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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Entwicklung des Naturgefiihls.

alle Nnturschilderungen, aber während sie dort geradezu dürftig genannt werden
müssen, so tragen alle Beiworte bei Homer, die sich auf Naturerscheinungen
beziehen, das Gepräge der feinsinnigsten, geradezu liebevollen Beobachtung, von
der roscnsingrigcn Morgenröte bis zur purpurnen Woge des Meeres und deu
weinfarbigen schleppfttßigen Rindern. Hat doch der große Physiologe Ernst
von Bär geglaubt, aus der genauen Beschreibung der Bucht der Lästrygonen
bei Homer nachweisen zu können, daß damit der Hafen von Valaklava in
der Krim gemeint sein müsse, und daß die Schilderung des Landes der Cy¬
klopen mit den an vielen Orten aufsteigenden Rauchsäulen nicht auf Sizilien,
sondern vielmehr auf die wunderbar vulkanische Gegend zwischen dem Asowschen
und Kaspischen Meere zu beziehen sei.

Auch die Griechen haben späterhin, etwa von Euripides' Zeit an. die
Periode des naiven Naturgefühls überschritten und eine sentimentale Dichtung
ausgebildet, die sich wieder unsrer sentimentalen Periode des Rokoko- und
Zopfzeitalters vergleichen läßt. Im Hellenismus, der in Alexandrien und unter
der Herrschaft der Römer die höchste Stufe der Entwicklung erreichte, finden
wir eine übermäßig sentimentale Richtung und eine gekünstelte überzierliche
Manier der Dichtung, die entschieden als eine krankhafte Entartung betrachtet
werden muß. Hätten unsre sentimentalen Naturdichter des vorigen Jahrhunderts
das Altertum in so eindringender Weise gekannt, wie es unsern Kenntnissen zu
Gebote steht, sie würden sich wahrscheinlich gehütet haben, in dieselben Fehler zu
verfallen wie jene Spütgriechen.

Den Römern erlaubte ihre ursprünglich nüchterne und verstandesgemäße
Sinnesweise nicht, so farbenprächtige Dichtungen hervorzubringen wie die
Homerischen Gesänge; ihre Naturpoesie galt vorzugsweise dem Nützlichen des
Ackerbaues und verband sich später mit den gekünstelter Formen des Helle¬
nismus. Desto gründlicher wußten sie ihr Naturgefühl durch die herrlichsten
Villenbauten und Gartciicmlagen sowie erstaunliche Werke der Wasserbankunst
zu befriedigen, aus deren Resten wir nur noch ahnend die frühere Herrlichkeit
erschließen können.

Durch alle Zeit geht der Kreislauf vom naiven zum sentimentalen Natur¬
gefühl, von der gesunden, kräftigen Empfindung und Anschauung zur gekünstelter,
krankhaft übertreibender Poesie, und wieder von dort mit höherem Bewußt¬
sein zurück zum gesunden und naiven Ursprünglichen, wenn einem Volke
seine Schicksale gestatten, sich wie das deutsche Volk aus Zuständen des Verfalles
und der Schwäche zu neuer Kraft empor zu schwingen. Die sentimentale Natur-
Poesie findet sich auch im Mittelalter bei den Minnesängern, die maßlose Über-
schwänglichkeit der Empfindung anch bei den Entdeckern der tropischen Länder
und der neuen Welt. Das Christentum hatte oft den Einfluß, daß die Natur
nur wie im alten Judentum als Beweis von der Macht des Schöpfers auf¬
gefaßt, oft auch, wie in manchen Produkten der Klosterpoesie, in naiver Weise


Die Entwicklung des Naturgefiihls.

alle Nnturschilderungen, aber während sie dort geradezu dürftig genannt werden
müssen, so tragen alle Beiworte bei Homer, die sich auf Naturerscheinungen
beziehen, das Gepräge der feinsinnigsten, geradezu liebevollen Beobachtung, von
der roscnsingrigcn Morgenröte bis zur purpurnen Woge des Meeres und deu
weinfarbigen schleppfttßigen Rindern. Hat doch der große Physiologe Ernst
von Bär geglaubt, aus der genauen Beschreibung der Bucht der Lästrygonen
bei Homer nachweisen zu können, daß damit der Hafen von Valaklava in
der Krim gemeint sein müsse, und daß die Schilderung des Landes der Cy¬
klopen mit den an vielen Orten aufsteigenden Rauchsäulen nicht auf Sizilien,
sondern vielmehr auf die wunderbar vulkanische Gegend zwischen dem Asowschen
und Kaspischen Meere zu beziehen sei.

Auch die Griechen haben späterhin, etwa von Euripides' Zeit an. die
Periode des naiven Naturgefühls überschritten und eine sentimentale Dichtung
ausgebildet, die sich wieder unsrer sentimentalen Periode des Rokoko- und
Zopfzeitalters vergleichen läßt. Im Hellenismus, der in Alexandrien und unter
der Herrschaft der Römer die höchste Stufe der Entwicklung erreichte, finden
wir eine übermäßig sentimentale Richtung und eine gekünstelte überzierliche
Manier der Dichtung, die entschieden als eine krankhafte Entartung betrachtet
werden muß. Hätten unsre sentimentalen Naturdichter des vorigen Jahrhunderts
das Altertum in so eindringender Weise gekannt, wie es unsern Kenntnissen zu
Gebote steht, sie würden sich wahrscheinlich gehütet haben, in dieselben Fehler zu
verfallen wie jene Spütgriechen.

Den Römern erlaubte ihre ursprünglich nüchterne und verstandesgemäße
Sinnesweise nicht, so farbenprächtige Dichtungen hervorzubringen wie die
Homerischen Gesänge; ihre Naturpoesie galt vorzugsweise dem Nützlichen des
Ackerbaues und verband sich später mit den gekünstelter Formen des Helle¬
nismus. Desto gründlicher wußten sie ihr Naturgefühl durch die herrlichsten
Villenbauten und Gartciicmlagen sowie erstaunliche Werke der Wasserbankunst
zu befriedigen, aus deren Resten wir nur noch ahnend die frühere Herrlichkeit
erschließen können.

Durch alle Zeit geht der Kreislauf vom naiven zum sentimentalen Natur¬
gefühl, von der gesunden, kräftigen Empfindung und Anschauung zur gekünstelter,
krankhaft übertreibender Poesie, und wieder von dort mit höherem Bewußt¬
sein zurück zum gesunden und naiven Ursprünglichen, wenn einem Volke
seine Schicksale gestatten, sich wie das deutsche Volk aus Zuständen des Verfalles
und der Schwäche zu neuer Kraft empor zu schwingen. Die sentimentale Natur-
Poesie findet sich auch im Mittelalter bei den Minnesängern, die maßlose Über-
schwänglichkeit der Empfindung anch bei den Entdeckern der tropischen Länder
und der neuen Welt. Das Christentum hatte oft den Einfluß, daß die Natur
nur wie im alten Judentum als Beweis von der Macht des Schöpfers auf¬
gefaßt, oft auch, wie in manchen Produkten der Klosterpoesie, in naiver Weise


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[0269] Die Entwicklung des Naturgefiihls. alle Nnturschilderungen, aber während sie dort geradezu dürftig genannt werden müssen, so tragen alle Beiworte bei Homer, die sich auf Naturerscheinungen beziehen, das Gepräge der feinsinnigsten, geradezu liebevollen Beobachtung, von der roscnsingrigcn Morgenröte bis zur purpurnen Woge des Meeres und deu weinfarbigen schleppfttßigen Rindern. Hat doch der große Physiologe Ernst von Bär geglaubt, aus der genauen Beschreibung der Bucht der Lästrygonen bei Homer nachweisen zu können, daß damit der Hafen von Valaklava in der Krim gemeint sein müsse, und daß die Schilderung des Landes der Cy¬ klopen mit den an vielen Orten aufsteigenden Rauchsäulen nicht auf Sizilien, sondern vielmehr auf die wunderbar vulkanische Gegend zwischen dem Asowschen und Kaspischen Meere zu beziehen sei. Auch die Griechen haben späterhin, etwa von Euripides' Zeit an. die Periode des naiven Naturgefühls überschritten und eine sentimentale Dichtung ausgebildet, die sich wieder unsrer sentimentalen Periode des Rokoko- und Zopfzeitalters vergleichen läßt. Im Hellenismus, der in Alexandrien und unter der Herrschaft der Römer die höchste Stufe der Entwicklung erreichte, finden wir eine übermäßig sentimentale Richtung und eine gekünstelte überzierliche Manier der Dichtung, die entschieden als eine krankhafte Entartung betrachtet werden muß. Hätten unsre sentimentalen Naturdichter des vorigen Jahrhunderts das Altertum in so eindringender Weise gekannt, wie es unsern Kenntnissen zu Gebote steht, sie würden sich wahrscheinlich gehütet haben, in dieselben Fehler zu verfallen wie jene Spütgriechen. Den Römern erlaubte ihre ursprünglich nüchterne und verstandesgemäße Sinnesweise nicht, so farbenprächtige Dichtungen hervorzubringen wie die Homerischen Gesänge; ihre Naturpoesie galt vorzugsweise dem Nützlichen des Ackerbaues und verband sich später mit den gekünstelter Formen des Helle¬ nismus. Desto gründlicher wußten sie ihr Naturgefühl durch die herrlichsten Villenbauten und Gartciicmlagen sowie erstaunliche Werke der Wasserbankunst zu befriedigen, aus deren Resten wir nur noch ahnend die frühere Herrlichkeit erschließen können. Durch alle Zeit geht der Kreislauf vom naiven zum sentimentalen Natur¬ gefühl, von der gesunden, kräftigen Empfindung und Anschauung zur gekünstelter, krankhaft übertreibender Poesie, und wieder von dort mit höherem Bewußt¬ sein zurück zum gesunden und naiven Ursprünglichen, wenn einem Volke seine Schicksale gestatten, sich wie das deutsche Volk aus Zuständen des Verfalles und der Schwäche zu neuer Kraft empor zu schwingen. Die sentimentale Natur- Poesie findet sich auch im Mittelalter bei den Minnesängern, die maßlose Über- schwänglichkeit der Empfindung anch bei den Entdeckern der tropischen Länder und der neuen Welt. Das Christentum hatte oft den Einfluß, daß die Natur nur wie im alten Judentum als Beweis von der Macht des Schöpfers auf¬ gefaßt, oft auch, wie in manchen Produkten der Klosterpoesie, in naiver Weise

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/269>, abgerufen am 28.07.2024.