Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Chauvinismus oder Nationalgefühl?

die unzähligen Schichten fremder Sprachen, Sitten und Moden hinweg daS
eigentümlich deutsche Wesen in unvergleichlicher Vollkommenheit und Reinheit
bewahrt hat und allen Veränderungsversuchen des Kernes bei aller äußerlichen
Anerkennung im Innern einen so sichern passiven Widerstand entgegensetzt. Was
für Sprachen hat man nicht schon in Deutschland geschrieben und gesprochen
als feiner, als nobler, ja als anständiger im Verkehr, als die deutsche! Aber
zu Hause und wo es darauf ankam, redete man "sehr deutsch." Friedrich der
Große schrieb französisch und wetterte über die großen Ansätze zur National¬
litteratur. Aber durch seine Thaten machte er sie möglich, und in seiner per¬
sönlichen Ausdrucksweise harmonirte er mit seinen Berliner Pfahlbürgern. Nur
in Deutschland konnte es vorkommen, daß die Gelehrten ein Jahrhundert lang
lateinisch und französisch über die Verachtung und Vernachlässigung der Mutter¬
sprache klagten, sie aber doch schließlich auf eine Höhe brachten, wie keine andre
Nation.

Wir könnten hierbei leider gleich hinzufügen, daß man sich dieser Höhe
schon wieder zu schämen beginnt und sie durch die undeutschen Plattheiten zu
entfernen trachtet, gleich als ob es unerträglich wäre, von diesem heimischen
Gipfel über die andern hinwegsehen zu können. Belege sind hier wahrlich nicht
notwendig. Wir wollen bei dem politischen Hauptthema bleiben. Auf diesem
Gebiete zeigen der Deutsche und der Grieche lauter übereinstimmende Mängel.
Und ihr Kern und Ursprung ist da gerade der Mangel an Patriotismus. Ja
gerade das, was wir jetzt mit diesem Worte bezeichnen, der Stolz auf die
staatliche Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen, jener Stolz, der in dem Bewußt¬
sein des römischen Bürgers zu einem so mächtigen und wirkungsvollen Ausdruck
gelangte, er fehlte zu ihrem Verderben den Griechen, und fehlt uns so sehr,
daß man alle Ansätze dazu gleich als Verfälschung des Nationalcharakters aus¬
schreien kann. Der Römer hatte unendlich viel weniger Nationalitätsbewußtsein
als der Grieche und keine Spur von dem, was der Deutsche recht eigentlich
als sein Nationalgefühl empfindet. Wie er keinem einheitlichen Volkswesen
erwuchs, so war es ihm stets gleich, welchem Namen er durch die Geburt an¬
gehörte und ob er griechisch, lateinisch oder iberisch sprach. Als viol3 Koivkmus
beherrschte er die Welt. Ob Sulla oder Marius, ob Cäsar oder Pompejus,
das galt ihm gleichviel, wenn es hieß gegen die Parther zu Felde zu ziehen.
Jeder Parteistreit läuft da auf den Ehrgeiz hinaus, mehr Siege der römischen
Bürgerschaft verzeichnen zu können. Mag sein, daß wir hier nicht mitfühlen
können und uns die Charaktereigenschaften, die dem zu Grunde liegen, gar
nicht einmal wünschen. Aber ihre Erfolge könnten wir sehr brauchen, gerade
zur Aufrechterhaltung unsrer Charaktereigenschaften. Denn wir besitzen nicht
die hellenische Nationalüberlegenheit, welche sich die Sieger unterwirft. Bei uns
-- und das fühlen wir wohl -- bedeutet ein solch völliger staatlicher Unter¬
gang, wie der der Griechen, zugleich den nationalen. Gleichwohl nimmt man


Chauvinismus oder Nationalgefühl?

die unzähligen Schichten fremder Sprachen, Sitten und Moden hinweg daS
eigentümlich deutsche Wesen in unvergleichlicher Vollkommenheit und Reinheit
bewahrt hat und allen Veränderungsversuchen des Kernes bei aller äußerlichen
Anerkennung im Innern einen so sichern passiven Widerstand entgegensetzt. Was
für Sprachen hat man nicht schon in Deutschland geschrieben und gesprochen
als feiner, als nobler, ja als anständiger im Verkehr, als die deutsche! Aber
zu Hause und wo es darauf ankam, redete man „sehr deutsch." Friedrich der
Große schrieb französisch und wetterte über die großen Ansätze zur National¬
litteratur. Aber durch seine Thaten machte er sie möglich, und in seiner per¬
sönlichen Ausdrucksweise harmonirte er mit seinen Berliner Pfahlbürgern. Nur
in Deutschland konnte es vorkommen, daß die Gelehrten ein Jahrhundert lang
lateinisch und französisch über die Verachtung und Vernachlässigung der Mutter¬
sprache klagten, sie aber doch schließlich auf eine Höhe brachten, wie keine andre
Nation.

Wir könnten hierbei leider gleich hinzufügen, daß man sich dieser Höhe
schon wieder zu schämen beginnt und sie durch die undeutschen Plattheiten zu
entfernen trachtet, gleich als ob es unerträglich wäre, von diesem heimischen
Gipfel über die andern hinwegsehen zu können. Belege sind hier wahrlich nicht
notwendig. Wir wollen bei dem politischen Hauptthema bleiben. Auf diesem
Gebiete zeigen der Deutsche und der Grieche lauter übereinstimmende Mängel.
Und ihr Kern und Ursprung ist da gerade der Mangel an Patriotismus. Ja
gerade das, was wir jetzt mit diesem Worte bezeichnen, der Stolz auf die
staatliche Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen, jener Stolz, der in dem Bewußt¬
sein des römischen Bürgers zu einem so mächtigen und wirkungsvollen Ausdruck
gelangte, er fehlte zu ihrem Verderben den Griechen, und fehlt uns so sehr,
daß man alle Ansätze dazu gleich als Verfälschung des Nationalcharakters aus¬
schreien kann. Der Römer hatte unendlich viel weniger Nationalitätsbewußtsein
als der Grieche und keine Spur von dem, was der Deutsche recht eigentlich
als sein Nationalgefühl empfindet. Wie er keinem einheitlichen Volkswesen
erwuchs, so war es ihm stets gleich, welchem Namen er durch die Geburt an¬
gehörte und ob er griechisch, lateinisch oder iberisch sprach. Als viol3 Koivkmus
beherrschte er die Welt. Ob Sulla oder Marius, ob Cäsar oder Pompejus,
das galt ihm gleichviel, wenn es hieß gegen die Parther zu Felde zu ziehen.
Jeder Parteistreit läuft da auf den Ehrgeiz hinaus, mehr Siege der römischen
Bürgerschaft verzeichnen zu können. Mag sein, daß wir hier nicht mitfühlen
können und uns die Charaktereigenschaften, die dem zu Grunde liegen, gar
nicht einmal wünschen. Aber ihre Erfolge könnten wir sehr brauchen, gerade
zur Aufrechterhaltung unsrer Charaktereigenschaften. Denn wir besitzen nicht
die hellenische Nationalüberlegenheit, welche sich die Sieger unterwirft. Bei uns
— und das fühlen wir wohl — bedeutet ein solch völliger staatlicher Unter¬
gang, wie der der Griechen, zugleich den nationalen. Gleichwohl nimmt man


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0308" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203085"/>
          <fw type="header" place="top"> Chauvinismus oder Nationalgefühl?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1011" prev="#ID_1010"> die unzähligen Schichten fremder Sprachen, Sitten und Moden hinweg daS<lb/>
eigentümlich deutsche Wesen in unvergleichlicher Vollkommenheit und Reinheit<lb/>
bewahrt hat und allen Veränderungsversuchen des Kernes bei aller äußerlichen<lb/>
Anerkennung im Innern einen so sichern passiven Widerstand entgegensetzt. Was<lb/>
für Sprachen hat man nicht schon in Deutschland geschrieben und gesprochen<lb/>
als feiner, als nobler, ja als anständiger im Verkehr, als die deutsche! Aber<lb/>
zu Hause und wo es darauf ankam, redete man &#x201E;sehr deutsch." Friedrich der<lb/>
Große schrieb französisch und wetterte über die großen Ansätze zur National¬<lb/>
litteratur. Aber durch seine Thaten machte er sie möglich, und in seiner per¬<lb/>
sönlichen Ausdrucksweise harmonirte er mit seinen Berliner Pfahlbürgern. Nur<lb/>
in Deutschland konnte es vorkommen, daß die Gelehrten ein Jahrhundert lang<lb/>
lateinisch und französisch über die Verachtung und Vernachlässigung der Mutter¬<lb/>
sprache klagten, sie aber doch schließlich auf eine Höhe brachten, wie keine andre<lb/>
Nation.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1012" next="#ID_1013"> Wir könnten hierbei leider gleich hinzufügen, daß man sich dieser Höhe<lb/>
schon wieder zu schämen beginnt und sie durch die undeutschen Plattheiten zu<lb/>
entfernen trachtet, gleich als ob es unerträglich wäre, von diesem heimischen<lb/>
Gipfel über die andern hinwegsehen zu können. Belege sind hier wahrlich nicht<lb/>
notwendig. Wir wollen bei dem politischen Hauptthema bleiben. Auf diesem<lb/>
Gebiete zeigen der Deutsche und der Grieche lauter übereinstimmende Mängel.<lb/>
Und ihr Kern und Ursprung ist da gerade der Mangel an Patriotismus. Ja<lb/>
gerade das, was wir jetzt mit diesem Worte bezeichnen, der Stolz auf die<lb/>
staatliche Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen, jener Stolz, der in dem Bewußt¬<lb/>
sein des römischen Bürgers zu einem so mächtigen und wirkungsvollen Ausdruck<lb/>
gelangte, er fehlte zu ihrem Verderben den Griechen, und fehlt uns so sehr,<lb/>
daß man alle Ansätze dazu gleich als Verfälschung des Nationalcharakters aus¬<lb/>
schreien kann. Der Römer hatte unendlich viel weniger Nationalitätsbewußtsein<lb/>
als der Grieche und keine Spur von dem, was der Deutsche recht eigentlich<lb/>
als sein Nationalgefühl empfindet. Wie er keinem einheitlichen Volkswesen<lb/>
erwuchs, so war es ihm stets gleich, welchem Namen er durch die Geburt an¬<lb/>
gehörte und ob er griechisch, lateinisch oder iberisch sprach. Als viol3 Koivkmus<lb/>
beherrschte er die Welt. Ob Sulla oder Marius, ob Cäsar oder Pompejus,<lb/>
das galt ihm gleichviel, wenn es hieß gegen die Parther zu Felde zu ziehen.<lb/>
Jeder Parteistreit läuft da auf den Ehrgeiz hinaus, mehr Siege der römischen<lb/>
Bürgerschaft verzeichnen zu können. Mag sein, daß wir hier nicht mitfühlen<lb/>
können und uns die Charaktereigenschaften, die dem zu Grunde liegen, gar<lb/>
nicht einmal wünschen. Aber ihre Erfolge könnten wir sehr brauchen, gerade<lb/>
zur Aufrechterhaltung unsrer Charaktereigenschaften. Denn wir besitzen nicht<lb/>
die hellenische Nationalüberlegenheit, welche sich die Sieger unterwirft. Bei uns<lb/>
&#x2014; und das fühlen wir wohl &#x2014; bedeutet ein solch völliger staatlicher Unter¬<lb/>
gang, wie der der Griechen, zugleich den nationalen. Gleichwohl nimmt man</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0308] Chauvinismus oder Nationalgefühl? die unzähligen Schichten fremder Sprachen, Sitten und Moden hinweg daS eigentümlich deutsche Wesen in unvergleichlicher Vollkommenheit und Reinheit bewahrt hat und allen Veränderungsversuchen des Kernes bei aller äußerlichen Anerkennung im Innern einen so sichern passiven Widerstand entgegensetzt. Was für Sprachen hat man nicht schon in Deutschland geschrieben und gesprochen als feiner, als nobler, ja als anständiger im Verkehr, als die deutsche! Aber zu Hause und wo es darauf ankam, redete man „sehr deutsch." Friedrich der Große schrieb französisch und wetterte über die großen Ansätze zur National¬ litteratur. Aber durch seine Thaten machte er sie möglich, und in seiner per¬ sönlichen Ausdrucksweise harmonirte er mit seinen Berliner Pfahlbürgern. Nur in Deutschland konnte es vorkommen, daß die Gelehrten ein Jahrhundert lang lateinisch und französisch über die Verachtung und Vernachlässigung der Mutter¬ sprache klagten, sie aber doch schließlich auf eine Höhe brachten, wie keine andre Nation. Wir könnten hierbei leider gleich hinzufügen, daß man sich dieser Höhe schon wieder zu schämen beginnt und sie durch die undeutschen Plattheiten zu entfernen trachtet, gleich als ob es unerträglich wäre, von diesem heimischen Gipfel über die andern hinwegsehen zu können. Belege sind hier wahrlich nicht notwendig. Wir wollen bei dem politischen Hauptthema bleiben. Auf diesem Gebiete zeigen der Deutsche und der Grieche lauter übereinstimmende Mängel. Und ihr Kern und Ursprung ist da gerade der Mangel an Patriotismus. Ja gerade das, was wir jetzt mit diesem Worte bezeichnen, der Stolz auf die staatliche Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen, jener Stolz, der in dem Bewußt¬ sein des römischen Bürgers zu einem so mächtigen und wirkungsvollen Ausdruck gelangte, er fehlte zu ihrem Verderben den Griechen, und fehlt uns so sehr, daß man alle Ansätze dazu gleich als Verfälschung des Nationalcharakters aus¬ schreien kann. Der Römer hatte unendlich viel weniger Nationalitätsbewußtsein als der Grieche und keine Spur von dem, was der Deutsche recht eigentlich als sein Nationalgefühl empfindet. Wie er keinem einheitlichen Volkswesen erwuchs, so war es ihm stets gleich, welchem Namen er durch die Geburt an¬ gehörte und ob er griechisch, lateinisch oder iberisch sprach. Als viol3 Koivkmus beherrschte er die Welt. Ob Sulla oder Marius, ob Cäsar oder Pompejus, das galt ihm gleichviel, wenn es hieß gegen die Parther zu Felde zu ziehen. Jeder Parteistreit läuft da auf den Ehrgeiz hinaus, mehr Siege der römischen Bürgerschaft verzeichnen zu können. Mag sein, daß wir hier nicht mitfühlen können und uns die Charaktereigenschaften, die dem zu Grunde liegen, gar nicht einmal wünschen. Aber ihre Erfolge könnten wir sehr brauchen, gerade zur Aufrechterhaltung unsrer Charaktereigenschaften. Denn wir besitzen nicht die hellenische Nationalüberlegenheit, welche sich die Sieger unterwirft. Bei uns — und das fühlen wir wohl — bedeutet ein solch völliger staatlicher Unter¬ gang, wie der der Griechen, zugleich den nationalen. Gleichwohl nimmt man

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/308
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/308>, abgerufen am 01.09.2024.