Zusammenfallen auf den Kopf eines Laien so einwirkt, wie auf den Bauern,
der nur seine vier Spezies kennt, ein Exempel der Differentialrechnung. Die
Denkkunst ist eine Kunst, die auf jedem Gebiete schrittweise geübt sein will.
Mit Recht nennt Justinian die Juristen "geistige Athleten." Wie die Athleten


Die Unpopularität der Jurisprudenz.

Auf jener niedern Kulturstufe, in welcher die Geschichte lediglich aus einigen
Mythen bestand, welche weder Handel noch Gewerbe, weder Kunst noch Wissen¬
schaft kannte, da bedürfte es der besondern Fachbildung nicht. Aus diesem
Paradiese wird aber jedes Volk vertrieben, sobald es vom Baume der Er¬
kenntnis gegessen hat, und nur durch freudige Erfüllung der unvermeidlichen
Berufspflicht kann es jenen innern Frieden wiedergewinnen, auf den es sehn¬
suchtsvoll zurückblickt.

Hiernach will es beinahe scheinen, als müsse man ein Gegner der Mit¬
wirkung wissenschaftlich nichtgebildeter Richter an unsrer Urteilssprechung, also
der Handelsrichter, Schöffen und Geschworenen sein. Es ist dies jedoch nicht
der Fall. Diese Einrichtungen sind vielmehr ein unvermeidliches Zugeständnis
an eine unüberwindliche Volksströmung, durch welches diese letztere in erträg¬
liche Bahnen eingedämmt worden ist. Diese Strömung entsprang aus einem
handgreiflichen Irrtum. Man glaubte, daß das Rechtsbewußtsein angeboren
sei, während es in Wahrheit anerzogen ist; man hielt es nicht für das Er¬
gebnis geschichtlicher Erfahrung, sondern für ein Naturgeschenk. Nach dieser
Lehre war allerdings jeder, selbst der unwissendste Mensch, von Gottes Gnaden
auch ein unfehlbarer Jurist und alles Studiren eigentlich überflüssig. Diesen
Irrtum ließ man bald fallen, aber ein andrer nicht minder verhängnisvoller
schlich sich ein. Man glaubte, Gesetze hinstellen zu können, die so deutlich
wären, daß jeder Mensch mit Volksschulbildung sie verstehen müßte. Damit
wollte man die Juristen überflüssig machen. In diesem Sinne bedauert z. B.
Friedrich Wilhelm der Erste die armen Juristen, „die armen Teufel," welche
bald „so innen" sein würden wie das fünfte Rad am Wagen. Daß eine solche
Gesetzesherrschaft vorübergehend möglich ist, ist nicht zu bestreiten. Natürlich
muß die Volksbildung dann bereits so groß sein, daß jeder mindestens lesen
und schreiben kann. Allein auch dies ist, wenn auch nicht für die niedrigste,
so doch nur für eine niedrige Kulturstufe möglich. Es paßt dies System nur
für eine Zeit, in der zwar die Landwirtschaft schon entwickelt ist, Handel und
Gewerbe aber noch in den Kinderschuhen stecken. Wie unter solchen Verhält¬
nissen gar mancher sein eigner Schuster, Schmied, Arzt und Apotheker ist, so
kann er auch sein eigner Jurist sein. Da sind die Verhältnisse immer noch
einfach genug, um sie allenfalls gemeinverständlich zu machen. Sobald aber
der Reichtum wächst und mit ihm die Mannichfaltigkeit der Geschäftsverbin¬
dungen und der Lebensbeziehungen, verwickeln sich die Rechtshändel zu gordischen
Knoten, die ein Laie nur zu durchhauen, nicht aber zu lösen vermag. Hier
verschlingen sich fast in jedem Prozeß die verschiedensten Rechtssätze, deren
Zusammenfallen auf den Kopf eines Laien so einwirkt, wie auf den Bauern,
der nur seine vier Spezies kennt, ein Exempel der Differentialrechnung. Die
Denkkunst ist eine Kunst, die auf jedem Gebiete schrittweise geübt sein will.
Mit Recht nennt Justinian die Juristen „geistige Athleten." Wie die Athleten


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[0326] Die Unpopularität der Jurisprudenz. Auf jener niedern Kulturstufe, in welcher die Geschichte lediglich aus einigen Mythen bestand, welche weder Handel noch Gewerbe, weder Kunst noch Wissen¬ schaft kannte, da bedürfte es der besondern Fachbildung nicht. Aus diesem Paradiese wird aber jedes Volk vertrieben, sobald es vom Baume der Er¬ kenntnis gegessen hat, und nur durch freudige Erfüllung der unvermeidlichen Berufspflicht kann es jenen innern Frieden wiedergewinnen, auf den es sehn¬ suchtsvoll zurückblickt. Hiernach will es beinahe scheinen, als müsse man ein Gegner der Mit¬ wirkung wissenschaftlich nichtgebildeter Richter an unsrer Urteilssprechung, also der Handelsrichter, Schöffen und Geschworenen sein. Es ist dies jedoch nicht der Fall. Diese Einrichtungen sind vielmehr ein unvermeidliches Zugeständnis an eine unüberwindliche Volksströmung, durch welches diese letztere in erträg¬ liche Bahnen eingedämmt worden ist. Diese Strömung entsprang aus einem handgreiflichen Irrtum. Man glaubte, daß das Rechtsbewußtsein angeboren sei, während es in Wahrheit anerzogen ist; man hielt es nicht für das Er¬ gebnis geschichtlicher Erfahrung, sondern für ein Naturgeschenk. Nach dieser Lehre war allerdings jeder, selbst der unwissendste Mensch, von Gottes Gnaden auch ein unfehlbarer Jurist und alles Studiren eigentlich überflüssig. Diesen Irrtum ließ man bald fallen, aber ein andrer nicht minder verhängnisvoller schlich sich ein. Man glaubte, Gesetze hinstellen zu können, die so deutlich wären, daß jeder Mensch mit Volksschulbildung sie verstehen müßte. Damit wollte man die Juristen überflüssig machen. In diesem Sinne bedauert z. B. Friedrich Wilhelm der Erste die armen Juristen, „die armen Teufel," welche bald „so innen" sein würden wie das fünfte Rad am Wagen. Daß eine solche Gesetzesherrschaft vorübergehend möglich ist, ist nicht zu bestreiten. Natürlich muß die Volksbildung dann bereits so groß sein, daß jeder mindestens lesen und schreiben kann. Allein auch dies ist, wenn auch nicht für die niedrigste, so doch nur für eine niedrige Kulturstufe möglich. Es paßt dies System nur für eine Zeit, in der zwar die Landwirtschaft schon entwickelt ist, Handel und Gewerbe aber noch in den Kinderschuhen stecken. Wie unter solchen Verhält¬ nissen gar mancher sein eigner Schuster, Schmied, Arzt und Apotheker ist, so kann er auch sein eigner Jurist sein. Da sind die Verhältnisse immer noch einfach genug, um sie allenfalls gemeinverständlich zu machen. Sobald aber der Reichtum wächst und mit ihm die Mannichfaltigkeit der Geschäftsverbin¬ dungen und der Lebensbeziehungen, verwickeln sich die Rechtshändel zu gordischen Knoten, die ein Laie nur zu durchhauen, nicht aber zu lösen vermag. Hier verschlingen sich fast in jedem Prozeß die verschiedensten Rechtssätze, deren Zusammenfallen auf den Kopf eines Laien so einwirkt, wie auf den Bauern, der nur seine vier Spezies kennt, ein Exempel der Differentialrechnung. Die Denkkunst ist eine Kunst, die auf jedem Gebiete schrittweise geübt sein will. Mit Recht nennt Justinian die Juristen „geistige Athleten." Wie die Athleten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/326>, abgerufen am 01.09.2024.