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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Chauvinismus oder Nationalgefiihl?

"Schützenfest- und Liedertafelstimmung" spricht oder ihm gar einen Orden in
Aussicht stellt. Dann ist der Deutsche zu allem fähig. Er sieht sich bereits
bis über die Ohren mit der politischen Nachtmütze angethan, sieht sich als an¬
gesäuselten Schildbürger und Krähwinklcr und als "verwerflichen Streber,"
und wie die Leute mit Fingern auf ihn weisen. Daß es zu den Zeiten Vetter
Michels ein deutsches Reich nicht gegeben hat, daß jene Klagen über Schützen¬
seststimmung gewöhnlich von Zeitungen erhoben werden, deren Ideal von
Publikum eben das "souveräne Volk" der Schützenfestler und Liedertafler bildet,
daß die Orden nicht so in der Luft herumfliegen und doch wohl noch andre
Eigenschaften voraussetzen als die zur "Schützenfestbegeisterung" -- das über¬
sieht er dabei. Für die heiligste der Pflichten eines neudeutschen Staatsbürgers
hält er in solchem Augenblicke nur, so steifnackig und kratzbürstig als möglich
zu sein.

Ein sehr erfahrener Staats- und Menschenkenner des Altertums rät dem
Menschen, diejenigen Leidenschaften zu Pflegen, welche er in schwachem Maße
besitzt, weil er sehr wohl weiß, daß diesen schwachen andre gegenüber stehen,
welche sich auf ihre Kosten breit machen. Dieser Mann war ein Grieche. Wenn
er aber seinen Landsleuten die Vaterlandsliebe empfiehlt, um ihre politische
Eifersucht zu mäßigen, so könnte er wohl auch ein Deutscher sein. Griechen
und Deutsche ähneln sich zwar als politisches Volk -- glücklicherweise -- nicht
vollständig, aber sie haben viele Berührungspunkte. Was der Grieche hier vor
dem Deutschen voraus hat, ist sein starkes nationales Selbstbewußtsein, was
ihn alles Nichtgriechische als barbarisch verachten ließ. Das trieb seine Ent¬
wicklung raketenhaft rasch in die Höhe, ließ sie aber auch ebenso rasch ver¬
schwinden. Was der Deutsche vor dem Griechen voraus hat, ist sein wider-
standskrüftiges, feines Nationalgefühl. Das klingt nur paradox und verträgt
sich sehr gut mit dem vielhundertjährigen geographischen Begriff "Deutschland."
Denn dieses feine Gefühl für das Unterscheidende der eignen Volkstümlichkeit,
welches seiner Sprache ihren Namen gab, ist eben Schuld daran, daß der
Deutsche es -- wir wollen nicht sagen: so selten, wir hoffen sagen zu können:
so spät -- zur nationalen Selbständigkeit gebracht hat. Was man ganz und tief¬
innerlich sein eigen nennt, pflegt man selten sehr zu achten, ja gewöhnlich pflegt
man sich dessen zu schämen. Und diese Scham vor dem eignen Wesen, auf die wir
immer wieder geführt werden, ist sie nicht die eigentliche Ursache des politischen
und gesellschaftlichen "Modeteufels," der den Deutschen stets zu schaffen macht,
ist sie nicht schuld an dem unseligen Hange nach willkürlichen Bildungen und
widernatürlichen Verbindungen, an dieser Sucht nach fremder Anlehnung und
fremdem Titel, die, vorbildlich für alles, dem deutschen Reiche den Schatten
eines heiligen römischen Reiches vorzog? Und doch ist dies dasselbe Gefühl,
das in dem Augenblicke wirklicher Gefahr, wie in den Zeiten der Reformation
und der Freiheitskriege, eine erstaunliche Ausdehnungskraft gewann, das über


Chauvinismus oder Nationalgefiihl?

„Schützenfest- und Liedertafelstimmung" spricht oder ihm gar einen Orden in
Aussicht stellt. Dann ist der Deutsche zu allem fähig. Er sieht sich bereits
bis über die Ohren mit der politischen Nachtmütze angethan, sieht sich als an¬
gesäuselten Schildbürger und Krähwinklcr und als „verwerflichen Streber,"
und wie die Leute mit Fingern auf ihn weisen. Daß es zu den Zeiten Vetter
Michels ein deutsches Reich nicht gegeben hat, daß jene Klagen über Schützen¬
seststimmung gewöhnlich von Zeitungen erhoben werden, deren Ideal von
Publikum eben das „souveräne Volk" der Schützenfestler und Liedertafler bildet,
daß die Orden nicht so in der Luft herumfliegen und doch wohl noch andre
Eigenschaften voraussetzen als die zur „Schützenfestbegeisterung" — das über¬
sieht er dabei. Für die heiligste der Pflichten eines neudeutschen Staatsbürgers
hält er in solchem Augenblicke nur, so steifnackig und kratzbürstig als möglich
zu sein.

Ein sehr erfahrener Staats- und Menschenkenner des Altertums rät dem
Menschen, diejenigen Leidenschaften zu Pflegen, welche er in schwachem Maße
besitzt, weil er sehr wohl weiß, daß diesen schwachen andre gegenüber stehen,
welche sich auf ihre Kosten breit machen. Dieser Mann war ein Grieche. Wenn
er aber seinen Landsleuten die Vaterlandsliebe empfiehlt, um ihre politische
Eifersucht zu mäßigen, so könnte er wohl auch ein Deutscher sein. Griechen
und Deutsche ähneln sich zwar als politisches Volk — glücklicherweise — nicht
vollständig, aber sie haben viele Berührungspunkte. Was der Grieche hier vor
dem Deutschen voraus hat, ist sein starkes nationales Selbstbewußtsein, was
ihn alles Nichtgriechische als barbarisch verachten ließ. Das trieb seine Ent¬
wicklung raketenhaft rasch in die Höhe, ließ sie aber auch ebenso rasch ver¬
schwinden. Was der Deutsche vor dem Griechen voraus hat, ist sein wider-
standskrüftiges, feines Nationalgefühl. Das klingt nur paradox und verträgt
sich sehr gut mit dem vielhundertjährigen geographischen Begriff „Deutschland."
Denn dieses feine Gefühl für das Unterscheidende der eignen Volkstümlichkeit,
welches seiner Sprache ihren Namen gab, ist eben Schuld daran, daß der
Deutsche es — wir wollen nicht sagen: so selten, wir hoffen sagen zu können:
so spät — zur nationalen Selbständigkeit gebracht hat. Was man ganz und tief¬
innerlich sein eigen nennt, pflegt man selten sehr zu achten, ja gewöhnlich pflegt
man sich dessen zu schämen. Und diese Scham vor dem eignen Wesen, auf die wir
immer wieder geführt werden, ist sie nicht die eigentliche Ursache des politischen
und gesellschaftlichen „Modeteufels," der den Deutschen stets zu schaffen macht,
ist sie nicht schuld an dem unseligen Hange nach willkürlichen Bildungen und
widernatürlichen Verbindungen, an dieser Sucht nach fremder Anlehnung und
fremdem Titel, die, vorbildlich für alles, dem deutschen Reiche den Schatten
eines heiligen römischen Reiches vorzog? Und doch ist dies dasselbe Gefühl,
das in dem Augenblicke wirklicher Gefahr, wie in den Zeiten der Reformation
und der Freiheitskriege, eine erstaunliche Ausdehnungskraft gewann, das über


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[0307] Chauvinismus oder Nationalgefiihl? „Schützenfest- und Liedertafelstimmung" spricht oder ihm gar einen Orden in Aussicht stellt. Dann ist der Deutsche zu allem fähig. Er sieht sich bereits bis über die Ohren mit der politischen Nachtmütze angethan, sieht sich als an¬ gesäuselten Schildbürger und Krähwinklcr und als „verwerflichen Streber," und wie die Leute mit Fingern auf ihn weisen. Daß es zu den Zeiten Vetter Michels ein deutsches Reich nicht gegeben hat, daß jene Klagen über Schützen¬ seststimmung gewöhnlich von Zeitungen erhoben werden, deren Ideal von Publikum eben das „souveräne Volk" der Schützenfestler und Liedertafler bildet, daß die Orden nicht so in der Luft herumfliegen und doch wohl noch andre Eigenschaften voraussetzen als die zur „Schützenfestbegeisterung" — das über¬ sieht er dabei. Für die heiligste der Pflichten eines neudeutschen Staatsbürgers hält er in solchem Augenblicke nur, so steifnackig und kratzbürstig als möglich zu sein. Ein sehr erfahrener Staats- und Menschenkenner des Altertums rät dem Menschen, diejenigen Leidenschaften zu Pflegen, welche er in schwachem Maße besitzt, weil er sehr wohl weiß, daß diesen schwachen andre gegenüber stehen, welche sich auf ihre Kosten breit machen. Dieser Mann war ein Grieche. Wenn er aber seinen Landsleuten die Vaterlandsliebe empfiehlt, um ihre politische Eifersucht zu mäßigen, so könnte er wohl auch ein Deutscher sein. Griechen und Deutsche ähneln sich zwar als politisches Volk — glücklicherweise — nicht vollständig, aber sie haben viele Berührungspunkte. Was der Grieche hier vor dem Deutschen voraus hat, ist sein starkes nationales Selbstbewußtsein, was ihn alles Nichtgriechische als barbarisch verachten ließ. Das trieb seine Ent¬ wicklung raketenhaft rasch in die Höhe, ließ sie aber auch ebenso rasch ver¬ schwinden. Was der Deutsche vor dem Griechen voraus hat, ist sein wider- standskrüftiges, feines Nationalgefühl. Das klingt nur paradox und verträgt sich sehr gut mit dem vielhundertjährigen geographischen Begriff „Deutschland." Denn dieses feine Gefühl für das Unterscheidende der eignen Volkstümlichkeit, welches seiner Sprache ihren Namen gab, ist eben Schuld daran, daß der Deutsche es — wir wollen nicht sagen: so selten, wir hoffen sagen zu können: so spät — zur nationalen Selbständigkeit gebracht hat. Was man ganz und tief¬ innerlich sein eigen nennt, pflegt man selten sehr zu achten, ja gewöhnlich pflegt man sich dessen zu schämen. Und diese Scham vor dem eignen Wesen, auf die wir immer wieder geführt werden, ist sie nicht die eigentliche Ursache des politischen und gesellschaftlichen „Modeteufels," der den Deutschen stets zu schaffen macht, ist sie nicht schuld an dem unseligen Hange nach willkürlichen Bildungen und widernatürlichen Verbindungen, an dieser Sucht nach fremder Anlehnung und fremdem Titel, die, vorbildlich für alles, dem deutschen Reiche den Schatten eines heiligen römischen Reiches vorzog? Und doch ist dies dasselbe Gefühl, das in dem Augenblicke wirklicher Gefahr, wie in den Zeiten der Reformation und der Freiheitskriege, eine erstaunliche Ausdehnungskraft gewann, das über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/307>, abgerufen am 06.10.2024.