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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Unpopulcirität der Jurisprudenz.

das ist die Erfahrung früherer Jahrhunderte, die Praxis früherer Zeiten.
Diese sammelt die Wissenschaft, indem sie das Wertvollste beibehält und so
einen Schatz von Beispielen giebt, der alle Rechtshändel vollständig umfaßt.
Wie nicht alle Krankheiten in der ärztlichen Praxis vorkommen, wohl aber im
ärztlichen Studium, so ist es auch in der Rechtswissenschaft.

Gerade darum halten wir das Rechtsbuch des Kaisers Justinian so hoch,
weil es eine Sammlung von Beispielen, von Musterentscheidungcn enthält.
Wie unsre Baumeister die römischen Bauten studiren, um sie nachzuahmen, so
lesen unsre Richter die römischen Urteile, um ebenso solid zu bauen wie die
alten Klassiker der Rechtspflege. Und solid bauten die Römer, das zeigen die
Überreste ihrer Mauerwerke.

Es handelt sich aber nicht bloß um Beispiele. Ebenso wenig wie einem
Unwissenden der Anblick eines Kranken darüber Auskunft giebt, welches Rezept
verschrieben werden soll, ebenso wenig sagt uns ein Rechtsfall, wie er zu ent¬
scheiden ist. Dies weiß kein Mensch von selbst, das muß er gelernt haben.
Bei einfachen Fällen natürlich kann sich jeder selbst helfen. Man braucht
keinen Arzt, um zu wissen, daß man bei Zahnschmerzen den Luftzug vermeiden
soll, ebenso braucht man keinen Juristen, um zu erfahren, daß man verpflichtet
ist, das Geld zurückzuzahlen, das man sich geborgt hat. In so einfachen Fragen
ist die Rechtswissenschaft ebenso populär wie die Heilkunst. Die Anfangsgründe
dieser Künste lernt der Mensch von seiner Mutter und seiner Wärterin. So¬
bald aber die Sache schwieriger wird, da ist es nicht zu empfehlen, seinem
Mutterwitz zu vertrauen, beim Arzte ebenso wenig wie auf dem Rechtsgebiete,
weil es sich bei ernstlicher Krankheit und bei verwickelten Prozessen um Er¬
fahrungen handelt, die man glücklicherweise in der Regel noch nicht selbst ge¬
macht hat. Hier gilt es, die Beobachtungen andrer zu verwerten, auch die
großen allgemeinen Gesetze zu berücksichtigen, ohne die man nicht von einer
Erfahrung auf die andre schließen kann. Solche allgemeine Gesetze entnimmt
der Arzt der Naturbeobachtung, der Jurist der Betrachtung des menschlichen
Zusammenlebens. Wie sich aber der Naturforscher, der des Arztes Gehilfe ist,
nicht mit Einzelheiten begnügt, sondern die Dinge im großen und ganzen an¬
sieht, gerade so muß der Geschichtsforscher, ohne dessen Hilfe der Jurist die
einzelnen Gesetze in ihrem Zusammenhange nicht verstehen kann, die Rechts¬
geschichte im großen und ganzen auffassen. Ein Jurist ohne Geschichtskennt¬
nisse gleicht einem Arzte ohne naturwissenschaftliche Bildung, beide kennen nur
Einzelheiten, beide haben vielleicht genug Mutterwitz, um hie und da einen
glücklichern Griff zu thun als überstudirte Kollegen; wo sie aber in ihrem Be¬
rufsstande die Mehrheit bilden, da ist nicht gut leben.

So wird und muß die Rechtswissenschaft, wie die Heilkunde, den Sachver¬
ständigen gehören, welche die für ihren Beruf erforderliche Übung nach guten
Mustern und allgemeiner historisch-politischer Bildung sich angeeignet haben


Die Unpopulcirität der Jurisprudenz.

das ist die Erfahrung früherer Jahrhunderte, die Praxis früherer Zeiten.
Diese sammelt die Wissenschaft, indem sie das Wertvollste beibehält und so
einen Schatz von Beispielen giebt, der alle Rechtshändel vollständig umfaßt.
Wie nicht alle Krankheiten in der ärztlichen Praxis vorkommen, wohl aber im
ärztlichen Studium, so ist es auch in der Rechtswissenschaft.

Gerade darum halten wir das Rechtsbuch des Kaisers Justinian so hoch,
weil es eine Sammlung von Beispielen, von Musterentscheidungcn enthält.
Wie unsre Baumeister die römischen Bauten studiren, um sie nachzuahmen, so
lesen unsre Richter die römischen Urteile, um ebenso solid zu bauen wie die
alten Klassiker der Rechtspflege. Und solid bauten die Römer, das zeigen die
Überreste ihrer Mauerwerke.

Es handelt sich aber nicht bloß um Beispiele. Ebenso wenig wie einem
Unwissenden der Anblick eines Kranken darüber Auskunft giebt, welches Rezept
verschrieben werden soll, ebenso wenig sagt uns ein Rechtsfall, wie er zu ent¬
scheiden ist. Dies weiß kein Mensch von selbst, das muß er gelernt haben.
Bei einfachen Fällen natürlich kann sich jeder selbst helfen. Man braucht
keinen Arzt, um zu wissen, daß man bei Zahnschmerzen den Luftzug vermeiden
soll, ebenso braucht man keinen Juristen, um zu erfahren, daß man verpflichtet
ist, das Geld zurückzuzahlen, das man sich geborgt hat. In so einfachen Fragen
ist die Rechtswissenschaft ebenso populär wie die Heilkunst. Die Anfangsgründe
dieser Künste lernt der Mensch von seiner Mutter und seiner Wärterin. So¬
bald aber die Sache schwieriger wird, da ist es nicht zu empfehlen, seinem
Mutterwitz zu vertrauen, beim Arzte ebenso wenig wie auf dem Rechtsgebiete,
weil es sich bei ernstlicher Krankheit und bei verwickelten Prozessen um Er¬
fahrungen handelt, die man glücklicherweise in der Regel noch nicht selbst ge¬
macht hat. Hier gilt es, die Beobachtungen andrer zu verwerten, auch die
großen allgemeinen Gesetze zu berücksichtigen, ohne die man nicht von einer
Erfahrung auf die andre schließen kann. Solche allgemeine Gesetze entnimmt
der Arzt der Naturbeobachtung, der Jurist der Betrachtung des menschlichen
Zusammenlebens. Wie sich aber der Naturforscher, der des Arztes Gehilfe ist,
nicht mit Einzelheiten begnügt, sondern die Dinge im großen und ganzen an¬
sieht, gerade so muß der Geschichtsforscher, ohne dessen Hilfe der Jurist die
einzelnen Gesetze in ihrem Zusammenhange nicht verstehen kann, die Rechts¬
geschichte im großen und ganzen auffassen. Ein Jurist ohne Geschichtskennt¬
nisse gleicht einem Arzte ohne naturwissenschaftliche Bildung, beide kennen nur
Einzelheiten, beide haben vielleicht genug Mutterwitz, um hie und da einen
glücklichern Griff zu thun als überstudirte Kollegen; wo sie aber in ihrem Be¬
rufsstande die Mehrheit bilden, da ist nicht gut leben.

So wird und muß die Rechtswissenschaft, wie die Heilkunde, den Sachver¬
ständigen gehören, welche die für ihren Beruf erforderliche Übung nach guten
Mustern und allgemeiner historisch-politischer Bildung sich angeeignet haben


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[0325] Die Unpopulcirität der Jurisprudenz. das ist die Erfahrung früherer Jahrhunderte, die Praxis früherer Zeiten. Diese sammelt die Wissenschaft, indem sie das Wertvollste beibehält und so einen Schatz von Beispielen giebt, der alle Rechtshändel vollständig umfaßt. Wie nicht alle Krankheiten in der ärztlichen Praxis vorkommen, wohl aber im ärztlichen Studium, so ist es auch in der Rechtswissenschaft. Gerade darum halten wir das Rechtsbuch des Kaisers Justinian so hoch, weil es eine Sammlung von Beispielen, von Musterentscheidungcn enthält. Wie unsre Baumeister die römischen Bauten studiren, um sie nachzuahmen, so lesen unsre Richter die römischen Urteile, um ebenso solid zu bauen wie die alten Klassiker der Rechtspflege. Und solid bauten die Römer, das zeigen die Überreste ihrer Mauerwerke. Es handelt sich aber nicht bloß um Beispiele. Ebenso wenig wie einem Unwissenden der Anblick eines Kranken darüber Auskunft giebt, welches Rezept verschrieben werden soll, ebenso wenig sagt uns ein Rechtsfall, wie er zu ent¬ scheiden ist. Dies weiß kein Mensch von selbst, das muß er gelernt haben. Bei einfachen Fällen natürlich kann sich jeder selbst helfen. Man braucht keinen Arzt, um zu wissen, daß man bei Zahnschmerzen den Luftzug vermeiden soll, ebenso braucht man keinen Juristen, um zu erfahren, daß man verpflichtet ist, das Geld zurückzuzahlen, das man sich geborgt hat. In so einfachen Fragen ist die Rechtswissenschaft ebenso populär wie die Heilkunst. Die Anfangsgründe dieser Künste lernt der Mensch von seiner Mutter und seiner Wärterin. So¬ bald aber die Sache schwieriger wird, da ist es nicht zu empfehlen, seinem Mutterwitz zu vertrauen, beim Arzte ebenso wenig wie auf dem Rechtsgebiete, weil es sich bei ernstlicher Krankheit und bei verwickelten Prozessen um Er¬ fahrungen handelt, die man glücklicherweise in der Regel noch nicht selbst ge¬ macht hat. Hier gilt es, die Beobachtungen andrer zu verwerten, auch die großen allgemeinen Gesetze zu berücksichtigen, ohne die man nicht von einer Erfahrung auf die andre schließen kann. Solche allgemeine Gesetze entnimmt der Arzt der Naturbeobachtung, der Jurist der Betrachtung des menschlichen Zusammenlebens. Wie sich aber der Naturforscher, der des Arztes Gehilfe ist, nicht mit Einzelheiten begnügt, sondern die Dinge im großen und ganzen an¬ sieht, gerade so muß der Geschichtsforscher, ohne dessen Hilfe der Jurist die einzelnen Gesetze in ihrem Zusammenhange nicht verstehen kann, die Rechts¬ geschichte im großen und ganzen auffassen. Ein Jurist ohne Geschichtskennt¬ nisse gleicht einem Arzte ohne naturwissenschaftliche Bildung, beide kennen nur Einzelheiten, beide haben vielleicht genug Mutterwitz, um hie und da einen glücklichern Griff zu thun als überstudirte Kollegen; wo sie aber in ihrem Be¬ rufsstande die Mehrheit bilden, da ist nicht gut leben. So wird und muß die Rechtswissenschaft, wie die Heilkunde, den Sachver¬ ständigen gehören, welche die für ihren Beruf erforderliche Übung nach guten Mustern und allgemeiner historisch-politischer Bildung sich angeeignet haben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/325>, abgerufen am 01.09.2024.